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twen Spiritualität Die weltberühmte Christus-Statue, welche seit 1931 über Rio wacht, ist ein Symbol der Erlösung. Themenheft: Sinn

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Spiritualität Themenheft: Sinn Die weltberühmte Christus-Statue, welche seit 1931 über Rio wacht, ist ein Symbol der Erlösung.

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twen

Spiritualität

Die weltberühmte Christus-Statue, welche seit 1931 über Rio wacht, ist ein Symbol der Erlösung.

Themenheft: Sinn

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Vorwort

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Auf dem Titelblatt dieses Magazins ragt der Cristo Redentor (dt. Christus der Erlöser); die berühmte Jesusstatue, die seit 80 Jahren über Rio de Janeiro wacht und der Stadt ein unver-kennbares Branding spendiert. Nach dem Rück-zug der ungeliebten portugiesischen Besatzer als Zeichen für die Unabhängigkeit Brasiliens erbaut, steht Jesus hier als nicht ausschliesslich religiöses Symbol für die Erlösung.

In eben diesem Sinne liefert uns das Titelbild eine bildliche Metapher für das Thema dieses Magazins. Denn es ist der Wunsch nach Erlö-sung, nach Erlösung vom existenziellen Leiden, welcher Spiritualität beziehungsweise ein spiri-tuelles Leben – ob von einer religiös-glaubenden oder philosophisch-suchenden Haltung be-stimmt – überhaupt erst entstehen lässt.

Eine endgültige Antwort auf die Frage, was Spi-ritualität ist, kann und will dieses Magazin aber nicht geben. Sie bleibt eine persönliche Idee, aus der jeder sein eigenes Lebenskonzept her-ausbilden muss, sofern er dies will und ihm die geistigen Voraussetzungen dafür gegeben sind. Und so geben wir uns auf den folgenden Seiten damit zufrieden, die Spiritualität in einigen ihrer Formen abzubilden.

Die Auswahl der Themen erfolgte zufällig und wir beabsichtigen in keiner Weise, für eine spi-rituelle Richtung oder religiöse Bewegung Par-tei zu ergreifen. Die Artikel stellen in dem Sinne auch keine Empfehlungen dar.

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InterviewAndré Comte-Sponville klärt die Frage: Woran glaubt ein Atheist?

Der Weg des RZADer spirituelle Lebenslauf des Gründers des Wu-Tang-Clan.

Die Bektaschi-DerwischeEine islamische Glaubensschule, die das denkende Individuum in den Mittelpunkt stellt.

JahresendflügelfigurenWenn die Staatsmacht die spirituelle Tradition brechen will.

Göttliche GeneDie Neurotheologie sucht das Bedürfnis nach Spiritualität in unseren Genen zu beweisen.

MeditationWie man seine Emotionen zum Guten steuern kann.

Zentrierendes GebetDie Erfahrung von Gottes Gegen-wart in der christlichen Tradition.

Ich missioniere nichtEin Lehrer, der Tätowierer wird, über Krishna-Bewusstsein.

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«Was bleibt, wenn wir uns von unserem Ego lösen?»In unserer komplexen, von Negativnachrichten geprägten Gegenwart haben einfache, heilsversprechende Glaubenslehren Konjunktur. Etablierte Religio-nen, Sekten und Gurus schlagen Kapital aus dieser Sehnsucht. Dagegen be-hauptet André Comte-Sponville in seinem Buch «Woran glaubt ein Atheist?», dass ein spirituell erfülltes Leben auch ohne Glauben an einen allmächtigen Gott, ohne Dogmen und ohne Kirche, möglich ist.

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Studierende, die in der Mittagspau-se Joga-Kurse besuchen; Manager, die sich für einige Tage in ein abge-legenes Kloster zurückziehen; Are-ligiöse, die den Jakobsweg pilgern. Erleben wir zur Zeit eine Rückkehr zur Spiritualität?Spiritualität ist ein grundlegendes Be-dürfnis der Menschen. Keine bekannte Zivilisation ist ohne Spiritualität be-ziehungsweise spirituelle Werte ausge-kommen, weder monotheistische Ge-sellschaften noch philosophisch ge-prägte wie die antik-griechische oder die buddhistische. Politik und Wirt-schaft sind wichtig – eine Zivilisation können sie alleine aber nicht ausma-chen. Von einer momentanen Rückkehr

zur Spiritualität kann also meiner Mei-nung nach nicht die Rede sein. Eher be-hauptet sich der Begriff der Spirituali-tät zu Recht auch wieder ausserhalb re-ligiöser und esoterischer Dimensionen.

Was also ist Spiritualität perDefinition und wie unterscheidetsie sich von der Religion?Was Spiritualität ist? Das Leben des Geistes. Das Wort leiten wir vom Latei-nischen her; von «Spiritus», was über-setzt «Geist» heisst. Religion ist etwas anderes. Sie ist eine Form von Spiritu-alität, denn jede Religion beruht zu-mindest teilweise auf Spiritualität; aber nicht jede Spiritualität ist notwen-dig religiös. Ich gehöre ja auch keiner

Religion an, glaube weder an Gott noch an ein Leben nach dem Tod. Trotzdem habe ich einen Geist, ein funktionie-rendes Gehirn, fähig zu denken, zu zweifeln, zu lieben. Es wäre dumm, mich dieser Fähigkeiten nicht zu be-dienen, nur weil ich Atheist bin. Wieso sollte ich meine Seele kastrieren, nur weil ich nicht an einen allmächtigen Gott glaube?

