2011 schindler alpenraum

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207 Über die Überlagerung der Topografie mit ihrer Vermessung »Das höchste Gebirge Mitteleuropas ist ein extrem gefaltetes Gebilde mit schroffen Wänden, scharfen Spitzen und Graten, grossen Firnpar- tien, sehr langsam fließenden Eisströmen und tief eingeschnittenen Tä- lern« 1 . Die Alpen sind zu komplex geformt, um sie von der Erdoberflä- che von einem einzigen Standpunkt aus zu erfassen. Ohne die für uns selbstverständlich gewordenen verkleinerten Darstellungen des Gelän- des auf Karten ist es nahezu unmöglich, sich innerhalb dieser Topografie zu orientieren. Zu den Landkarten sind in den letzten Jahrzehnten eine ganze Reihe verschiedener elektronischer Verortungsmöglichkeiten ge- kommen, die unsere Wahrnehmung dieser Landschaft nicht minder prä- gen. In der Überlagerung analoger und digitaler Verortungstechniken entstehen virtuelle Räume, die gegenüber der physischen Topographie an Eigenständigkeit gewinnen. Locus horriblis Bis ins 18. Jahrhundert wollte man wenig über die Gestalt der Alpen wissen. Sie wurden als bedrohlicher locus horriblis empfunden, den man von Drachen bevölkert glaubte und nach Möglichkeit mied. Im Alpenraum Christoph Schindler 1 Paul Caminada: Pioniere der Alpentopografie, Zürich 2003, S. 16

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Über die Überlagerung der Topografie mit ihrer Vermessung»Das höchste Gebirge Mitteleuropas ist ein extrem gefaltetes Gebilde mit schroffen Wänden, scharfen Spitzen und Graten, grossen Firnpar-tien, sehr langsam fließenden Eisströmen und tief eingeschnittenen Tä-lern«1. Die Alpen sind zu komplex geformt, um sie von der Erdoberflä-che von einem einzigen Standpunkt aus zu erfassen. Ohne die für uns selbstverständlich gewordenen verkleinerten Darstellungen des Gelän-des auf Karten ist es nahezu unmöglich, sich innerhalb dieser Topografie zu orientieren. Zu den Landkarten sind in den letzten Jahrzehnten eine ganze Reihe verschiedener elektronischer Verortungsmöglichkeiten ge-kommen, die unsere Wahrnehmung dieser Landschaft nicht minder prä-gen. In der Überlagerung analoger und digitaler Verortungstechniken entstehen virtuelle Räume, die gegenüber der physischen Topographie an Eigenständigkeit gewinnen.

Locus horriblisBis ins 18. Jahrhundert wollte man wenig über die Gestalt der Alpen wissen. Sie wurden als bedrohlicher locus horriblis empfunden, den man von Drachen bevölkert glaubte und nach Möglichkeit mied.

Im Alpenraum

Christoph Schindler

1 Paul Caminada: Pioniere der Alpentopografie, Zürich 2003, S. 16

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Zeitgenössische Darstellungen zeigen Berge meist schematisch in der Seitenansicht wie eine Reihung von spitzen Maulwurfshügeln. Einge-tragen ist nur das notwendigste, und das waren neben den Ortschaften die verkehrstechnisch wichtigen Brücken. Einen Eindruck der Wahr-nehmung dieser Zeit vermittelt der Universalgelehrte Johann Jacob Scheuchzer (1672–1733), der sich früh daran traute, die Natur-Historie der Schweiz zu erforschen: »Es hat die jetzige unebene Beschaffenheit der in Berge und Thäler eingetheilten Erde ein ganz unordentliches Aussehen: wer insbesonderheit unsere Schweitzerberge etwann von einem hohen Berg ansihet/dem kommen sie vor als Stücker eines über einen hauffen geworffenen grossen Gebäudes.«2 Wenn wir uns vorstel-len, ohne Karte auf einem Gipfel zu stehen, können wir dies gut nach-vollziehen: Ohne Unterstützung durch maßstäblich verkleinerte Dar-stellungen ist es äußerst schwierig, die komplizierte Gebirgstopografie räumlich zu erfassen.

