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K im Hyuk sitzt auf einer Stein- bank in Insadong, einst die ge- schäftigste Marktstraße von Seoul, heute Flaniermeile für die frisch Verliebten und Rucksacktouristen. Zwischen zeitgenössi- schen Galerien, Souvenirläden und Kaf- feehäusern erzählt ein unbeschwert wir- kender junger Mann von seinem frühe- ren Leben. Einem Leben, das keine 14 Jahre zurückliegt, nur 500 Kilometer Luftlinie entfernt, doch gedanklich wei- ter nicht weg sein könnte: Kim Hyuk lebte, nein, er überlebte jahrelang als Stra- ßenkind in Nordkorea. Was das schlimmste an seiner Jugend war? Kim Hyuk, 31 Jahre alt, blaues Polo- hemd, runder Topfschnitt, Smartphone, muss nicht lange überlegen: Der Hunger sei schrecklich gewesen, sagt er, doch ohne Essen könne man zumindest drei Tage lang überleben. Aber die Kälte im Winter, wenn das Thermometer auf un- ter Minus 20 Grad sank, vor der habe er sich am meisten gefürchtet. Denn Erfrie- ren, das gehe schneller, als man denkt. Jede Woche seien die Sicherheitskräfte zum Bahnhof angerückt, mit sperrigen Karren, und hätten die Leichen der Ob- dachlosen aufgesammelt. Zu Dutzenden wurden sie in anonymen Massengräbern am Stadtrand ver- schüttet. „Mein Vater soll auch so gestor- ben sein“, sagt Kim, als beschreibe er ein gewöhnliches Kind- heitsschicksal. In den Statistiken tauchen die Kinder nicht auf. Offiziell heißt es, der Führer kümmere sich höchst- persönlich um das Wohl seiner Kinder, die in Nordkorea bes- ser leben würden als anderswo auf der Welt. An den Geburts- tagen der drei Kims – Staatsgründer Il-Sung, Sohn Jong-Il und der jetzige Herrscher Jong-Un – wer- den Süßigkeiten an alle Kinder verteilt. An die Zukunft des Landes. Tatsächlich verloren in den 90er Jah- ren Tausende ihre Eltern. Die Misswirt- schaft des Regimes, das Ausbleiben der sowjetischen Hilfslieferungen und eine Serie an Überschwemmungen kulminier- ten zur großen Hungersnot, während der, laut Schätzung der Vereinten Natio- nen, zwischen 450 000 und zwei Millio- nen Nordkoreaner verhungerten. Zur glei- chen Zeit verbaute das Regime umgerech- net 590 Millionen Euro für Denkmäler und das Mausoleum des 1994 verstorbe- nen Kim Il-Sung. Bis zum Jahr 2012 sol- len die Ausgaben für importierte Luxus- güter für die Parteielite auf 470 Millionen Euro angestiegen sein. Zum Überleben blieb unzähligen Kin- dern nur die Straße, wo sie auf Märkten und in Bahnhöfen bettelten. „Kkotjebi“ nennt man die Straßenkinder auf korea- nisch, übersetzt heißt das so viel wie „blü- hende Schwalben“ – weil sie ständig in Bewegung bleiben müssen: bis zur nächs- ten Mahlzeit, zum nächsten Schlafplatz. Die Kindheit von Kim Hyuk endete, als er sieben war: Seine Mutter starb, der Va- ter hatte die Familie früh verlassen. Die Folgen des Hungers hatten zuerst die Al- ten und Kinder getroffen. Wer konnte, floh. Der Heimatort der Brüder verwan- delte sich in eine Geisterstadt. Während der Regenzeit legten Erdrutsche die Ske- lette verwester Kinder frei, herrenlose Hunde streunten mit Knochen im Maul durch die verlassenen Straßen. Plünderer hatten Fenster und Türen in den Häusern herausgerissen, um sie gegen Nahrung einzutauschen. Als Kim Hyuk mit seinem Bruder ins Waisenheim kam, bestand ihre einzige Mahlzeit am Tag aus Körnern und