Gibt es Ihrer Ansicht nacheine «richtige» und «falsche»Spiritualität?Dazu müssten wir schlüssig sein, ob und welchen Gott es gibt. Die ewig grosse Frage, auf die es nur strittige Antworten geben kann. Wie sollen wir also wissen, ob die Spiritualität eines Christen oder die eines Atheisten die bessere, die richtige ist? Nun, ich finde die Frage auch nicht so wichtig. Wir al-le müssen schliesslich einen Weg fin-den, um mit Zweifel, Unsicherheit und Mysterien umzugehen. Und nur weil ich die Existenz Gottes bezweifle, kann ich einem Christen oder Moslem nicht in Abrede stellen, dass er in seinem re-ligiösen Leben mystische Momente der Fülle, Einfachheit, Einheit, Gelassen-heit, Ewigkeit, Annahme und Unab-hängigkeit erfahren hat. Ebenfalls kann der Gottesgläubige einem Bud-dhisten, Taoisten oder Atheisten nicht absprechen, spirituelle Erfahrungen gemacht zu haben. Falsch kann aber die Art sein, wie jemand seine Erfah-rung interpretiert oder welche Erkennt-nis er aus ihr zieht.

Was ist das Ziel eines spirituellenLebens?Ein erfüllteres, freieres Leben. Als Menschen sind wir endlich, vergäng-lich, relativ. Nur durch Spiritualität können wir mit dem Absoluten, dem Unendlichen, der Ewigkeit in Bezie-hung stehen, aus unserem kleinen Ich-Gefängnis ausbrechen und eins mit al-lem werden.

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Der Weg des RZARobert Diggs, weltbekannt unter dem Pseudonym The RZA, ist Grün-der und geistiger Anführer des Wu-Tang-Clan. Sein Buch «The Tao of Wu» ist eine spirituelle Autobiographie, in welcher er die Etappen und Lektionen, die er auf seinem Weg vom Ghetto bis zum Gipfel des inter-nationalen Ruhms erfuhr, beschreibt.

«Auch der längste Marsch beginnt mit dem ersten Schritt.» – Laotse (Chinesischer Philosoph)

Die spirituelle Reise des jungen Robert Fitzgerald Diggs beginnt im New Yorker Siedlungsghetto Staten Island, wo sein älterer Cou-

sin Daddy-O ihn eines Tages mit den Lehren der Five Percent Nation, eine aus der Nation of Islam entstandenen afroameri-kanischen gesellschaftlich-religiösen Bewegung, bekannt macht. Er findet Gefallen an den teils rassistisch geprägten Ideen der «Nation of Gods and Earths», deren Anhänger

nicht an einen unsichtbaren, allmächtigen Gott glauben, sondern an einen göttlichen Geist in jeder schwarzen Person; die Wissen und Beweise anstreben anstelle von Überzeugungen und Theorien. Mit 12 Jahren kann er die 120 Lektionen – 120 Fragen und Antworten, for-muliert vom Five-Percenters-Gründer Clarence 13X – auswendig und beginnt, zuerst nur intuitiv, die Liebe als höchste Stufe der Erkenntnis zu verstehen. Mit der Liebe – so glaubt er – kommt Frieden und Freude in sein Leben.

1: Mit 18 Jahren hat André Comte-Sponville seinen katholischen Glauben abgelegt und sich dem Studium der Philosophie gewidmet. Bis 1998 lehrte er als Professor an der Universität Sorbonne in Paris. Heute ist er freier Buchautor und berät die französische Regierung in Ethik-Fragen.

Ausbrechen aus dem Ich-Gefäng-nis. Der Buddhismus nennt es dieAuflösung des Egos. Was heisst dasgenau, «das Ego auflösen»?Das heisst, für etwas anderes leben als für sich selbst. Für die und in der Wirk-lichkeit. Nun kann Wirklichkeit nicht subjektiv sein. Und demzufolge ist das Ego auch nicht wirklich. Es ist die Ge-samtheit der Illusionen, die es sich über sich selbst macht. Ein jeder von uns ist ein Gefangener seiner selbst, seiner Gewohnheiten, seiner Enttäu-schungen, seiner Rollen, seiner Wider-stände, seiner geistigen Verfassung, seiner Ideologie, seiner Vergangenheit, seiner Ängste, seiner Hoffnungen, sei-nes Urteils. Sich von diesen Illusionen zu befreien heisst, sich von sich selbst zu befreien. Doch was bleibt, wenn wir uns von unserem Ego lösen? Alles; die Wirklichkeit, die so viel interessanter, so viel grösser, so viel abwechslungs-reicher ist.

Sie schreiben, dass sich die Sehn-sucht nach Gott in ihren spirituel-len, absoluten, eben auch Ego-freien Momenten aufgelöst hat. Was haben Sie in diesen Momenten erlebt?Ich habe in diesen Momenten einen veränderten Bewusstseinszustand – wie es Psychologen nennen – erlebt. Oder anders gesagt: eine mystische Er-fahrung gemacht. Mangel, Diskurs, Vergangenheit und Zukunft, Angst und Hoffnung, die Trennung zwischen dem Ich und dem Ganzen waren aufgehoben oder ausgeschaltet. Diese Erfahrungen hatten für mich nichts Religiöses an sich. Es war keine Begegnung mit Gott, dem grossen Anderen, sondern viel-mehr ein Eintauchen in das grosse Ganze. Der Schriftsteller Romain Rol-land nannte es «das ozeanische Ge-fühl, ein Gefühl der unauflöslichen Einheit mit dem grossen Ganzen und der Zugehörigkeit zum Universellen». Die Griechen nannten es ataraxia, die

Abwesenheit der Verwirrungen, die Römer übersetzten es mit pax, was Frieden oder Gelassenheit bedeutet.

