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GÜNTHER MALLE Zahlen fallennichtvom Himmel EinBlickin die Geschichte der Mathematik Ob von den natürlichen zu den ganzen Zahlen undzu den Bruchzahlen, von den rationalen zu denirrationalen zahlen oder von denreellen zu denkomplexen Zahlen: Zahlbereichserweiterungen sindProzesse, die erstaunliche Gemeinsamkeiten aufweisen. In der Geschichte der Mathematik wurden bekamt- lich immer wieder Zahlbereiche erweitefi. Die EnG stehung neuer Zahlen war jedoch in allen Fällen ein langwieriger, mit vielen Hürden gespickter Prozess. Bis die neuen Zahlen fertig waren,hat es meist viele Jahrhunderte gedauert, wobei ziemlich verschlunge- ne Wege und oft auch Sackgassen beschritten wur- den. In Anbetracht dieser Schwierigkeitenwdre es ziemlich naiv zu glauben, dass unsere Schü1erin- nen und Schüler Zahlbereichserweiterungen schnell und problemlos vollziehen können.Auch wenn wir sie durch einen sorgfältig geplanten Unterricht heu- te besserleiten können als früher, können wir ih- nen nicht ersparen,die Prozesse der Bildung neu- er Zahlen selbst nachzuvollziehen. Dabei stoßen sie auf Hindemisse,die den historischen Schwierigkei- ten sehr ähnlich sind. Ein didaklischer Blick auf historische Zahlbereichserweiterungen Wir unterscheiden an der Mathematik zwei Ebenen: die Ebene der ofiziellen Theorie und die Ebene der dahinterliegendenintuitiven Uorste llungen (Bedeu- tungen). Diese beidel Ebenenkönnen nur sehr sel- ten in einen wirklichen Einklang gebrachtwerden. Sie stehen meist miteinanderin einem Konflitt und wirken deshalb verändemd aufeinander ein. Verhägt sich die offrzielle Theorie nicht gut mit den dahinter stehenden intuitiven Vorstellungen, so gibt es zwei Möglichkeiten der Verbesserung: entweder man än- den die offizielle Theorie, sodassdiese besserzu den intuitiven Vorstellungen passt, oder man ändert die intuitiven Vorstellungen, sodass diesebesser zur offiziellen Theorie passen.Mit Termini, die auf Pia- get zurückgehen, könnte man im ersten Fall von ei- ner Atkommodation der offlziellen Theorie an die intuitiven Vorstellungen und im zweiten Fall von ei- ner Assimilation der intuitiven Vorstellunsenunter die offizielle Theorie sprechen (siehe Abb. 1). Die- se gegenseitigen Beeinflussungen der beiden Ebe- nen führen zu ständigen Veränderungen und treiben dadurchdie Entwicklung voran.r Diesessoll nun an vier Zahlbereichserweiterungen illustriert werden. Entstehung der Btuchzahlen aus den natürlichen Zahlen Ürber die Ursprüngeder Bruchzahlenweiß man fast nichts. Vielleicht tauchten sie aus praktischenAn- lässen auf (Aufteilen, Vergleichen, Messen etc.), vielleicht schummelten sie sich aber auch hinter- listig und fast unbemerkt als formale Ausdrücke in die Mathematik, etwa beim Dividieren. Wenn man 4 durch 2 dividieren darf, warum sollte man dann nicht auch 3 durch 4 dividieren dtirfen? Symbole für Bruchzahlen findet man schon bei den vorgriechischen Völkern. Diese Symbo- le wurden eher unreflektiert verwendet und intui- tiv höchstwahrscheinlich als nützliche Werkzeuge empfunden.Die Frage, ob hinter diesen Symbolen irgendwelche Objekte oder gar Zahlen stehen, wur- de nicht gestellt. Diese Frage warfen erst die grie- chischen Philosophen und Mathematiker im Um- kreis von Aristoteles und Euklid auf - und beant- worteten sie negativ. Die Bruchzahlen passten nicht in ihren offiziellen Zahlbegriff, der durch zwei Dog- men festgelegt war: . Eine Zahl ist eine aus Einheiten zusammense- setzte Vielheit. . Die Einheit ist unteilbar. Auf der anderenSeite konnten bereits die vorgrie- chischen Völker (Agyptea Mesopotamier) Bruch- zahlen mit Ziffem darstellen. mit ihnen rechnen und messen, sie in der Geometrieverwenden, mit ihnen praktischeProbleme lösen.Außerhalb der Philoso- phenstuben, etwa auf den griechischenMarktplät- zen, war es wohl ähnlich. Die Bruchzahlen unter- schieden sich also im Gebrauch nicht wesentlich von den natürlichen Zahlen.Dies drängtenacheiner Beieinigung in der offiziellen Theorie. Es ist interessant, wie die Griechendies bewerk- stelligt haben.Sie haben ihre Vorstellungen von ei- ner Zahl nicht aufgegebenund ihren Zahlbegriff nicht erweitert, sondem ihre Theorie mit Zusatzbe- griffen angereichert, die die Situation retten sollten. Der zunächst herangezogene Zusatzbegriff war der mathematiklehren 142 | 2oo7

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GÜNTHER MALLE

Zahlen fallen nicht vom HimmelEin Blick in die Geschichte der Mathematik

Ob von den natürlichen zu den ganzen Zahlen und zuden Bruchzahlen, von den rationalen zu den irrationalenzahlen oder von den reellen zu den komplexen Zahlen:Zahlbereichserweiterungen sind Prozesse, dieerstaunliche Gemeinsamkeiten aufweisen.

In der Geschichte der Mathematik wurden bekamt-lich immer wieder Zahlbereiche erweitefi. Die EnG

stehung neuer Zahlen war jedoch in allen Fällen einlangwieriger, mit vielen Hürden gespickter Prozess.Bis die neuen Zahlen fertig waren, hat es meist viele

Jahrhunderte gedauert, wobei ziemlich verschlunge-ne Wege und oft auch Sackgassen beschritten wur-den. In Anbetracht dieser Schwierigkeiten wdre esziemlich naiv zu glauben, dass unsere Schü1erin-nen und Schüler Zahlbereichserweiterungen schnellund problemlos vollziehen können. Auch wenn wirsie durch einen sorgfältig geplanten Unterricht heu-te besser leiten können als früher, können wir ih-nen nicht ersparen, die Prozesse der Bildung neu-

er Zahlen selbst nachzuvollziehen. Dabei stoßen sieauf Hindemisse, die den historischen Schwierigkei-ten sehr ähnlich sind.