Wur- zeln. Von den 75 Kindern verhungerten 24. Die Brüder ergriffen die Flucht. Der einzige Ort, wo sie noch hinkonnten, war die Straße. Nachts versteckten sich die Jungen im Bahnhofsgebäude, wo sie sich in die Zwischenräume von Heizkörper und Wand zwängten. Der Spalt bot nicht nur Wärme, sondern auch Schutz vor der gefürchteten Polizei. Tagsüber bettelten sie und begannen wie die meisten Kkotjebis zu stehlen. Zu dritt oder viert taten sie sich zusammen, er- zählt Kim Hyuk: Einer riss auf dem Markt ei- nen Stand um, die an- deren nutzten die Auf- regung, um die Le- bensmittel vom Bo- den aufzusammeln und damit zu flüchten. Auch unter den Kkot- jebis habe sich ein hie- rarchisches Klassen- system entwickelt: Die Geschicktesten schlossen sich zu Ban- den zusammen und stahlen irgendwann so effizient, dass sie sich sogar eine eigene Woh- nung leisten konnten. Dort kümmerten sich die Frauen um den Haushalt, während die Burschen tags- über auf ihre Raubzüge gingen. Außerhalb der Staatsgrenzen ist das Schicksal der nordkoreanischen Straßen- kinder selten mehr als eine Kurzmeldung wert, zuletzt im Mai 2013, als die Regie- rung von Laos eine neunköpfige Gruppe nordkoreanischer Jugendlicher aufgriff und zurück in den Norden abschob. Dort wurden sie wenig später im Staatsfernse- hen präsentiert, als reumütige Sünder. Laut der Onlinezeitung Daily NK, die über chinesische Handys ein ausgepräg- tes Informantennetzwerk in Nordkorea unterhält, haben sich seitdem die Sicher- heitsbedingungen für Straßenkinder ver- schärft. Auf der Straße aufgegriffene Ju- gendliche werden nun umgehend in Um- erziehungslager gesteckt, wo ihnen Zwangsarbeit und Folter drohen. In China werden Nordkoreaner weiterhin als illegale Wirtschaftsflüchtlinge be- trachtet und in ihre Heimat abgescho- ben – nicht zuletzt, weil man sich vor den Millionen potenziellen Flüchtlingen fürchtet, die in Nordkorea hungern. Um nach Südkorea zu gelangen, müssen Nordkoreaner über Drittländer die Aus- reise wagen, entweder durch die Wüste Gobi in die Mongolei oder über den Me- kong nach Thailand. Beide Routen sind gefährlich und enden nicht selten im nordkoreanischen Arbeitslager oder chi- nesischen Bordell. Wie viele Kinder in Nordkorea auf der Straße leben, lässt sich nur schwer über- prüfen. Die Behörden sind auf die Be- richte Betroffener angewiesen, denen die Flucht gelungen ist: Laut Kim Hyuks Schilderungen lebten während der 90er Jahre in Chongjin, der mit 325 000 Ein- wohnern siebtgrößten Stadt Nordkoreas, mehrere hundert Minderjährige auf der Straße, bis zu 50 von ihnen rund ums Bahnhofsgelände. Heute lebt der 31-Jährige in einer Woh- nung, studiert an einer renommierten Uni in Seoul und auf seinem Reisepass prangt das Wappen Südkoreas, der zwölftgrößten Volkswirtschaft der Welt. Während seine Gedanken früher immer nur um die nächste warme Mahlzeit und einen sicheren Schlafplatz kreisten, denkt Kim nun über das Thema seiner geplanten Doktorarbeit nach. In Nordko- rea hätten die Menschen so viel damit zu tun, ihre Grundbedürfnisse zu befriedi- gen, dass für andere Ambitionen keine Kraft mehr bliebe. Das mache die Men- schen auf gewisse Weise faul und träge. „In Südkorea hat man Freiheit, doch man muss viel fleißiger sein, um seine Ziele zu erreichen“, sagt Kim. Manchmal vermisse