Was würden Sie einem jungenMenschen raten, der Sie fragt, wieer seinen spirituellen Weg, seinenFrieden finden kann?Ich würde ihm raten, dass er sich Zeit nehmen soll für Momente der Einsam-keit, Stille und Reglosigkeit. Dass er sich hütet vor Dogmen, Riten und Sek-ten. Dass er Büchern vor Gurus und sei-ner Erfahrung vor Büchern trauen soll.

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«Ein guter Soldat ist nicht gewalttätig. Ein guter Kämpfer ist nichtzornig. Ein guter Gewinner ist nicht rachsüchtig.» – Shaolin-WeisheitIn einer kalten Nacht im Jahre 1986 sehen The RZA und der inzwischen verstor-bene Ol’Dirty Bastard im kleinen Nebensaal eines Pornokinos den Kung-Fu-Film Shaolin and Wu-Tang. Im Film steht Wu-Tang für einen Shaolin-Mönch, der seine Kraft endlich beweisen will, dabei 30 seiner Brüder im Kampf schlägt und deshalb anschliessend aus dem Shaolin-Tempel ausgeschlossen wird. RZA und ODB iden-tifizieren sich sofort mit der Figur. Als junge Afroamerikaner kennen sie das Ge-fühl, sich endlich beweisen zu wollen. Und sie kennen das Gefühl, ausgegrenzt zu werden, keine Chance zu bekommen. Sie reflektieren ihre Ghettoexistenz weiter in Kung-Fu-Filmen und machen die Phi-losophie der Shaolin-Kampfkunst zur spirituellen Vorlage für ihre Hip-Hop-Gruppe, die sie fortan «Wu-Tang Clan» nen-nen. Als Kollektiv und Solokünstler werden sie innerhalb von nur 5 Jahren mehrfach mit Platin ausgezeichnet, ihr Debütalbum «Enter the Wu-Tang (36 Chambers)» wird zum Meilenstein der Hip-Hop-Geschichte.

«Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabeiaber sich selbst verliert.» – JesusEnde der 1990er-Jahre beginnt sich der Clan zu zerstreuen und RZAs Freundin – die Mutter seines ersten Kindes – verlässt ihn nach 6 Jahren Beziehung für einen anderen. Er zieht nach Kalifornien, lässt sich von seinem Ruhm berauschen und verliert sich in seinem Alter Ego «Bobby Digital» – ein Superheld, sonst im Diens-te der Rechtschaffenheit, der gegen seine natürliche Rolle rebelliert, trinkt, raucht, herumhurt und jegliche Verantwortung ablehnt. Erst ist gespalten, verwirrt. Es kommt vor, dass er an einem Tag mit kriminellen Jugendfreunden an der Strassen-ecke Likörbier trinkt, um am nächsten Tag in West Hollywood Havanna-Zigarren mit Leonardo di Caprio zu rauchen. Dann – im Jahr 2000 – stirbt seine Mutter. An jenem Tag verliert Bobby Digital seine Superkräfte und The RZA lernt, dass es Dinge gibt, die er nicht kontrollieren kann. Drei Jahre darauf macht er diese schmerzliche Erfahrung ein weiteres Mal, als sein Cousin und Wu-Tang-Mitbe-gründer Ol’Dirty Bastard den Drogentod stirbt. The RZA zieht sich zurück, lebt für Jahre in einer Depression. Bis er eines Nachts ausgeht. Nicht als The RZA, nicht als Bobby Digital, sondern einfach als Robert Diggs. Und in einem dunklen Club die Liebe seines Lebens erkennt, die Frau, die ihn zurück ins Leben holt; ihm Frie-den und Freude schenkt.

Fotografiere diese Seite via Paperboy und schau dir je einen Musikclip von The RZA beziehungsweise Bobby Digital direkt auf deinem Smartphone an.

2: Robert Diggs alias The RZA berücksich-tigt in seiner persönlichen Spiritualität Aspekte des Buddhismus, Taoismus, Konfuzianismus, Islams und Christentums.

3: 1997 erfindet The RZA sein Alter Ego Bobby Digital. Der «Comic-Held» steht für die verspielte und lasterhafte Seite des Künstlers.

The RZA und der Wu-Tang-ClanAls 1993 das Debütalbum «Enter the Wu-Tang (36 Chambers)» erscheint, wird es im Hip-Hop-Underground wie eine Sensation aufge-

nommen. Für die Mitglieder des Wu-Tang-Clan ist es das ers-te Kapitel eines Fünfjahresplans, den The RZA vorgelegt hat und zu dessen Einhaltung sie sich verpflichtet haben. Ol’Dirty Bastard, GZA, Inspectah Deck, Raekwon, Method Man, Masta Killa, U-God und Gostface Killah erklärten sich bereit, The RZA die alleinige musikalische und geschäftliche Führung des Clans zu überlassen, seinen Anweisungen dis-

zipliniert Folge zu leisten und ihm gute Reime zu lie-fern. Er versprach im Gegenzug, sie innerhalb von fünf Jahren zu Weltstars zu machen. Für die meisten Beteiligten ging dieser Plan auch auf. The RZA selbst gehört inzwischen zu den mächtigsten Figuren im in-ternationalen Hip-Hop-Geschäft, komponiert Film-musik (Ghost Dog, Kill Bill), betätigt sich als Schau-spieler (Coffee and Cigarettes, American Gangster, Due Date) und hat zwei Bücher (Wu-Tang Manual, The Tao of Wu) veröffentlicht.