Locus horriblis: Ausschnitt aus Johann Jacob Scheuchzers Schweizerkarte von 1720, auf der ein feuerspeiender Drache nicht fehlen darf.

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209Im Alpenraum

KompositlandschaftenIm Zuge der romantischen Naturverklärung ab dem 18. Jahrhundert wandelte sich die Wahrnehmung: Die Alpenreisenden wurden nicht mehr in Schrecken versetzt, sondern gerieten beim Anblick der Berge in

-haft und emotional geprägt. Beispielhaft dafür ist Caspar David Fried-richs Darstellung des Watzmann von 1825. Friedrichs Landschaften kann man als Gleichnis angelegte »Kompositlandschaften, im Atelier aus einem Fundus von Naturstudien sorgfältig zusammengefügte Kons-truktionen« verstehen. 3

Dementsprechend war Friedrich nie in den Alpen gewesen. Die Gipfelpartie hatte er einem Aquarell eines Schülers nachempfun-den und im Vordergrund ihm vertraute Felsformationen aus dem Elb-

2 Johann Jacob Scheuchzer: Helvetiae Historia Naturalis oder Natur-Historie des Schweizer-landes, Zürich 1716–1718 (Reprint Zürich 1978), Bd. 1, S. 110

3 Bettina Hausler: Der Berg – Schrecken und Faszination, Zürich 2008, S. 63

Collage aus fremder Handskizze und vertrautem Elbsandstein: Caspar David Friedrich (1774–1840), Der Watzmann, 1824/25, Öl auf Leinwand, 135 × 170 cm

sandsteingebirge ergänzt.

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Vermessung der Schweiz in der Triangulation erster Ordnung (Triangulation primordiale) , Grundlage weiterer Detaillierungen für die Dufourkarte

Die Vermessung der Ober�ächeAls General Guillaume-Henri Dufour (1787–1875) im Zuge der Bil-dung der Schweiz als Nation von 1832 bis 1865 daran arbeitete, eine Aufnahme des vaterländischen Territoriums zu erstellen, wurden Ebe-nen wie Gebirgsregionen nach der Triangulationsmethode gleicherma-ßen mit einem durchgehenden Netz aus Dreiecken überspannt. Durch

-ten deren Koordinaten trigonometrisch bestimmt werden. Aus diesen Punkten wurde das erste zuverlässige geometrische Referenznetz der Schweiz zusammengefügt, welches auch erstmals die Regionen nörd-lich der Alpen mit denen südlich der Alpen verknüpfte. Ein zentrales Büro fügte diese Messdaten zusammen und setzte sie ab 1845 in eine

4. Zum ersten Mal lag eine präzise Darstellung der Alpen mit räumlichen Informationen vor.

4 In der Dufourkarte wurde das Gelände noch mit sogenannten Schattenschraffen dargestellt, die es durch einen simulierten Schattenfall plastisch erscheinen lassen, aber keine exakte Höhen- angabe machen. Höhenkurven wurden erst anschließend bei der Bearbeitung der Siegfriedkarte (1870–1922) in den Maßstäben 1:25’000 und 1:50‘000 eingesetzt.

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ReliefkunstDie Dufourkarte wiederum beflügelte einen Innovationsschub für eine weitere Darstellungstechnik: Die neuen räumlich erfassten Da-ten weckten das Interesse an der tatsächlichen Gestalt der Berge und eigneten sich dazu, das Gelände in verkleinertem Maßstab plastisch als Relief zu modellieren. Das Relief bot gegenüber der Karte zudem die Möglichkeit, den komplizierten geologischen Schichtenaufbau der Alpen dreidimensional zu untersuchen und Theorien über deren Ent-stehung aufzustellen. Daneben standen die großformatigen Reliefs oft im Dienst großer Verkehrsprojekte: So warb ein Relief auf der Pariser Weltausstellung 1889 für die Gotthardbahn und 1900 ein Relief der Jungfraugruppe für die Jungfraubahn.