Ein didaklischer Blick aufhistorische Zahlbereichserweiterungen

Wir unterscheiden an der Mathematik zwei Ebenen:die Ebene der ofiziellen Theorie und die Ebene derdahinter liegenden intuitiven Uorste llungen (Bedeu-

tungen). Diese beidel Ebenen können nur sehr sel-ten in einen wirklichen Einklang gebracht werden.Sie stehen meist miteinander in einem Konflitt undwirken deshalb verändemd aufeinander ein. Verhägtsich die offrzielle Theorie nicht gut mit den dahinterstehenden intuitiven Vorstellungen, so gibt es zweiMöglichkeiten der Verbesserung: entweder man än-den die offizielle Theorie, sodass diese besser zuden intuitiven Vorstellungen passt, oder man ändertdie intuitiven Vorstellungen, sodass diese besser zuroffiziellen Theorie passen. Mit Termini, die auf Pia-get zurückgehen, könnte man im ersten Fall von ei-ner Atkommodation der offlziellen Theorie an dieintuitiven Vorstellungen und im zweiten Fall von ei-ner Assimilation der intuitiven Vorstellunsen unter

die offizielle Theorie sprechen (siehe Abb. 1). Die-

se gegenseitigen Beeinflussungen der beiden Ebe-

nen führen zu ständigen Veränderungen und treibendadurch die Entwicklung voran.r Dieses soll nun anvier Zahlbereichserweiterungen illustriert werden.

Entstehung der Btuchzahlenaus den natürlichen Zahlen

Ürber die Ursprünge der Bruchzahlen weiß man fastnichts. Vielleicht tauchten sie aus praktischen An-lässen auf (Aufteilen, Vergleichen, Messen etc.),vielleicht schummelten sie sich aber auch hinter-listig und fast unbemerkt als formale Ausdrücke indie Mathematik, etwa beim Dividieren. Wenn man

4 durch 2 dividieren darf, warum sollte man dannnicht auch 3 durch 4 dividieren dtirfen?

Symbole für Bruchzahlen findet man schonbei den vorgriechischen Völkern. Diese Symbo-le wurden eher unreflektiert verwendet und intui-tiv höchstwahrscheinlich als nützliche Werkzeugeempfunden. Die Frage, ob hinter diesen Symbolen

irgendwelche Objekte oder gar Zahlen stehen, wur-

de nicht gestellt. Diese Frage warfen erst die grie-

chischen Philosophen und Mathematiker im Um-kreis von Aristoteles und Euklid auf - und beant-worteten sie negativ. Die Bruchzahlen passten nichtin ihren offiziellen Zahlbegriff, der durch zwei Dog-men festgelegt war:. Eine Zahl ist eine aus Einheiten zusammense-

setzte Vielheit.. Die Einheit ist unteilbar.Auf der anderen Seite konnten bereits die vorgrie-chischen Völker (Agyptea Mesopotamier) Bruch-zahlen mit Ziffem darstellen. mit ihnen rechnen undmessen, sie in der Geometrie verwenden, mit ihnenpraktische Probleme lösen. Außerhalb der Philoso-phenstuben, etwa auf den griechischen Marktplät-zen, war es wohl ähnlich. Die Bruchzahlen unter-schieden sich also im Gebrauch nicht wesentlichvon den natürlichen Zahlen. Dies drängte nach einerBeieinigung in der offiziellen Theorie.

Es ist interessant, wie die Griechen dies bewerk-stelligt haben. Sie haben ihre Vorstellungen von ei-ner Zahl nicht aufgegeben und ihren Zahlbegriffnicht erweitert, sondem ihre Theorie mit Zusatzbe-griffen angereichert, die die Situation retten sollten.Der zunächst herangezogene Zusatzbegriff war der

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ZAHTEN FALIEN NICHT VOM HIMMET I BASISARTIKEL

Begriff ,,Verhältnis". Bruchzahlen wurden als Ver-hältnisse von natürlichen Zahlen aufgefasst. Dabeiwaren diese Verhdltnisse zunächst nur als Bestand-teile von Proportionsaussagen lebensfähig. Mankonnte zwar sagen ,,a : & verhält sich wie 3 :4", aber3 :4 allein war sinnlos. Man sprach konsequenter-

. . - . , Iweise auch nicht von der(!) Zahl i. sondem davon.dass sich zwei( ! ) Zahlen wie 3 : 4 verhalten. Verhält-nisse wurden intuitiv nicht als eigenständige Denk-objekte oder gN Zahlen empfunden, sondern viel-mehr als Beziehungen zwischen den alten (natürli-

chen) Zahlen.Durch den beständigen Gebrauch wurden die

Verhältnisse möglicherweise zu eigenständigenDenkobjekten. Die Anerkennung eines Verhältnis-ses als Zahl gelang den Griechen jedoch nicht. EinSchritt in diese Richtung war die Einführung desZusatzbegriffes ,,Wert eines Verhältnisses" in deralexandrinischen Zeit (etwa bei Theon von Alexan-dria um 300 n. Chr.). Dieser Begriff war Ausdruckeines inneren Dilemmas. Einerseits war man intui-tiv bereit, die Verhältnisse als neue Zahlen anzuer-kennen, andererseits wurde dies durch den griechi-

schen Zahlbegriff verboten. Kurz gesagt: Die Ver-hältnisse waren Zahlen und doch keine. Durch denZusatzbegriff des Wertes eines Verhältnisses gelangwenigstens eine bedingte (mit Vorbehalten versehe-ne) Anerkennung der Bruchzahlen in der offiziel-len Theorie.