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«Glücklich ist, wer die Gedanken-finsternis erhellt»Im Fokus der Bektaschi steht die Vereh-rung des islamischen Mystikers Had-schi Bektasch, der im 13. Jahrhundert in Zentralanatolien lebte. Bektaschs Gedanken waren revolutionär und sei-ner Zeit weit voraus. Im Zentrum seiner Philosophie stehen der eigenständig denkende Mensch, die Gemeinschaft und die Nächstenliebe. Viele seiner Grundsätze stimmen mit der allgemei-nen Erklärung der Menschenrechte überein, die erst Jahrhunderte später deklariert wurde. Seine Anhänger sind heute vor allem in Albanien zu finden.

«Betet nicht mit den Knien,sondern mit dem Herzen»Die Bektaschi sind eine der vier grossen Glaubensgemeinschaften Al-baniens. Heute zählen rund zwanzig Prozent der Albaner zu den Bektaschi. Die Bektaschi predigen religiöse Tole-ranz und vereinen in ihrer Religion vielfältiges Gedankengut, unter ande-rem christliche Elemente wie die Beichte oder die Absolution. Wie für al-le mystischen Ausprägungen des Is-lams ist auch für die Bektaschi die in-nere Gottessuche wichtiger als das Be-folgen der Scharia, dem islamischen Gesetz. Die Religion und ihre Vermitt-ler stehen im Dienste der Spiritualität, nicht umgekehrt. Das Gebet ist nicht an feste Tageszeiten gebunden, sondern konzentriert sich auf Abendstunden, in denen sich die Gläubigen der Kontem-plation hingeben. Die Muhabet, die Versammlung in den Zentren der Gläu-bigen, besuchen Männer und Frauen gemeinsam. Es wird diskutiert und auch Raki getrunken. Im traditionellen Semah-Tanz symbolisieren die im Kreis tanzenden Derwische die ewige

Wiederkehr der Schöpfung und bilden symbolisch den Umlauf der Pla-neten um die Sonne nach. Auch sind die Bektaschi-Frauen nie verschleiert. Trotzdem gibt es in der Gemeinschaft eine klare hierarchische Struktur: Die Ausbildung vom einfachen Mitglied über den Derwisch bis hin zum Gross-Dede dauert lange und ist mit vielen re-ligiösen Zeremonien verbunden.

«Es gibt kein Gegeneinandervon Gott und Mensch,sondern ein Miteinanderin tiefer Verbunden-heit»Die Bektaschi verbin-det eine Geschichte geprägt von Vertrei-bung und Flucht. 1826 zerschlug Sul-tan Mahmud II. die Janitscharen, die Elitetruppen des Osmanischen Rei-ches, die zu einer Gefahr für das Impe-rium geworden waren. Die Bektaschi, die sich mit den Janitscharen stark ver-bunden fühlten, wurden daraufhin verfolgt und flüchteten in mehreren Migrationswellen vorwiegend nach Al-banien am Rande des Osmanischen Reichs. Als Kemal Atatürk, Gründer der modernen Türkei, 1925 sämtliche Derwisch-Orden verbot, verlegten die Bektaschi ihr Zentrum definitiv ins al-banische Tirana. Aufgrund ihrer tole-ranten Interpretation des Islams wur-den und werden die Bektaschi vom or-thodoxen Islam abgelehnt und ausge-grenzt. Zahlreiche spirituelle Führer mussten während und nach dem zwei-ten Weltkrieg aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit sterben oder wurden in Gefängnisse oder Arbeitslager gesteckt. Erst 1991, nach dem Zusammenbruch

des stalinistischen Regimes, wurden die Bektaschi neben den christlichen Kirchen und dem sunnitischen Islam eine vom albanischen Staat offiziell an-erkannte Religionsgemeinschaft. In der Türkei sind sie seit dem Verbot in den 1920er-Jahren nicht wieder zugelassen worden, werden von den Behörden aber geduldet.

Die Geschichte der anatolischen Bektaschi-Derwische ist geprägt von Ausgrenzung und Verfolgung. Ein Porträt der spirituell-islamischen Glaubensgemeinschaft, die das denkende Individuum in den Mit-telpunkt ihrer Philosophie stellt.

Orden der tanzendenDerwische

Fotografiere diese Seite via Paperboy und siehe dir eine vierteilige Doku über die Sufis in der Türkei direkt auf deinem Smartphone an.