er das Gefühl sei- ner Kindheit, die Freiheit als Kkotjebi. In dem Staat der totalen Überwachung lebe wohl niemand so unbeobachtet wie sie. Die anderen Kinder müssen sich schon in der Grundschule durch die täglichen Ideologiesitzungen quälen, als Erwachse- ner benötigt man selbst für den Besuch der Nachbarstadt Einreisedokumente der Behörden. Doch wer ohne Eltern lebt, nicht zur Schule geht, der fällt auch durch die Raster der staatlichen Kon- trolle. Man könne jeden Tag selber ent- scheiden, wie man den Tag verbringt, sagt Kim. Die blühenden Schwalben sind zwar vogelfrei, aber auch frei wie Vögel. Wenn Kkotjebis aus dem Land flüch- ten, tun sie dies weniger aus politischen Gründen, sondern weil sie der Hunger treibt. Meist gehen sie über die chinesi- sche Grenze, an der auch Kim Hyuk mit 16 Jahren stand. Sein erster Fluchtver- such endete mit einem Jahr und acht Mo- naten Umerziehungslager. Damals brachte Kim gerade mal 35 Kilogramm auf die Waage. Wenige Monate nach seiner Freilas- sung bereitete er sich sorgfältiger vor. Für den Tag seiner Flucht wählte er den 24. Dezember 2000, den Geburtstag von Kim Il-Sungs Frau, da die Grenzkontrol- len an diesem Tag meist lascher seien. Ob es wirklich daran lag, ist ungewiss. Die Flucht aber glückte . Jedes Jahr erreichen die südkoreani- sche Grenze rund 50 minderjährige Nord- koreaner ohne Familienangehörige. Da- mit machen sie knapp zwei Prozent aller Flüchtlinge aus. Insgesamt leben mehr als 25 000 Nordkoreaner im Süden. Auch Kang Chun-hyok konnte als Ju- gendlicher aus seinem Heimatland flie- hen. Sein Vater hatte die Familie Jahre zu- vor verlassen, und als die Mutter an Ty- phus erkrankte, musste der Elfjährige auf der Straße betteln, um die Geschwister durchzubringen. Heute zählt Kang zur ersten Generation der Flüchtlinge, die in Südkorea die Oberschule abgeschlossen haben und nun die Universitäten des Lan- des besuchen: Junge Erwachsene, die ihre Stimme erheben – auch weil das Kim-Regime keinen Druck mehr auf sie ausüben kann. Denn im Gegensatz zu den anderen Flüchtlingen müssen die Kkotjebis nicht um ihre zurückgelasse- nen Familien bangen, die für den Landes- verrat ihrer Angehörigen in Umerzie- hungslagern büßen müssen. „Hier er- fährt man nur die politischen Nachrich- ten über Nordkorea, aber das wird der Realität nicht gerecht. Ich will den wirkli- chen Alltag zeigen“, sagt Kang. Reden ist eigentlich nicht so seine Sache, der 27-Jährige wirkt verschlossen und unsi- cher, dasTrauma der Vergangenheit las- tet auf ihm. Aber Kang Chun-hyok hat ei- nen anderen Weg gefunden, seine Ge- schichte zu erzählen. An diesem Sonntag steht er in einer Fußgängerzone in Seouls Zentrum, ehr- fürchtig betrachtet er die weiße Lein- wand vor ihm. Mit einem kurzen Hand- griff richtet er sich das Basecap, das T-Shirt flattert zwei Nummern zu groß über die locker sit- zende Khakihose. Noch einmal holt er tief Luft, dann geht es los: „Live-Draw- ing“ nennt Kang seine Performance, mit der er seinen Landsleuten in Süd- korea die Leidensgeschichten in Erinne- rung ruft, die sich tagtäglich nur eine Au- tostunde entfernt abspielen. In Windeseile skizziert er mit seiner Zeichenkohle, viele Passanten filmen die Performance mit ihrem Smartphone. Langsam zeichnen sich auf der Leinwand die Konturen eines