Nach den Griechen zerbrachen sich die Araberintensiv den Kopf darübe1 ob der Wert eines Ver-hältnisses eine Zahl sein könne. Im 13. Jahrhundertschreibt schließlich Barlaam:

Der Wert eines Verhältnisses ist die Zahl(!), welchemit dem Hinterglied multipliziert das Vorderglied er-gibt.

Der Wer t des Verhä l tn isses 3 :4 i s t a lso j . we i l, ]4 i

=: it,. Im praktischen Cebrauch wurde dannaber nicht immer zwischen ,,Verhältnis" und ,,Wertdes Verhältnisses" unterschieden. Dies förderte aufder intuitiven Ebene die Auffassung eines Verhält-nisses als Zahl. Der Zusatzbegriff ,,Wert eines Ver-hältnisses" wurde damit hinllillig und verschwandauch wieder.

Die endgültige Anerkennung der Bruchzahlen inder offrziellen Theorie ließ aber noch auf sich wartenund geschah erst durch Petrus Ramus (1515 1572),der den griechischen Zahlbegriff endgültig über-wand und eine Zahl anders definierte:

Numerus est secundum quem unumquodque numera-tur (Eine Zahl ist, womit wL zfilen und rechnen.)

Mit dieser Definition wollte Ramus alles erfassen,was dem Zählen und den vier Grundrechnungsarten

mathematik lehren 142 2007

zugänglich ist, also die positiven rationalen Zahlen.(Es ist nicht sinnvoll, ,,numerare" nur mit ,,zaihlen"zu übersetzen. weil Ramus darunter nachweislichdie vier Grundrechnungsaften subsumierte.)

In Kasten 1, Beispiel 1 (S. 7) ist dieser Ablauf sche-matisch dargestellt, wobei die in Abb. I angespro-chene Wechselwirkung der beiden Ebenen längs ei-ner Zeitdimension auseinander gezogen ist.

Entstehung der irrali0nalen Zahlenaus den rationalen Zahlen

Bereits die vorgriechischen Völker rechreten mitNäherungswerten für gewisse irrationale Zahlen wien oder vl. -hs lässr srch redoch rm Einzelfall nichtmit Sicherheit sagen, ob die Existenz ,,genauer Wer-te" akzeptiert wurde und ob bekannt war, dass essich bei den Angaben nw um Näherungswerle han-delt. Bei den Chinesen (Chang Suan Shu) gibt esjedenfalls Hinweise dafür, dass man für n beliebigviele Dezimalstellen hinschreiben könne.

Die Griechen entdeckten die irrationalen Zah-len in Form inkommensurabler Strecken. das sindStrecken, für die kein gemeinsames Maß existiertund deren Längenverhältnis daher nicht durch einVerhältnis von (natürlichen) Zahlen dargestellt wer-den kann (zum Beispiel Seiten- und Diagonalenlän-ge eines Quadrats). Auch wenn die Entdeckung sol-cher Streckenverhältnisse eine Grundlagenkrise dergriechischen Mathematik auslöste, wurden diese in_der Folge ziemlich unreflektiert gebraucht und intui-t iv als nützliche Werkzeuge der Geometrie angese-hen. Die Frage, ob sich dahinter Zahlenlerbergen,wurde nicht gestellt.

Der erste Erklärungsversuch in der offiziel-len Theorie erfolgte ähnlich wie bei den Bruchzah-len durch einen Zusatzbegdff, nämlich den Begriff

,,Gritßenverhiiltnis". Der Begriff ,,Verhältnis" wurdeja schon bei den Bruchzahlen verwendet und konntevon dort übernommen werden. Der Begriff ,,Größe"wat aus der Geometrie geläufig und urfasste Zah-len, Strecken, Flächen, Körper usw. Inkommensu-rable Strecken konnten zwar nicht als Verhältnisse

Abb. 1: Wechselwirkungen

zwischen mathematischer

Theo e und intuitiven

Vorstellungen

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von Zahlen (d. h. natürlicher oder rationaler Zahlen)

aufgefasst werden, wohl aber als Verhältnisse von

Größen, z. B. als Streckenverhältnisse. Zahlenver-

hältnisse (die den Bruchzahlen entsprechen) waren

dabei ein Spezialfall der Größenverhältnisse.Aufgrund dieser Erklärung wurden die irratio-

nalen Zahlen wie vorher die rationalen Zahlen mit

ziemlicher Sicherheit intuitiv nicht als eigene Denk-

objekte oder gar Zahlen empfunden, sondern als Be-

ziehungen (Verhältnisse) zwischen vertauten Den-

kobjekten (Größen). So schreibt etwa Heron von

Alexandria:

Rationale und irrationale Größen gehören beide nicht

zu dem an sich Gedachten, sondem zu dem mit Ande-

rem Verglichenen.

Obwohl Größenverhältnisse von den Griechen zu-

nächst nicht als eigene mathematische Denkobjek-

te angesehen wurden, gelang es ihnen, den Propor-

tionenkalküI, der zunächst nur auf kommensurable

Größen anwendbar war, auf inkommensurable Crrö-

ßen auszudehnen. Dabei musste erklärt werden, was

eine Proportionsaussage der Form a:b = c:d be-

deutet. wenn die Größen c und Ö bzw. c und d in-

kommensurabel sind. Vermutlich schon im 5. Jahr-

hundert v, Chr. wurde eine Theorie geschaffen, in

der die Gleichheit zweier Verhältnisse durch das

Verfahren derWechselwegnahme (Antanatesis oder

Anthyphairesis) gekennzeichnet wurde. Dieses Ver-

fahren ist nichts anderes als der heute so genannte

,,Euklidische Algorithmus". Zwei Verhältnisse wur-

den als gleich angesehen, wenn sie dieselbe Wech-

selwegnahme besitzen, d. h. beim Euklidischen Al-gorithmus dieselbe (endliche oder unendliche) Fol-ge von Resten ergeben. Im 4. Jahrhundert v. Chr.

wurde diese Theorie durch die im fünften Buch vor

Euklid dargestellte Theorie verdrängt, welche dem

Eudoxos zugeschrieben wird. Die grundlegende De-

finition lautet:

Größen stehen in demselben Verhältnis, die erste zur

zweiten und die dritte zur vierten, wenn die gleichen

Vielfachen der ersten und dritten und die gleichen

Vielfachen der zweiten und vierten bei jeder belie-

bigen Vervielfachung - einander entweder zugleich

übertreffen oder gleichkommen oder unterschleiten,in entsprechender Ordnung genommen.