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In der Geschichte des zwanzigsten Jahr-hunderts findet dieser Konflikt zwi-schen den spirituellen Anschauungs-weisen der Bürger und den Idealen des Staates vor allem in realsozialistischen Nationen statt. Unter dem Einfluss der Schriften Karl Marx’, in welchen die Re-ligion als «Opium fürs Volk» beschrie-ben ist, versuchten sozialistische

Machthaber die Bürger zu nicht-spi-rituell denkenden Menschen zu

erziehen. In der DDR fand sich eine Fülle an solchen Bestre-

bungen:

Anstelle einer spi-rituellen Feier zum

Übergang vom Jugendal-ter ins Erwachsenenalter,

wie das die Firmung oder die Konfirmation sind, wurde die Ju-

gendweihe eingeführt. Die Jugendwei-he war ein Ritual, das den Eintritt in die Erwachsenenwelt darstellte. Die Ju-gendlichen mussten an diesem Fest teil-nehmen, welches nach dem Schulaus-tritt stattfand. Taten sie es nicht, wur-den sie im Erwachsenenalter massiv be-nachteiligt, fanden kaum eine Stelle oder der Zugang zur Uni wurde ihnen erschwert. Die Jugendweihe bestand aus einem Gelöbnis zum sozialistischen Staat und der Übergabe eines Buches mit propagandistischem Inhalt sowie einer Urkunde.

Selbstverständlich feierten die Men-schen auch in der DDR Weihnachten, ein Relikt aus den vor-sozialistischen Zeiten, und die Partei stand vor einem Problem: Wie konnte man das Fest von seinen religiösen Aspekten befreien? Die Abschaffung der Weihnacht war keine Option und so versuchte man, die

Feier zur Geburt Christi als eine allge-meine Feier zu etablieren. Unter ande-rem durch die Einführung neuer Begrif-fe für religiöse Artikel: Auf den Schach-teln der Weihnachtskerzen stand nun «Baumkerzen» geschrieben. Die Engel, die vor den Haustüren angebracht wa-ren, wurden zu Flügelfiguren und das Extrasalär, welches Angestellte zu Weihnachten bekamen, wurde zum Jah-resendgeld.

Doch die meisten dieser Versuche, das Weihnachtsfest zum Jahresend-Event zu machen, scheiterten. Die neue Bezeichnung für Engel wurde verball-hornt und in einer satirischen Zeitung wurde der Begriff der «Jahresendflügel-figuren» eingeführt, als Persiflage der zwanghaften Versuche der Staatsfüh-rung, die Bürger zu einwandfreien Atheisten zu machen.

Heutzutage finden auch wieder Kon-firmationen und Firmungen in den neu-en deutschen Bundesländern statt und die amtierende Bundeskanzlerin Ange-la Merkel, die in der DDR aufwuchs und dort Physik studierte, ist Mitglied der CDU, der christlich-demokratischen Union, die in der ehemaligen DDR in vier von den fünf neuen deutschen Bun-desländern Regierungspartei ist.

Es scheint ein tiefliegendes Bedürf-nis der Menschen zu sein, rituelle Tätig-keiten in Gemeinsamkeit auszuüben und spirituell zu denken. Die staatliche Einflussnahme darauf ist schwierig. Durch Zwang ist zwar erreichbar, dass sich Menschen nicht zu einem Glauben bekennen, doch «eine vom Glauben ge-tragene geistige Orientierung und Le-bensform» – so definiert übrigens das Brockhaus-Lexikon die Spirituali-tät – lässt sich nicht bekämpfen.

Ein jeder Mensch hat das Recht, seinem persönlichen Glauben frei nachzuge-hen, so steht es im Artikel 18 der Menschenrechtserklärung der Vereinten Na-tionen. Dass die Glaubensausübung vom Staat nicht oder nur mit Widerwillen toleriert wurde und man den Bürgern ihre Spiritualität austreiben wollte, zei-gen Beispiele aus der Geschichte.

Wenn Engel zu Jahresend- flügelfiguren werden

4: Während der DDR-Aufbaujahre dachte die politische Führung sogar daran, Weihnachten – das Fest der Besinnung – ganz aus dem Kalender zu streichen.

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Göttliche GeneWeshalb glaubt der Mensch? Gibt es ein Gen, das gewisse Menschen gläubig macht? Ist Gott demzufolge einfach ein Hirngespinst? Der relativ junge Wissen-schaftszweig der Neurotheologie unternimmt den Versuch, religiöse Empfind-samkeiten genetisch nachzuweisen und Spiritualität messbar zu machen. Die Frage, ob es Gott nun gibt oder nicht, kann sie dennoch nicht beantworten.

Das menschliche Gehirn gehört zu den komplexesten Forschungsfeldern der Wissenschaft. Mindestens ebenso kom-plex stellt sich die empirische Erfor-schung Gottes oder anderer übergeord-neter Mächte dar. Die Neurotheologie verbindet die beiden Disziplinen – ver-sucht es zumindest. Die relativ junge Richtung der neurowissenschaftlichen Forschung hat den «Gottesbeweis» zu ihrem Gegenstand gemacht. Ein heikles Unterfangen. Nicht nur sind Glaube und Spiritualität schwer in messbaren Kriterien zu erfassen, auch grenzt die Entmystifizierung des Glaubens und übersinnlicher Erfahrungen in den Au-gen vieler Gläubiger an Gotteslästerung.