spindeldürren Kindes ab, ängstlich schaut es ins Publikum, es trägt schwere Stahlfesseln um Hals und Hände. „Es tut mir leid, dass ich nichts für dich tun kann“, unterschreibt Kang das fertige Bild. Als er sich umdreht, sind die meisten Zuschauer schon wieder wei- tergezogen. Die hedonistische Jugend Südkoreas ist gut darin, die harten Wahrheiten aus dem Nachbarland zu verdrängen. Jedes Jahr sinkt in Umfragen die Bereitschaft für eine Wiedervereinigung. Der Norden wird mittlerweile weniger als sehnsüch- tig vermisster Teil des eigenen Landes an- gesehen, denn vielmehr als Gefahr für den so hart erarbeiteten Wohlstand. Manchmal spürt auch Kang, dass er mit seinen Aktionen auf Gleichgültigkeit und Desinteresse stößt. Dann schmiedet er radikalere Pläne, würde am liebsten mit seinen Freunden nach Peking fliegen und dort die Fassade der nordkoreani- schen Botschaft besprühen. Oder den in- nerkoreanischen Grenzwall mit bunten Bildern verzieren, wie es früher die Sprayer auf der Westseite der Berliner Mauer machten. Früher habe er es mal mit abstrakter Malerei versucht, sagt Kang, aber schnell gemerkt, dass der realistische Stil besser zu seinem Charakter passe. Seine Bilder versteht er vor allem als Zeitdokumente für die Nachwelt. Eins zeigt einen Jungen im Vorschulalter, der auf ein riesiges Wandplakat starrt – es ist die Verlautba- rung der nächsten öffentlichen Hinrich- tung. „Ungefähr in demselben Alter habe auch ich meine erste Erschießung gese- hen“, sagt Kang. Eigentlich sei er nur des- halb dort hingegangen, um leere Patro- nenhülsen aufzusammeln, die, wie ihm ein Junge erzählt hatte, schöne Geräu- sche machten, so wie Nussschalen, wenn man in sie hineinpustet. Doch dann sah er die Kugeln einschlagen, das Blut sprit- zen. Sein Leben lang werde er diese Sze- nen nicht vergessen. Schon damals habe er leidenschaft- lich und düster gemalt. Seine Bilder aus der Grundschule zeigen Panzer und amerikanische Soldaten, mit großen, spitzen Nasen zu Fratzen verzerrt. In Seoul, wo Kang seit mehr als zehn Jah- ren lebt, wurde er nun an der renom- miertesten Kunsthochschule des Landes angenommen. Dass es Künstler in Süd- korea schwer haben, in dieser neolibera- len, konformistischen Gesellschaft, in der vor allem Ärzte, Anwälte und Sam- sung-Angestellte respektiert werden, schreckt Kang nicht. „In dieser Gesell- schaft werde ich nicht verhungern.“ Kim Huyk litt als Kind ständig unter Hunger. Die Kälte war gefährlicher Verarbeitende Kunst. Kang Chun-hyok, das Waisenkind aus dem Norden, lebt heute als Maler in Südkorea. Zur Freiheit verdammt „Kkotjebi“, blühende Schwalben, werden die Straßenkinder in Nordkorea genannt. Weil sie immer in Bewegung bleiben müssen. Nur manchen von ihnen gelingt die Flucht 50 Kinder aus Nordkorea erreichen jedes Jahr den Süden Foto: Fabian Kretschmer Von Fabian Kretschmer, Seoul DIENSTAG, 23. SEPTEMBER 2014 / NR. 22 174 DER TAGESSPIEGEL 3 DIE DRITTE SEITE Berlin exklusiv Unser Grund für Ihren Boden Ihr Grundstück im villenpark potsdam Besuchen Sie uns, auch gerne ganz spontan! 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Page 1: Zur Freiheit verdammt - Fabian Kretschmerfabian-kretschmer.com/texte/Kkotjebi.pdf · 2014. 9. 23. · aus Nordkorea erreichen jedes Jahr den Süden Foto: FabianKretschmer Von Fabian