In modemer Schreibweise ist das leichter verständ-lich: Die vier Größet a, b, c, d stehen in Proportion(a: b = c: dl, wenn für alle natürlichen Zahlen m, njeweils genau eine der folgenden Aussagen gilt:

( L ) m . a < n . b : u n d m . c < n d( 2 ) m . a = n . b : u n d m - c = n . d(3 \ m.a> n .b .u .nd m,c > n .d

Aus dem geometrischen Kontext konnten die Grie-

chen sich jedoch nicht lösen. Insbesondere wurden

Wurzelausdrücke von den Griechen vermutlich nie

arithmetisch aufgefasst. Dies scheint erst eine Leis-

tung der Araber gewesen zu sein. Allerdings ging

diese Loslösung auch bei den Arabern nicht ohne

Schwierigkeiten vonstatten, was die synonyme Ver-

wendung von geometdschen und arithmetischen

Begriffen bezeugt, etwa ,,Zahl",,,Größe" und ,,Li-nie". Zum Beispiel ist die Rede von einer ,tinie, die

als Wurzel einer Tahl erscheint". Ber Al-Nayrizi (ca.

875. 940 n. Ctu.) f inden wir allerdings auch die fol-

gende Beschreibung der Formel

la +' '!b = ' ' la + b +2',lab:

Wenn wir die Wuzel aus einer Zahl zur Wurzel aus

einer Zahl addieren wollen, so addieren wir zulächst

die beiden Quadrate der beiden Wurzeln und dazu

noch zweimal die Wurzel aus ihrem Produkt. Aus dem

Ergebnis ziehen wir die Wuzel.

In dieser Beschreibung kommt kein geometrischer

Ausdruck mehr vor. (Den Beweis der Formel fühfi

Al-Nayrizi allerdings noch geometrisch.) Abu Ka-

mil (ca. 850-930 n. Chr.) rechnet reine Zahlenbei-

spiele zu dieser Formel vor wie zum Beispiel

19+ fr = {g +++ 2\[9 4 = \!2s = s.

Die Möglichkeit, Wuzelausdrücke zu addieren und

zu subffahieren, sowie - was einfacher ist - zu mul-

tiplizieren und zu dividieren, erleichtert es, sie auf

der intuitiven Ebene als Zahlen aufzufassen.

Omar Hayyam (ca. 1048-1131) diskutiert aus-

führlich. ob Größenverhältnisse Zahlen seien: ,,Kannein Verhciltnis von Größen seineru Wesen nqch eine

Zahl sein oder wird es nur von einer Zahl beglet'

tet ..-?" Einer, Fortschritt gibt es bei ihm: Sind A

und B zwei Größen, so wählt er eine Einleitsgröße

E und eine Hilfsgröße G, für die A:B = G:E 811t.Im weiteren Text redet er nur mehr von der Hilfs-

größe G und nicht mehr von der Einheitsgröße E,

was darauf hinweist, dass er stillschweigend G:,E

mit G identifiziert. Diese Größe G, sagt er, ,,wollenwir nicht als Linie, Flüche, Kötper oder Zeit auffas-

sen, sondem wir wollen sie auJfassen als eine durch

denVerstand von all dem losgelöste und zu den Zqh-

len gehörende Griife, jedoch nicht zu den absoluten

und echten Zahlen ... " .Solche Außerungen sind für die Folgezeit ty-

pisch, in der die irrationalen Zahlen zwar als Zah-

1en, aber als ,,nicht aussprechbare", ,,fingierte", ,,ab-surde",,,unerkltubare",,,unwirkliche",,,irregultue"und eben ..inationale" Zahlen bezeichnet wurden.

Diese Worte sind der Ausdruck eines inneren Zwie-

spaltes: Man war nun bereit, die irrationalen Zahlen

als Zahlen anzuerkennen, aber dies war durch das

sriechische Zahlenmodell verboten, da die irratio-

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WISSENSWERT

Zahlbereichserweiterungen im Wechselspiel von mathematischer Theorieund intuitiver Vorstellung

Beispiel l: Entstehung der Bruchzahlen aus den natürlichen Zahlen

SymbolefürBruchzahlen,Rechnen mitBruchzahlen

Erklärung durchdie Zusatzbegfiffe,,Verhältnls" und

Bedingte AneFkennung als zahlon(AlexandinFcheZ€it, Areber)

Ane*ennung alsZahlen (Ramus),Zahlbsgrifü-elweiterung

IV]ATHEMATISCHE

INTUITIVEVORS'TEI.LUNGEN

Bruchzahlen alsnütsliche Werkzeuge,eher unrefleKierterGebrauch

Bruchzahlen alsBezishung€nzwischennalürlichen Zahlen

Bruchzahlen als eigoneDenkgegenstände

Beisplel 2: Entstehung der irrationalen Zahlen aus den mtionalen Zahlen

Näherungswsrt€ flirkrational€ Zahl6n,inkommensurableStrecken

Erklärung durchdio zusatbogriffe

"Verhällnis' und

"cröße"

BedingteAnerkennung als Zahlen(Arabet

Anerkennung alszahlen (Stevin),Zahlbegrifb-

MATHEMATISCHE

INTUITIVEVORSTELLUNGEN

hrationale Zahlen alsnürEliche Werkzeuge,ehea unreflekliederG6blauch

lnationale zahlen alsBeziehungen

lretionale Zahlen alseigene Denkgegenst€inde

Beispiel 3: Entstehung der negatlven zahlen aus den posltlven zahlen

Formale Differenzen,Zwischenergebnissebei Gleichungen

Erklärung durchden Zusatsbegriff

Bedingte Aner-kennung als Zahlen

Anerkennung alszahlen (Ohm u. a.),Zahlbercichs-eMeiterung

l\iIATHEMATISCHETHEORIE

INTUITIVEVORSTETIUNGEN

N6galiv6 Zahlon alsnütsliche Workzeu96,eher unre{ektienerGebrauch

Negative Zahlgn alspositive Zahl€n mitein€r zusäElichenEigenschaft

Negative Zahlen alseigene Denkgegenstände

Beispiel 4: Entstehung de. komplexen Zahlen aus den .eellen Zahlen

Formale Bildung von

negativ€n zahlen(Cardano)