Gott sitzt im KopfNichtsdestotrotz widmen sich immer mehr Forscher der Neurotheologie, mit

ganz interessanten Ansätzen und Er-kenntnissen. Wissenschaftler der Uni-versity of Pennsylvania in Philadelphia haben nachgewiesen, dass Buddhisten sowie franziskanische Ordensfrauen im Zustand tiefster Meditation oder im Gebet eine veränderte Aktivität des Gerhirns aufweisen. So scheint das so-genannte «Orientierungsfeld», ein Are-al im Hirn, das für die Selbstwahrneh-mung des Individuums im Raum zu-ständig ist, regelrecht blockiert. Dies führt dazu, dass die gefühlten Grenzen zwischen dem Individuum und der Aussenwelt verwischen, der Mensch sich scheinbar in Endlosigkeit verliert und eine Verschmelzung mit allem Sei-enden erfährt. Vergleichbare neuro-physiologische Prozesse und die damit verbundenen spirituellen Erfahrungen waren an menschlichen Versuchsper-

sonen unter Einfluss halluzinogener Drogen, elektrischer Stimulanz gewis-ser Hirnbereiche oder auch bei Epilep-sie-Patienten zu beobachten.

Ein weiterer Hinweis auf den Zu-sammenhang evolutions-biologischer Entwicklungen und der menschlichen Fähigkeit zur Transzendenz findet sich mitten in unserem Kopf. Der Zirbeldrü-se wird nachgesagt, dass sie heute le-diglich ein Überbleibsel eines grösse-ren Organs sei. Ihre Funktion ist stark mit Instinkten wie der Fortpflanzung, unserem Biorhythmus und der Trans-zendenz, also all dem, was über die sinnliche Erfahrung mit dem Gegen-ständlichen hinausgeht, verbunden. Dimethyltryptamin (DMT) ist ein che-mischer Botenstoff, der in der Zirbel-drüse produziert wird, in besonderem

Bevor sich Matthieu Ricard dem Buddhismus zuwandte, war er Mo-lekularbiologe am Institut Pasteur in Paris. Seit 35 Jahren lebt er im Hi-malaja und praktiziert Meditation. Der wissenschaf tsf reundliche Mönch hat sich von den Neurowis-senschaftlern Tania Singer und Rai-ner Goebel beim Meditieren «in den Kopf schauen lassen». Die Messun-gen haben gezeigt, dass Ricard durch sein jahrelanges mentales

Training anscheinend in der Lage ist, selektiv Hirnstrukturen zu akti-vieren, deren Funktion mit positi-ven Emotionen in Verbindung ge-bracht wird. So sind geübte Medi-tierende vorgeblich fähig, den Zu-stand des inneren Friedens, das Gefühl der Verbundenheit mit al-lem und der Abwesenheit von Ag-gression und Zwanghaftigkeit wil-lentlich zu halten und längerfristig eine tiefe Veränderung der Lebens-

einstellung hin zum Positiven zu bewirken. Obwohl das Meditieren vor allem in fernöstlichen Religio-nen Tradition hat und im Westen unter einem esoterischen Stempel leidet, ist es keinem bestimmten Glaubensmodell unterworfen und kann von jedem praktiziert werden. Voraussetzungen sind der Wille, sich geistig weiterzuentwickeln und Geduld.

Emotionen steuern durch MeditationHirnforscher haben den buddhistischen Mönch Matthieu Ricard einer Magnetresonanztomographie unterzogen und festgestellt, dass er sei-ne Emotionen willentlich beeinflussen kann, indem er durch Meditation bestimmte Hirnstrukturen aktiviert.

Bücher:

• Hirnforschung und Meditation – Ein Dialog. Von Wolf Singer und Matthieu Ricard• Meditation für Skeptiker – Ein Neurowissenschaftler erklärt den Weg zum Selbst. Von Ulrich Ott

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Masse kurz vor dem Tod, bei Nahtoder-fahrungen aber auch bei der Geburt. Man nimmt an, dass es sich bei DMT um die treibende Kraft hinter der spiri-tuellen Transition handelt. Autopsien mumifizierter Ägypter haben ergeben, dass diese über eine weitaus grössere Zirbeldrüse verfügten als der moderne Mensch. Es wird daher vermutet, dass diese in früheren Zeiten den direkten Zugang zu göttlicher Weisheit ermög-licht haben soll. Konkreter wird der amerikanische Genetiker Dean Hamer in seiner Publikation «Das Gottes-Gen». Das Team um Hamer hat heraus-gefunden, dass bestimmte Variationen eines Gens, welches für die Steuerung aller chemischen Botenstoffe im Ge-hirn verantwortlich ist, den Glauben an Gott und die spirituelle Empfänglich-keit begünstigen, räumt aber gleichzei-tig ein, dass auch das Umfeld eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielt.

Mehr Fragen als AntwortenNatürlich ist ein Forschungszweig, der durch die Entmystifizierung und der wissenschaftlich nachweisbaren Er-klärung der Existenz Gottes das «reli-giöse Erleben» infrage stellt, nicht frei von Kritik. So wird den Neurotheolo-gen vor allem aus religiösen Kreisen die Seriosität abgesprochen. Die Krite-rien, mit denen spirituelle Erfahrungen gemessen würden, seien unzurei-chend. Doch wie die verschiedenen Forscher immer wieder betonen, soll die Neurotheologie keinesfalls dazu dienen, die Existenz Gottes als reines Hirngespinst abzutun. Vielmehr wür-den Antworten auf die Fragen gesucht, weshalb Menschen mit Gehirnen aus-gestattet sind, die zu Religiosität befä-higen. Interessant ist auch, welche neu-rologischen Strukturen dafür nötig sind und wie sich diese im Laufe der Zeit entwickelt haben.