Kim Hyuk sitzt auf einer Stein-bank in Insadong, einst die ge-schäftigste Marktstraße vonSeoul, heute Flaniermeile fürdie frisch Verliebten und

Rucksacktouristen. Zwischen zeitgenössi-schen Galerien, Souvenirläden und Kaf-feehäusern erzählt ein unbeschwert wir-kender junger Mann von seinem frühe-ren Leben. Einem Leben, das keine 14Jahre zurückliegt, nur 500 KilometerLuftlinie entfernt, doch gedanklich wei-ter nicht weg sein könnte: Kim Hyuklebte, nein, er überlebte jahrelang als Stra-ßenkind in Nordkorea.

Was das schlimmste an seiner Jugendwar? Kim Hyuk, 31 Jahre alt, blaues Polo-hemd, runder Topfschnitt, Smartphone,muss nicht lange überlegen: Der Hungersei schrecklich gewesen, sagt er, dochohne Essen könne man zumindest dreiTage lang überleben. Aber die Kälte imWinter, wenn das Thermometer auf un-ter Minus 20 Grad sank, vor der habe ersich am meisten gefürchtet. Denn Erfrie-ren, das gehe schneller, als man denkt.

Jede Woche seien die Sicherheitskräftezum Bahnhof angerückt, mit sperrigenKarren, und hätten die Leichen der Ob-dachlosen aufgesammelt. Zu Dutzendenwurden sie in anonymen Massengräbernam Stadtrand ver-schüttet. „Mein Vatersoll auch so gestor-ben sein“, sagt Kim,als beschreibe er eingewöhnliches Kind-heitsschicksal.

In den Statistikentauchen die Kindernicht auf. Offiziellheißt es, der Führerkümmeresichhöchst-persönlich um dasWohl seiner Kinder,die in Nordkorea bes-ser leben würden alsanderswo auf derWelt.AndenGeburts-tagen der drei Kims –StaatsgründerIl-Sung, Sohn Jong-Ilund der jetzige Herrscher Jong-Un – wer-den Süßigkeiten an alle Kinder verteilt.An die Zukunft des Landes.

Tatsächlich verloren in den 90er Jah-ren Tausende ihre Eltern. Die Misswirt-schaft des Regimes, das Ausbleiben dersowjetischen Hilfslieferungen und eineSerie an Überschwemmungen kulminier-ten zur großen Hungersnot, währendder, laut Schätzung der Vereinten Natio-nen, zwischen 450 000 und zwei Millio-nen Nordkoreaner verhungerten. Zur glei-chen Zeit verbaute das Regime umgerech-net 590 Millionen Euro für Denkmälerund das Mausoleum des 1994 verstorbe-nen Kim Il-Sung. Bis zum Jahr 2012 sol-len die Ausgaben für importierte Luxus-güter für die Parteielite auf 470 MillionenEuro angestiegen sein.

Zum Überleben blieb unzähligen Kin-dern nur die Straße, wo sie auf Märktenund in Bahnhöfen bettelten. „Kkotjebi“

nennt man die Straßenkinder auf korea-nisch, übersetzt heißt das so viel wie „blü-hende Schwalben“ – weil sie ständig inBewegung bleiben müssen: bis zur nächs-ten Mahlzeit, zum nächsten Schlafplatz.

Die Kindheit von Kim Hyuk endete, alser sieben war: Seine Mutter starb, der Va-ter hatte die Familie früh verlassen. DieFolgen des Hungers hatten zuerst die Al-ten und Kinder getroffen. Wer konnte,floh. Der Heimatort der Brüder verwan-delte sich in eine Geisterstadt. Währendder Regenzeit legten Erdrutsche die Ske-lette verwester Kinder frei, herrenloseHunde streunten mit Knochen im Mauldurch die verlassenen Straßen. Plündererhatten Fenster und Türen in den Häusernherausgerissen, um sie gegen Nahrungeinzutauschen.