E*lärung durchden Zusatbegrilf,, Erweitertes VoFzeichen" (Bombelli)

Bedingte AneFkennung als zahlen

Aneakennung alaZahlen,Zahlbereichs-elwe|terung

MATHEIIIATISCHETHEOFIE

INTUMVEVORSTELLUNGEN

Komplexe Zahl€n alsnützliche Werkzeuge,eher unrelleki€norGebrauch

Kompl€x€ Zahlen alsreelle Zahlen mitelner zusäEllchsnEigsnschalt

Komplexe Zahlen alseigene Denkgegenstände

malhemallk lehren 142 | mo7

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nalen Zahlen nicht aus Einheiten zusammengesetzt

werden können. So wurde nur eine bedingte Aler-

kennung der irrationalen Zahlen it der offiziellen

Theorie erreicht.Noch Michael Stifel diskutiert in seiner ,,Arith-

metica integra" (1544) die Frage, ob die irrationa-

1en Zahlen (numeri irrationales) wirkliche Zahlen

seien oder bloß fiktive (numeri ficti). Für die Wirk-

lichkeit spricht, dass sie in der Geometrie noch wei-

terhelfen, wenn die rationalen Zahlen versagen. Da-

gegen spricht, dass sie sich nicht genau berechren

lassen und ..in einem Nebel der Unendlichkeit ver-

borgen bleiben".Auch die Ürberwindung des griechischen Zahl-

begriffs durch Ramus änderte an dieser Situation

nichts, weil man mit den irrationalen Zahlen weder

zählen noch (numerisch) rechnen kann. Die Aner-

kennung der inationalen Zahlen als vollgnlrrgeZah-

len war erst durch eine neue Zahlauffassung mög-

lich, die auf Simon Stevin (1548-1620) zurück-geht. Stevin fasste Zahlen als ,,Quantitäten" auf. Da-

mit ging er insofern über Ramus hinaus, als er eine

Zahl nicht nur als etwas auffasste, mit dem man zlih-

len und rechnen kann, sondem als etwas, mit dem

man zählen, rechnen und messen kann. Da zum ex-

akten Messen (etwa zu einer genauen Angabe einer

Streckenlänge) die rationalen Zahlen nicht ausrei-

chen, wurden die irrationalen Zahlen mit dazu ge-

nommen.Stevin war ein eifriger Verfechter der damals

noch unübLichen Dezimalschreibweise. Da es in die-

ser Schreibweise möglich ist, rationale Zahlen mit

endlich vielen oder wenigsten mit sich periodisch

wiederholenden Nachkommastellen zu notieren, lag

der Gedanke nahe, auch unendlich viele Nachkom-

mastellen, die niemals periodisch werden, zuzulas-

sen. Damit war eine einheitliche Darstellung der re-

ellen Zahlen, einschließlich der irrationalen Zahlen,

gefunden - ein entscheidender Grund dafür, die irra-

tionalen Zahlen nicht von den Zahlen auszuschlie-

ßen. Tatsächlich verschwanden daraufhin die Aus-

drücke ,,absurd", ,,irregulär" etc. Das wort ,,irratio-nal" behielt nur meh eine technische Bedeutung bei.

Die Tatsache, dass durch die irrationalen Zahlen

bestimmte Lücken auf der Zahlengeraden geschlos-

sen werden, mag auch zu ihrer Anerkennung bei-

getragen haben. Dies bew kte eine bemerkenswer-

te Anderung der intuitiven Vorstellungen. Zahlen

waren nicht mehr nur ,diskret", sondern ,,kontinu-ierlich" veränderbar. In Stevins Worten klinat dies

reicl ich obskur:

Die Zahl ist bei der Größe so etwas wie die Feuchtig-keit beim Wasser Denn wie diese sich durch das Gan-

ze und in jeden Teil des Wasseß erstreckt, so e$tleckt

sich die einer Größe zugeordnete Zahl durch die gan-

ze Größe und in jeden Teil. Und wie einer kontinu-

ierlichen Wassermenge eine kontinuierliche Feuch-

tigkeit entspdcht, so entspdcht einer kontinuierlichen

Größe eine kontinuierliche Zahl.

Stevins Ideen kamen um Jahrhunderte zu früh. Zum

einen gelang es ihm nicht, in Holland die amtliche

Einführung der Dezimalschreibweise zu erwirken.(Das war erst 250 Jahre später in Frankeich nach

der Französischen Revolution möglich.) Zum ande-

ren wurde sein Ans atz, die rcellen Zahlen durch un-

endliche Prozesse zu erfassen, erst 200 Jahre spä-

ter durch Bolzano aufgegriffen. Bis ins 20. Jahrhun-

dert hinein waren die Mathematiker damit beschäf-

tigt, Stevins schwammiger Auffassung der reellen

Zahlen als ,,Quantitäten" greifbarere Konturen zu

verleihen. In Beispiel2 (Kaslen 1, S.7) wird die Ent-

stehung der ination alen Zahlen aus den rationalen

Zahlen schematisch dargestellt.

Entslehünq der negativen Zahlenaüs den posiliven Zahlen

Auch über den Ursprung der negativen Zahlen weiß

man so gut wie nichts. Vielleicht entstanden sie Zihn-

lich wie die Bruchzahlen als formale Ausdrücke bei

der Subtraktion. Wenn man 3 von 6 abziehen darf,

warum sollte man dann nicht auch 6 von 3 abzie-

hen dürfen? Ftir diese Entstehung spricht jedenfalls,

dass die negativen Zahlen bis ins 16. Jahrhundert(2. B. bei Michael Stifel) als Differenzen natürlicher

Zahlen geschrieben wurden, wie 8 - 9, 0 - 2 usw.

Später wurde dafür - 1, -2 usw. geschrieben.