Die neurophysiologischen Erkennt-nisse sind ebenso spannend wie viel-deutig. Je nach Weltanschauung und individuellen Glaubenserfahrungen, kann jeder seine eigenen Schlüsse aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen ziehen. Die Frage, ob es nun einen Gott gibt oder nicht, vermag die Forschung auf jeden Fall nicht zu klären, sondern nur, was in unseren Köpfen beim Beten oder Meditieren passiert. Schlussend-lich lässt sich sagen, dass die neuro-theologischen Erkenntnisse sowohl den atheistischen wie auch den religi-ösen Lagern als Beweis dienen – so-wohl für die Existenz Gottes als auch für dessen Inexistenz.

5: Die Zirbeldrüse befindet sich ziemlich genau im Zentrum des Kopfes. Man nennt sie auch «das dritte Auge», «Sitz der Seele» oder «Antenne zu Gott».

6: Dämpft man – zum Beispiel durch Meditation – die Aktivität des Parietallappens, verschwimmen die Grenzen zwischen dem eigenen Körper und der Umgebung.

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Reformation der christlichen MystikIn der abgeschiedenen Kleinstadt Spen-cer, im US-Bundesstaat Massachusetts, liegt das Trappistenkloster St. Joseph, dem ein Gästehaus angeschlossen ist. Dieses beherbergte in den 1970er-Jah-ren zunehmend junge Menschen, wel-che das nahegelegene buddhistische Meditationszentrum besuchten. Der damalige Abt des Klosters, Thomas Ke-ating, stellte im Laufe dieser Begegnun-gen fest, dass diese Meditations-Touris-ten – oft aus der Hippie-Szene kom-mend – zwar Christen waren, von der christlichen Kontemplation aber noch nie gehört hatten. Also entschied sich Keaton, die Kontemplationstechniken in eine neue, modernere Form zu brin-gen und entwickelte daraufhin das Centering Prayer, zu Deutsch: zentrie-rendes Gebet.

Christlich-buddhistischer DialogDie kontemplative und mystische Schule existierte im Christentum lange als eine mehr oder weniger geduldete Randerscheinung. Ihre Vertreter lagen immer wieder mit der mächtigen rö-misch-katholischen Kirche im Clinch, wenn es um das Gottesbild ging. Die Lehrmeinung der Kirche geht davon aus, Gott sei eine Person, zu der man sprechen kann, wohingegen die Mysti-ker sich für Gottes Geist öffnen wollen. In dieser Hinsicht ist die christliche Mystik nicht weit entfernt vom Bud-dhismus, dessen Meditationsanleitun-gen zu einer sinnlich erfahrbaren Ein-heit mit dem Universum, dem Göttli-chen, führen sollen. So scheint es nicht erstaunlich, dass es seit den 1980er-Jahren einen sogenannt christlich-bud-dhistischen Dialog gibt – zumindest auf klösterlicher Ebene.

Erkenntnis durch Gottes GnadeWährend in den fernöstlichen Religio-nen der Suchende durch die Einübung und Praxis von Meditationstechniken mit dem Göttlichen eins werden kön-nen soll, glaubt die christliche Mystik, dass vom Betenden selbst keine Verbin-dung zu Gott hergestellt werden kann. Die Erfahrung von Gottes Gegenwart sei ein Geschenk und komme von Gna-den. Diese Glaubensgrenze hat der Be-nediktinermönch und Zen-Meister Willis Jäger überschritten und wurde von der katholischen Kirche mit einem Lehrverbot belegt. Thomas Keating da-gegen ist mit seinem Centering Prayer innerhalb der christlichen Tradition geblieben. Die ethische Grundlage sei-ner Methode bildet die Bergpredigt von Jesus Christus; die geistige «Wolke des Nichtwissens» – eine populäre Schrift über den mystischen Weg, welche um

Fernöstliche Meditationspraktiken boomen in der abendländischen Stressge-sellschaft. Dabei kennt man auch im Christentum eine Tradition der Kontemp-lation, die versucht, durch eine Haltung der Ruhe und Aufmerksamkeit Gott nahezukommen.

Zentrierendes Gebet

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Wie bist du auf Krishnagekommen?Ich war 15 als ich mir zum ersten Mal Fragen zum Wie und Warum stellte. Die Antworten suchte ich zunächst in Sach- und Geschichtsbüchern. Doch je mehr ich mir an Wissen an-eignete, desto mehr Fragen tauchten auf; desto tiefer meinte ich graben zu müssen. Das ging 10 Jahre so. Bis ich eines Abends auf dem Nachhause-weg eine Bhagavad-Gita («Der Gesang Gottes» – eine zentrale vedische Schrift) auf der Strasse gefunden ha-be. Ich begann darin zu lesen und es war unglaublich – plötzlich lag alles offen vor mir.

Und dann?2003 reiste ich nach Indien, um mei-nen spirituellen Hunger zu stillen und ein paar Tropfen Nektar zu kos-ten. Im Krishna-Bewusstsein wird das spirituelle Wissen unter anderem durch einen spirituellen Meister wei-tergegeben. Ich bin zwar bis heute nicht initiiert, bezeichne mich aber als Krishna-bewusst.