Als Kim Hyuk mit seinem Bruder insWaisenheim kam, bestand ihre einzigeMahlzeit am Tag aus Körnern und Wur-zeln. Von den 75 Kindern verhungerten24. Die Brüder ergriffen die Flucht. Dereinzige Ort, wo sie noch hinkonnten, wardie Straße. Nachts versteckten sich dieJungen im Bahnhofsgebäude, wo sie sichin die Zwischenräume von Heizkörperund Wand zwängten. Der Spalt bot nichtnur Wärme, sondern auch Schutz vor dergefürchteten Polizei.

Tagsüber bettelten sie und begannenwie die meisten Kkotjebis zu stehlen. Zu

dritt oder viert tatensie sich zusammen, er-zählt Kim Hyuk: Einerriss auf dem Markt ei-nen Stand um, die an-deren nutzten die Auf-regung, um die Le-bensmittel vom Bo-den aufzusammelnund damit zu flüchten.Auch unter den Kkot-jebis habe sich ein hie-rarchisches Klassen-system entwickelt:Die Geschicktestenschlossen sich zu Ban-den zusammen undstahlen irgendwann soeffizient, dass sie sichsogar eine eigene Woh-nung leisten konnten.

Dort kümmerten sich die Frauen um denHaushalt, während die Burschen tags-über auf ihre Raubzüge gingen.

Außerhalb der Staatsgrenzen ist dasSchicksal der nordkoreanischen Straßen-kinder selten mehr als eine Kurzmeldungwert, zuletzt im Mai 2013, als die Regie-rung von Laos eine neunköpfige Gruppenordkoreanischer Jugendlicher aufgriffund zurück in den Norden abschob. Dortwurden sie wenig später im Staatsfernse-hen präsentiert, als reumütige Sünder.

Laut der Onlinezeitung Daily NK, dieüber chinesische Handys ein ausgepräg-tes Informantennetzwerk in Nordkoreaunterhält, haben sich seitdem die Sicher-heitsbedingungen für Straßenkinder ver-schärft. Auf der Straße aufgegriffene Ju-gendliche werden nun umgehend in Um-erziehungslager gesteckt, wo ihnenZwangsarbeit und Folter drohen. InChina werden Nordkoreaner weiterhin

als illegale Wirtschaftsflüchtlinge be-trachtet und in ihre Heimat abgescho-ben – nicht zuletzt, weil man sich vor denMillionen potenziellen Flüchtlingenfürchtet, die in Nordkorea hungern. Umnach Südkorea zu gelangen, müssenNordkoreaner über Drittländer die Aus-reise wagen, entweder durch die WüsteGobi in die Mongolei oder über den Me-kong nach Thailand. Beide Routen sindgefährlich und enden nicht selten imnordkoreanischen Arbeitslager oder chi-nesischen Bordell.

Wie viele Kinder in Nordkorea auf derStraße leben, lässt sich nur schwer über-prüfen. Die Behörden sind auf die Be-richte Betroffener angewiesen, denen dieFlucht gelungen ist: Laut Kim HyuksSchilderungen lebten während der 90erJahre in Chongjin, der mit 325 000 Ein-wohnern siebtgrößten Stadt Nordkoreas,mehrere hundert Minderjährige auf derStraße, bis zu 50 von ihnen rund umsBahnhofsgelände.

Heute lebt der 31-Jährige in einer Woh-nung, studiert an einer renommiertenUni in Seoul und auf seinem Reisepassprangt das Wappen Südkoreas, derzwölftgrößten Volkswirtschaft der Welt.Während seine Gedanken früher immernur um die nächste warme Mahlzeit undeinen sicheren Schlafplatz kreisten,denkt Kim nun über das Thema seiner

geplanten Doktorarbeit nach. In Nordko-rea hätten die Menschen so viel damit zutun, ihre Grundbedürfnisse zu befriedi-gen, dass für andere Ambitionen keineKraft mehr bliebe. Das mache die Men-schen auf gewisse Weise faul und träge.„In Südkorea hat man Freiheit, doch manmuss viel fleißiger sein, um seine Ziele zuerreichen“, sagt Kim.