Die Frage, ob hinter den verwendeten Symbolen

Zahlen stehen, wurde zunächst nicht gestellt. Die

Symbole wurden eher unreflektiert gebraucht und

intuitiv mit ziemlicher Sicherheit als nützliche Werk-

zeuge empfunden. So kann es beim Gleichungslö-

sen leicht passieren, dass zwischendurch auf einer

Seite der Gleichung eine negative Zahl auftritt, diejedoch beim Weitenechnen wieder verschwindet

und zu einer positiven Lösung führt. Auch von den

Indern und Chinesen wurden die negativen Zahlen

als Zwischenergebnisse beim Gleichungslösen ak-

zeptiert, jedoch nicht als Endergebnisse. Man for-

mulierte vielmehr die Aufgabenstellungen so, dass

keine negativen Lösungen möglich waren.

Wie bei den Bruchzahlen ging der erste Er-

klärungsversuch für die negativen Zahlen nicht so

vor sich, dass der alte Zahlbegriff gleich aufgege-

ben wurde. Man versuchte, die Situation mit einem

Züsatzbegiff zu retlen, dem Begriff ,,Vorzeichen".Man versah die alten Zahlen einfach zusätzlich mit

einem positiven oder negativen Vorzeichen, formu-

lierte Vorzeichenregeln und konnte damit rechnen.

Auf der intuitiven Ebene ließen sich die unter-

schiedlichen Vorzeichen vielfältig deuten, wobei

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i. . uul Wls flnoel D re tr./ r,DrR BA^/K zu OEI^/EK\t'Eriaiä^/ Y iui ort d*nar ?-

stets eine gewisse Gegensätzlichkeit ausgedrückt

wurde. Die negativen Zahlen unterschieden sich

von den alten (positiven) Zahlen nur durch eine zu-

sätzliche (einen Gegensatz ausdrückende) Deutung:-5 war dasselbe wie +5, nur gedeutet als Schuldstatt Guthaben oder als Zeit vor Christus statt nachChristus oder als Höhe unter dem Meer statt überdem Meer usw. Intuitiv wurden die negativen Zah-

len also nicht als eigenständige Denkobjekte odergar eigenständige Zahlen aufgefasst, sondem als al-

te Zahler' mit einer zusätzlichen Deutung oder ei-nem zusätzlichen Vorzeichen. Dies erleichterte dieAnerkennung negativer Lösungen von Gleichungenals Zahlen. Zum eßten Mal findet man eine solcheAnerkennung bei Leonardo von Pisa (gen. Fibonac-ci). Er deutet eine negative Lösung einer Aufgabe,in der nach Geldbeträgen gefragt wird, als Schuld.

Ahnlich deutet Bhaskara II eine negative Lösung in

einer geometrischen Aufgabe als entgegengesetztgerichtete Strecke. Dabei wiire es ziemlich sinnlosgewesen, die positiven Lösungen als Zahlen zu be-zeichnen, die negativen jedoch nicht.

Intuitiv war man also bereit, die negativen Zah-len als neue Zahlen anzuerkennen. In der offiziellenTheorie hatten sie jedoch keinen Platz, solange manam Zahlbegriff von Simon Stevin festhielt und Zah-len als ,,Quantitäten" auffasste. Die negativen Zahlenkonnten nicht als Quantitäten gedacht werden, dennsie waren ja um mit Leibniz zu sprechen - ,,weni-ger als nichts". Dies ftihrte zu einer bloß bedingtenAnerkennung in der ofliziellen Theorie. Man akzep-tierte die negativen Zahlet zwar als Zahlen, nanntesie aber ,defekte", ,,falsche", ,,flngierte", ,,ungülti-ge", ,,vemeinte", ,,gedichte" (= gedachte) und eben

,,negative" Zahlen.Der Gebrauch der negativen Zahlen auf der of-

fiziellen Ebene stiakte jedoch unaufhaltsam die in-tuitive Auffassung der legativen Zahlen als eigen-stlindige Denkobjekte (neue Zahlen). Die endgütti-ge Anerkennung der negativen Zahlen gelang abererst im 19. Jahrhunden, als man sich von den ver-schiedenen Deutungen der Vorzeichen löste undZahlen allein durch ihre Rechengesetze (also letzt-lich axiomatisch) charakterisierte. Diese Auffassungvon Zahlen geht auf Martin Ohm, Grassmann, Han-kel, Peacock und andere Mathematiker zurück undwar eng mit der Entwicklung der Buchstabenalge-bra verbunden. Zwar unterschied Peacock noch einearithmetische Algebra, in der die Buchstaben aus-schließlich posiüve Zahlen bedeuten. von einer sym-bolischen Algebra, in der die Symbole auch negati-ve (oder komplexe) Zahlen bedeuten können, aberdarin fand er keine Nachfolger. Durch den axioma-tischen Zahlbegriff waren die negativen Zahlen denpositiven Zahlen endgültig gleichberechtigt gewor-den. In der Folgezeit verschwanden auch die Aus-drücke ,,defekt", ,,falsch" usw. Das Wort ,,negativ"

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behielt nur mehr eine technische Bedeutung bei. InBeispiel 3 (Kasten 1, S. 7) ist der beschdebene Ablaufschematisch dargestellt.

Entstehung der komplexen Zahlenaus den reellen Zahlen

Im 16. Jahrhundert tauchten Wuzeln aus negati-ven Zahlen auf. Cardano (1501 - 1676) stellte dieAufgabe, die Zahl 10 in zwei Summanden zu zerle-gen, deren Produkt 30 ist. Die Aufgabe ftihrt auf ei-ne quadratische Gleichung und die formale Anwen-dung der Lösungsformel für solche Gleichungenliefert dieAusdrücke 5 + fi und 5 - fi . Cardanokonnte diesen Ausdrücken keinen Sinn beilegen undnannte sie ,,sophistische" Ausdrücke. Er bemerk-te aber, dass diese Ausdrücke die Probe bestehen,wenn man formal nach den üblichen Rechenregelnrechnet. Denn es gilt:

( 5+ i 5 )+ ( s f i ) = l ound

(5 + J-) . (5 -{-5) =5,-( s) = 30.

Die ,,sophistischen" Ausdrücke waren zwar keineZahlen, verhielten sich aber wie Zahlen.