Trigonometrisches Signal im Gebirge, das von entfernten Triangulationspunkten angepeilt werden kann

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Ein zeitgenössischer Korrespondent beschrieb das Relief der Jung-fraugruppe mit den Worten: »Aber sie erhebt nicht nur plastisch das seelenlose Bild der Kurvenkarte auf dem papiernen, platten und pro-saischen Dasein zu farbigem, greifbarem Leben. Sie lacht nicht bloss als Chromophotographie verlockend, aber auch täuschend von ferne das lüsterne Auge an; die Jungfraugruppe tritt uns nahe und enthüllt die Falten ihres reichgestalteten Massivs und lässt uns viel genauer als die beste Karte das Détail der herrlichen Schweizergegend erkennen im Relief.«5

Von 1897 bis 1900 erstellte Xaver Imfeld zusammen mit bis zu dreißig Personen sein größtes Relief: ein 25 m2 großes und bis zu 1.40 m hohes Modell der Jungfraugruppe im Maßstab 1:2‘500

Mit einem selbst konstruierten Koordinatografen konnte Xaver Imfeld (1853–1909) Höhenpunkte und -linien aus einer Karte in einen beliebigen Maßstab auf einen Kurvenstock übertragen.

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5 Madlena Cavelti Hammer, et al.: Xaver Imfeld, 1853–1909, Meister der Alpentopografie, Sarnen 2006, S. 104

6 In der Wintersaison wird der gesamte Alpenraum zusätzlich mit etwa 14’000 Aufstiegshilfen und 40’000 Pisten mit 12’000 Pistenkilometern erschlossen: vgl. Wolfgang König: Bahnen und Berge – Verkehrstechnik, Tourismus und Naturschutz in den Schweizer Alpen 1870–1939. Frankfurt am Main 2000, S. 216

Bergführer und WanderführerIm Gegenzug wurde auch die physische Topographie der Alpen er-schlossen und formalisiert. Die Naturgelehrten und gipfelvernarrten Engländer des 19. Jahrhunderts bewegten sich bei ihren Projekten auf Viehpfaden und im weglosen Gelände. Zur Orientierung waren sie viel-fach auf die Ortskenntnis lokaler Bergführer angewiesen.

Nach der Eroberung und damit auch Entzauberung der Bergwelt übertrug sich das Bedürfnis nach körperlicher Ertüchtigung und nach Erholung in der freien Natur auf die einheimische Bevölkerung. 1934 wurde in der Schweiz auf nationaler Ebene eine Arbeitsgemeinschaft für Wanderwege eingeführt, die sich für einen einheitlichen Wegwei-sertypus engagierte. Die Dachorganisation Schweizer Wanderwege gibt heute ein Netz von 60’000 Kilometern Gesamtlänge an, auf dem man sich selbstständig über Wegweiser mit Zeit- statt Entfernungsangaben orientieren kann – dies entspricht dem eineinhalbfachen des Erdum-fangs. Vielerorts ist es innerhalb dieses Netzes denkbar, sich ohne Kenntnis der Topographie und ohne Karte allein anhand der Wegweiser und Markierungen zurecht zu finden.6

Maßstäbliche Karten und lokale Wegweiser, dies sollten für ein Jahrhundert die wesentlichen Orientierungshilfe im Gebirge bleiben. Ergänzend zu den Karten entstand eine Vielzahl von Büchern mit spezi-alisierten Zusatzinformationen, aus denen man ganz nach persönlichen Vorlieben und körperlichem Leistungsvermögen auswählen kann, wie etwa Hochtouren-, Kletter-, Wander-, Bike-, Skitouren- oder Schneeschuhführer.