Manchmal vermisse er das Gefühl sei-ner Kindheit, die Freiheit als Kkotjebi. Indem Staat der totalen Überwachung lebewohl niemand so unbeobachtet wie sie.Die anderen Kinder müssen sich schon inder Grundschule durch die täglichenIdeologiesitzungen quälen, als Erwachse-ner benötigt man selbst für den Besuchder Nachbarstadt Einreisedokumente derBehörden. Doch wer ohne Eltern lebt,nicht zur Schule geht, der fällt auchdurch die Raster der staatlichen Kon-trolle. Man könne jeden Tag selber ent-scheiden, wie man den Tag verbringt,sagt Kim. Die blühenden Schwalben sindzwar vogelfrei, aber auch frei wie Vögel.

Wenn Kkotjebis aus dem Land flüch-ten, tun sie dies weniger aus politischenGründen, sondern weil sie der Hungertreibt. Meist gehen sie über die chinesi-sche Grenze, an der auch Kim Hyuk mit16 Jahren stand. Sein erster Fluchtver-such endete mit einem Jahr und acht Mo-naten Umerziehungslager. Damals

brachte Kim gerade mal 35 Kilogrammauf die Waage.

Wenige Monate nach seiner Freilas-sung bereitete er sich sorgfältiger vor.Für den Tag seiner Flucht wählte er den24. Dezember 2000, den Geburtstag vonKim Il-Sungs Frau, da die Grenzkontrol-len an diesem Tag meist lascher seien. Obes wirklich daran lag, ist ungewiss. DieFlucht aber glückte .

Jedes Jahr erreichen die südkoreani-sche Grenze rund 50 minderjährige Nord-koreaner ohne Familienangehörige. Da-mit machen sie knapp zwei Prozent allerFlüchtlinge aus. Insgesamt leben mehrals 25 000 Nordkoreaner im Süden.

Auch Kang Chun-hyok konnte als Ju-gendlicher aus seinem Heimatland flie-hen. Sein Vater hatte die Familie Jahre zu-vor verlassen, und als die Mutter an Ty-phus erkrankte, musste der Elfjährige aufder Straße betteln, um die Geschwisterdurchzubringen. Heute zählt Kang zurersten Generation der Flüchtlinge, die inSüdkorea die Oberschule abgeschlossenhaben und nun die Universitäten des Lan-des besuchen: Junge Erwachsene, dieihre Stimme erheben – auch weil dasKim-Regime keinen Druck mehr auf sieausüben kann. Denn im Gegensatz zuden anderen Flüchtlingen müssen dieKkotjebis nicht um ihre zurückgelasse-nen Familien bangen, die für den Landes-

verrat ihrer Angehörigen in Umerzie-hungslagern büßen müssen. „Hier er-fährt man nur die politischen Nachrich-ten über Nordkorea, aber das wird derRealität nicht gerecht. Ich will den wirkli-chen Alltag zeigen“, sagt Kang. Reden isteigentlich nicht so seine Sache, der27-Jährige wirkt verschlossen und unsi-cher, das Trauma der Vergangenheit las-tet auf ihm. Aber Kang Chun-hyok hat ei-nen anderen Weg gefunden, seine Ge-schichte zu erzählen.

An diesem Sonntag steht er in einerFußgängerzone in Seouls Zentrum, ehr-fürchtig betrachtet er die weiße Lein-wand vor ihm. Mit einem kurzen Hand-

griff richtet er sichdas Basecap, dasT-Shirt flattert zweiNummern zu großüber die locker sit-zende Khakihose.Noch einmal holt ertief Luft, dann gehtes los: „Live-Draw-ing“ nennt Kangseine Performance,mit der er seinenLandsleuten in Süd-

korea die Leidensgeschichten in Erinne-rung ruft, die sich tagtäglich nur eine Au-tostunde entfernt abspielen.