Die obige Aufgabenstellung konnte man nochals unsilnig bezeichaen. Cardano bemerkte jedoch,

dass man mit den Wurzeln aus negativen Zahlenauch emsthaftere Probleme lösen kann. Er entwi-ckelte eine Formel zur Lösung von kubischen Glei-chungen der Form x3 + px +q = 0. Dabei könnenin bestimmten Fällen während der Rechnung Wur-zeln aus negativen Zahlen auftreten, während sichim Endresultat durchaus reelle Lösungen der Glei-chung ergeben. Ahnlich wie bei den negativetZah-len begann man, die Wurzeln aus negativen Zahlenals Zwischenresultate von Gleichungen zu akzep-tieren, dcht jedoch äls Endresultate. Der Umgangmit diesen Ausdrücken erfolgte eher unreflektiert,sie wurden intuitiv höchstwahscheinlich als nützli-

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Hirrtusl

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che Werkzeuge empfunden. Die Frage, ob sie Zah-

len darstellen, wurde eher nicht gestellt.

Da man mit Wurzeln aus negativen Zahlen je-

doch rechnen kann und insbesondere Gleichungenlösen und damit verschiedene Probleme bewälti-gen kann, war eine Reparatur der ofnziellen Theorienotwendig. Diese geschah auch hier nicht gleich so,dass der Zahlbereich (reelle Zahlen) erweitert wut-de, sondern die Theorie wurde durch eill'en Z\satz-begriff angereichert, der die Situation retten sollte.Dies war ein erweiterter Vorzeichenbegriff, der vonBombelli (1526- 1572) eingefühd wurde. Er füg-te den Vorzeichen ,,plus" (piu) und ,,minus" (meno)

noch zwei weitere Vorzeichen hinzu, die in heutigerNotation +i (piu di meno) und -i (meno di meno)entsprechen. Für diese Vorzeichen formulierte er ei-ne ganze Reihe von Vorzeichenregeln:

Piu uia piu fa piuPiu uia meno fa menoPiu uia piu di meno fa piu

di menoMeno uia piu di meno fa menodi menousw

i mal .t gibt +

+ mal - gibt -

.r mal + i gibt +i

- mal + i gibt -i

Die große Anzahl an Vorzeichenregeln, die man sichhier merken müsste, war wohl der Grund, warumsich dieser Vorschlag nicht durchsetzte. Immerhinkonnte man aber auf diese Weise das Rechnen rnitden ,,sophistischen" Ausdrücken begründen und eswar möglich, sich unter diesen Ausdrücken intuitivdie alten (reellen) Zahlen mit einer zusätzlichen Ei-genschaft (erweitertes Vozeichen) vozustellen.

In der offiziellen Theorie gab es jedoch keinenPlatz für die komplexen Zahlen. Entsprechend demStevinschen Zahlbegriff konnten sie nicht wie diepositiven reellen Zahlen als ,,Quantitäten" gedeu-

tet werden, da es nicht gelang, ftir sie eine Ordnungzu definieren. Aus diesen Gründen war nur eine be-dingte Anerkennung der komplexen Zahlen in derTheorie möglich, die sich ähnlich wie bei den ne-gativen und irrationalen Zahlen darin äußerte, dassman die komplexen Zahlen zw?tr als Zahlen akzep-tierte, aber als ,,sophistische", ,,unmögliche", ,,fal-sche". ..eingebildete". .. imaginäre" Zahlen u.A. be-zeichnete.

Das beständige Umgehen mit den komplexenZahIen in der offrziellen Theorie führte jedoch da-zu, dass die komplexen Zahlen intuitiv immer stdr-ker als eigenständige Objekte bzw. Zahlen empfun-den wurden. Diese Entwicklung wurde vor allemaus drei Quellen gespeist. Die erste Quelle war dasRechren, wodurch die komplexen Zahlen zu Rechen-objekten wurden. Die zweite Quelle waren theore-tische Überlegungen zur Vereinfachung von Sätzenüber Gleichungen. So musste man bei der Lösungs-

formel für quadratische Gleichungen nicht mehr

voraussetzen, dass die Diskriminante größer odergleich null ist, wenn man auch Wuzeln aus negati-ven Zahlen als Zahlen anerkennt. Girard sprach um1600 den Satz aus, dassjede Gleichung so viele Lö-sungen besitzt wie ihr Grad beträgt. Dazu muss mannatürlich die komplexen Lösungen mitzählen undes hätte wenig Sinn gemacht, die reellen Lösungenals Zahlen, die komplexen Lösungen jedoch nicht

als Zahlen anzusehen. Die dritte Quelle war die Ver-anschaulichung der komplexen Zahlen als Punkteoder Pfeile in der Gauss'schen Zahlenebene, die denkomplexen Zahlen viel von ihrem dubiosen Charak-ter genommen hat.

Die endgültige Anerkennung der komplexenZahlen Ä der offiziellen Theorie war wie bei dennegativen Zahlen erst möglich, nachdem der Stevin-sche Zahlbegriff durch den axiomatischen Zahlbe-griff (Ohm und andere) abgelöst wurde. Damit wardie Erweiterung der reellen Zahlen zu den komplex-en Zahlen vollzogen. Die Ausdrücke ,,sophistisch",,,unmöglich" usw. verschwanden wieder. Das Wort

,,imagin?ir" behielt nur mehr eine technische Bedeu-tung bei. In Beispiel 4 (Kaslen 1, S. 7) ist der beschrie-bene Ablauf schematisch dargestellt

Konsequenzenlür den Mathemalikunlerricht

Was war diesen Entwicklangen gemeinsam? Yer-gleicht man die schematischen Darstellungen derverschiedenen Zahlbereichserweiterungen in Kas-ten 1 miteinandet so lässt sich erkennen, dass al-le Zahlbereichserweiterungen nach dem gleichenSchema abgelaufen sind (s. Abb. 2). Der Weg von ei-nem formalen Auftreten der neuen Objekte in dermathematischen Theorie bis hin zu der Anerken-nung als Zahlen fand stets im Wechselspiel mit derweiteren Ausprägung der intuitiven Vorstellungenzu diesen Objekten statt.