Nach welchen Geboten lebst du? Ich gebe mir Mühe, anderen Men-schen mit Respekt zu begegnen. Ich esse keine tierischen Produkte, rau-che nicht, trinke keinen Alkohol und nehme keine Drogen. Und ich erinne-re mich stetig an Krishna.

Gibt es Gebote, die du nichtbefolgst?Im Moment bin ich eine gefallene Seele. Ich bin abgelenkt von den ma-teriellen Wünschen und der Gier nach Sinnbefriedigung. Ich singe meine Runden auf der Japa nicht, op-fere das Essen nicht, um es Karma-frei zu machen, ich besuche den Tem-pel in Zürich kaum und halte die Fastentage nicht ein. Ausserdem trinke ich zu viel Koffeinhaltige Ge-tränke. Aber ich weiss, ich komme auf den rechten Weg zurück.

Empfiehlst du Krishnaweiter oder lebst du es einfachfür dich?Ich lebe es für mich. Wenn mich je-mand fragt, gebe ich Antwort. Aber ich missioniere nicht. Ich denke, je-der Suchende muss für sich selbst entscheiden, wo für ihn die Wahrheit liegt.

Dein Schlusswort?Die materielle Welt ist nicht das Ein und Alles. Es gibt etwas Grösseres, Schöneres da draussen. Zeit, es zu entdecken.

Die 4 Schritte des

Centering Prayer

1.) Man wähle ein «heiliges Wort», mit

dem man sich am besten die Gegen-wart Gottes bewusst machen kann. Zum Beispiel Jesus, Gott, Christus, Erlöser, Vater, Friede, Geist, Liebe.

2.) Man setze sich mit geschlossenen Augen hin, entspanne und sammle sich. Dann wiederholt man das Wort als Symbol der Anwesenheit Gottes in sich schweigend.

3.) Wenn die Gedanken abgelenkt wer-den, kehre man behutsam zum hei-ligen Wort zurück.

4.) Am Ende der Gebetszeit verweilt man einige Minuten in Stille mit geschlossenen Augen.

Das Gebet der Sammlung sollte zwei-mal täglich mindestens je 20 Minuten praktiziert werden.

1390 in England verfasst wurde und die Gedanken von u. a. Johannes Cassian und Thomas von Aquin, welche in der katholischen Kirche als Heilige verehrt werden, verarbeitet. Das spirituelle Ziel des Centering Prayer besteht darin, sich Gottes Gegenwart und Handeln bewusst zu werden. «Die christliche Überlieferung hat mich zutiefst inspi-riert. Man findet in ihr psychologische Einsichten zum spirituellen Weg sowie Erkenntnisse über das Unterbewusst-sein, wenn auch nicht wortwörtlich», sagt Keating.

Larz Wolvh wohnt in Biel und arbeitet als Schullehrer und Tätowierer. 2003 führte ihn sein spiritueller Hunger nach Indien. Seither lebt er Krishna-bewusst.

7: Fresko der Bergpredigt in der Matthäus-Kirche von Kopenhagen.

8: Larz Wolvh ist bis heute nicht initiiert, bezeichnet sich aber als Krishna-be-wusst.

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«Ich missioniere nicht»

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Das Themenheft «Spiritualität» erscheint als Beilage zum Magazin Twen 4/2011, www.euro26.ch Herausgeber SJAG, Bern Idee / Koordination euro26, Bern Konzept / Gestaltung grossartig, Bern Text / Redaktion Arci Friede, Martina Messerli, Arthur Fink Druck Büchler Grafino AG, Bern Fotos iStockphoto.com Illustration Rodja Galli Disclaimer SJAG übernimmt keine Haftung für redaktionelle Inhalte Dritter. Aussagen und Meinungen von Drittpersonen widerspiegeln nicht zwingend die der SJAG. Der besseren Lesbarkeit halber verwenden wir nur die männliche Form, die sich aber selbstverständlich auch auf alle Leserinnen bezieht.

Das Themenheft Spiritualität wurde ermöglicht durch

Sinnloses zum Thema:

Spirituelle Orte

Stonehenge bedeutet so viel wie «hängen-

de Steine». Die über 5000 Jahre alte Stätte

diente wohl als Himmelskalender.

Machu Picchu wurde im 15. Jh. in den

Anden erbaut. Bei den Inkas waren Berge

Bindeglieder zwischen Erde und Himmel.

Der Karnak-Tempel liegt am Nilufer bei

Luxor. Die altägyptische Kultstätte wurde

dem Reichsgott Amun-Res geweiht.

In der indischen Stadt Amritsar liegt der

von einem See umgebene «Goldene Tempel»,

das spirituelle Zentrum des Sikhismus.

Kyoto, mit seinen 1600 buddhistischen Tem-

peln, 400 Shinto-Schreinen, Palästen und

Gärten, gilt als spirituelles Zentrum Japans.

Der Heilige Berg Athos ist eine orthodoxe

Mönchsrepublik mit 20 Klöstern. Die autono-

me Republik befindet sich in Griechenland.

Die weltbekannten Steinstatuen der Oster-

insel (Rapa Nui) sollen berühmte Häupt-

linge oder verehrte Ahnen darstellen.

Als Jakobsweg wird der Pilgerweg zum an-

geblichen Grab des Apostels Jakobus in San-

tiago de Compostela (Spanien) bezeichnet.

Der Uluru wird von den Aborigines als

heilig angesehen. Bei Sonnenuntergang

leuchtet er hellrot.