In Windeseile skizziert er mit seinerZeichenkohle, viele Passanten filmen diePerformance mit ihrem Smartphone.Langsam zeichnen sich auf der Leinwanddie Konturen eines spindeldürren Kindesab, ängstlich schaut es ins Publikum, esträgt schwere Stahlfesseln um Hals undHände. „Es tut mir leid, dass ich nichtsfür dich tun kann“, unterschreibt Kangdas fertige Bild. Als er sich umdreht, sinddie meisten Zuschauer schon wieder wei-tergezogen.

Die hedonistische Jugend Südkoreasist gut darin, die harten Wahrheiten ausdem Nachbarland zu verdrängen. JedesJahr sinkt in Umfragen die Bereitschaftfür eine Wiedervereinigung. Der Nordenwird mittlerweile weniger als sehnsüch-tig vermisster Teil des eigenen Landes an-gesehen, denn vielmehr als Gefahr fürden so hart erarbeiteten Wohlstand.

Manchmal spürt auch Kang, dass ermit seinen Aktionen auf Gleichgültigkeitund Desinteresse stößt. Dann schmiedeter radikalere Pläne, würde am liebstenmit seinen Freunden nach Peking fliegenund dort die Fassade der nordkoreani-schen Botschaft besprühen. Oder den in-nerkoreanischen Grenzwall mit buntenBildern verzieren, wie es früher dieSprayer auf der Westseite der BerlinerMauer machten.

Früher habe er es mal mit abstrakterMalerei versucht, sagt Kang, aber schnellgemerkt, dass der realistische Stil besserzu seinem Charakter passe. Seine Bilderversteht er vor allem als Zeitdokumentefür die Nachwelt. Eins zeigt einen Jungenim Vorschulalter, der auf ein riesigesWandplakat starrt – es ist die Verlautba-rung der nächsten öffentlichen Hinrich-tung. „Ungefähr in demselben Alter habeauch ich meine erste Erschießung gese-hen“, sagt Kang. Eigentlich sei er nur des-halb dort hingegangen, um leere Patro-nenhülsen aufzusammeln, die, wie ihmein Junge erzählt hatte, schöne Geräu-sche machten, so wie Nussschalen, wennman in sie hineinpustet. Doch dann saher die Kugeln einschlagen, das Blut sprit-zen. Sein Leben lang werde er diese Sze-nen nicht vergessen.

Schon damals habe er leidenschaft-lich und düster gemalt. Seine Bilder ausder Grundschule zeigen Panzer undamerikanische Soldaten, mit großen,spitzen Nasen zu Fratzen verzerrt. InSeoul, wo Kang seit mehr als zehn Jah-ren lebt, wurde er nun an der renom-miertesten Kunsthochschule des Landesangenommen. Dass es Künstler in Süd-korea schwer haben, in dieser neolibera-len, konformistischen Gesellschaft, inder vor allem Ärzte, Anwälte und Sam-sung-Angestellte respektiert werden,schreckt Kang nicht. „In dieser Gesell-schaft werde ich nicht verhungern.“

Kim Huyk litt als Kindständig unter Hunger.Die Kälte war gefährlicher

Verarbeitende Kunst. Kang Chun-hyok, das Waisenkind aus dem Norden, lebt heute als Maler in Südkorea.

Zur Freiheitverdammt„Kkotjebi“, blühende Schwalben,

werden die Straßenkinder in Nordkorea genannt.Weil sie immer in Bewegung bleiben müssen.

Nur manchen von ihnen gelingt die Flucht50 KinderausNordkoreaerreichenjedes Jahrden Süden

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Von Fabian Kretschmer, Seoul

DIENSTAG, 23. SEPTEMBER 2014 / NR. 22 174 DER TAGESSPIEGEL 3DIE DRITTE SEITE

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