Die vorgestellten schematischen Daxstellungender Zahlbereichserweiterungen sind modellhafteDarstellungen des historischen Prozesses. Das be-deutet notgedrungen eine starke Vereinfachung un-ter Weglassüng vieler Details. Noch dazu handeltes sich um eine spezielle Betrachtung unter einemdidaktischen Blickwinkel, was die Hervorhebungmancher Aspekte begünstigt und anderer erschwert.Klarerweise hat es bei den einzelnen Zahlbereichs-erweiterungen auch Unterschiede gegeben, die hiervemachlässigt wurden. Ein Vorteil dieser modell-haften Beschreibung liegt aber darin, dass sie Ge-meinsamkeiten an den einzelnen Zahlbereichser-weiterungsprozessen deutlich hervortreten lässt, dievon didaktischem Interesse sein können. Zweierleiist deutlich zu sehen:

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ZAHLEN FAttEN NICHT V(lM HIMMEL I BASISARTIKEL

Formales Auitretenin der Theorie

MATHEI\4ATISCHETHEORIE

INTUIT'VEVORSTELLUNGEN

Neue Zahlen alsnützliche Werkzeuge,sher unreflektierterGebrauch

Abb. 2: Entstehung neuer Zahlen aus alten Zahlen

1. Zahlbereichserweiterungen waren stets längerandauernde Prozesse, bei denen verschiedeneEtappen durcblaufen wurden.

2. Der Motor dieser Entwickiungsprozesse war ei-ne andauernde Diskrepanz zwischen der offlzi-ellen mathematischen Theorie und den dahinterliegenden intuitiven Vorstellungen, wobei diesebeiden Ebenen verlindemd aufeinander einwirk-ten.

Diese beiden Feststellungen lassen sich meines Er-achtens auch auf die Lernprozesse unserer Schü-lerinnen und Schüler überhagen. Um ein Missver-ständnis gleich auszuräumen, sei betont: Ichbehaup-te nicht, dass die bei den Schülerinnen und Schülemablaufenden Entwicklungsprozesse in allen Detailsden historischen Prozessen gleichen bzw. gleichen

sollten. Ich behaupte auch nicht, dass der Unterrichtin allen Details dem historischen Vorbild folgenmüsse. Ich glaube aber, dass gewisse Schdtte derhistorischen Prozesse auch bei individuellen Lern-prozessen eine Rolle spielen, wenn man das Ziel er-reichen will, dass die Lernenden die jeweils neuenZahlen als eigensttlndige Objekte ihres Denkens bil-den und deren Ex,istenz ohne Vorbehelte anerken-nen.

Es kornmt dabei gar nicht darauf an, alle Schrit-te des historischen Prozesses nachzuspielen. Einzel-ne Schdtte können durchaus ausgelassen oder durchAnderes ersetzt werden. Die Geschichte spielt inerster Linie die Rolle eines Aruegers. Was sinnvol-lerweise aufgegriffen wird, ist bei den einzelnenZahlbereichserweiterungen durchaus unterschied-lich. Zum Beispiel ist die Erkllirung durch einenZusatzbegriff bei den negativen Zahlen ein wichti-ger und kaum zu umgehender Schdtt im Lempro-zess, weil er zu einer Auffassung der negativetzah-len führt, die dem Alltagsverständnis der negativenZahlen entspricht (negative Zahlen als positive Zah-len mit einer zusätzlichen Deutung). Bei den ande-ren Zahlbereichserweiterungen stellt dieser Schritt

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Neue Zahlen alsalte Zahlen miteiner zusätzlichenEigenschaft oderals Beziehungenzwischen alten Zahlen

eher eine historische Sackgasse dar und wird imUntenicht wohl weggelassen werden müssen. Ausder Geschichte ergeben sich jedoch manchmal Hin-weise, die möglicherweise didaktisch relevant sind.Zum Beispiel erscheint es durchaus überlegenswert,Verhältnisse als Vorstufe zu den Bruchzahlen zu be-handeln, was im Unterricht eher selten geschieht(siehe dazu Führer 2004). Das Stadium der beding-ten Anerkennung der neuen Zahlen, das in der Ge-schichte regelmäßig aufgetreten ist, wird im Unter-richt meist unterdrückt. Es wird von Anfang an sogetan, als ob den neuen Zahlen nichts Mysteriösesanhaften würde. Empirische Untersuchungen zei-gen aber, dass die Lernenden dies durchaus anderssehen und die neuen Zahlen häufig mit Skepsis be-trachten, auch wenn sie dies nicht artikulieren. Ichplädiere dafür, einen gewissen Schwebezustald imUntericht durchaus eine Weile aufrecht zu erhalten,bis durch Gewöhnung und Anderes eine vollstlindi-ge Akzeptanz der neuen Zahlen eneicht ist. Empiri-sche Befunde zeigen übrigens, dass etliche Schülerdas gesteckte Ziel nicht erreichen, sondern irgend-wo im Verlauf des Prozesses stecken bleiben.

Dass die Geschichte wertvolle Anregungen fürden Unterricht liefern kann, wird in zwei nachfol-genden Artikeln dieses Heftes detaillierter ausge-ftihrt, nämlich in einem Beitrag zur Entwicklung dernegativen Zahlen (Seite 52) und einem zur Entwick-lung der komplexen Zahlen (Seite 60).

Anmerkung1 Dieses einfache Beschreibungsmodell geht in soinon Grund-

zügen auf Fischbein 1987 zurück.

LiteraturIvlalle, G.r LJntersuchungen zum Zahlbegriff. - tJnveröffentlich-

tes lllanuskript, Universität Klagenfurt 1984.Fischbein, E.r Intuition in Science and Mathematics. - Reidel&

Co.. Dordrecht 1987.Führer, L.: Verhältnisse. - In: mathematik lehren, Heft 123, Frie-

drich Verlag, Seelze 2004. S.46-50.

Erklärung durchZusaubeg ritfe

Bedingte Anerkennungals Zahlen

Anerkennung alsZahlen,Zahlbegritfserweiterung

Neue zahlen alseigene Denkgegenstände

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