Blue Marble1972 gelang den Astronauten von Apollo 17 ein Foto, das die Vorstel-lung der Menschheit von ihrem Planeten als globales System maß-geblich beeinflusste. Das unter dem Namen Blue Marble bekannt ge-wordene Foto zeigt die gesamte Erdfigur von ihrer voll erleuchteten Tagseite, so wie sie zuvor noch nie ein Mensch gesehen hatte. Etwa

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Die Erde von außen: Mit GPS-Signalen von 4 der 24 Satelliten im Orbit ist eine auf 10 Meter genaue Positionsbestimmung möglich.

zeitgleich machte die elektronische Distanzmessung große Fortschritte. Ab 1973 arbeitete das US-Verteidigungsministerium an einem Naviga-tionssystem, mit dessen Hilfe aus den Signallaufzeiten vom Satelliten zu einem Empfänger jeder Standort auf der Erdoberfläche berechnet können werden sollte – ein Global Positioning System, abgekürzt GPS. Es sollte jedoch fast ein Vierteljahrhundert dauern, bis das GPS 1995 in Betrieb ging. Seit dem 2. Mai 2000 steht es auch für zivile Zwecke zur Verfügung. Aus den Signallaufzeiten vom Satelliten zur Empfangsan-tenne ist ein GPS-Empfänger in der Lage, auf zehn Meter genau seine eigene Position inklusive Höhe innerhalb des globalen Koordinatensy-stems zu bestimmen. Zur Positionsbestimmung muss ein Empfänger die Signale von mindestens vier der insgesamt 24 Satelliten gleichzeitig empfangen können, welche die Erde in einer mittleren Bahnhöhe von 20’200 km umkreisen.

Seitdem sind GPS-Navigationssysteme aus unserem Alltag kaum noch wegzudenken und prägen mit portablen Empfängern unser Ver-halten an uns unbekannten Orten. Inzwischen ist GPS auch in der Navi-gation im Bergsport angekommen7 und verspricht sichere Orientierung bei schlechten Sichtverhältnissen wie bei Dunkelheit oder im Nebel, innerhalb des Wanderwegsnetzes inklusive des aus der Autonavigation bekannte Routing: »Nach 50 Metern biegen Sie rechts ab«, »Sie haben Ihr Ziel erreicht«.

Nicht nur für die Nutzer des touristischen Angebots, sondern auch für dessen Betreiber hat GPS das Bild der Bergwelt gewandelt. Ein ak-tuelles Beispiel ist der 2010 vorgestellte snowMeter, der für Skigebiets-Betreiber eine Schneehöhenmessung mit GPS-Technik anbietet, um den vorhandenen Schnee gleichmäßig verteilen zu können. Durch die

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7 Es sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass die Geschichte der elektronischen Verortung im Gebirge als »relative Verortung« beginnt, d.h. als nicht in einem absoluten globalen Koordi-natensystem verankerte Standortbestimmung: Seit den 1970er Jahren werden sogenannte Lawi-nenverschüttetensuchgeräte (LVS) angeboten, mit denen man innerhalb einer Reichweite von 20 bis 50 Metern Lawinenopfer orten kann, sofern diese ebenfalls mit einem LVS unterwegs sind. Bekannt ist nur die ungefähre Entfernung des Verschütteten (bei neueren Geräten auch die Richtung), nicht aber der Ort in absoluten Koordinaten.

8 Uli Benker: »Wegweiser im Gerätedschungel – Schnelle Entwicklung auf dem GPS-Markt« in: Die Alpen, Nr. 3, 2011, S. 35–45

9 Nina Reetzke: »iWalk ins Grüne« in: Stylepark News & Stories, 23.05.2011

Bestimmung der exakten räumlichen Position eines Pistengerätes kann auf der Grundlage eines digitalen Geländemodells die Schneehöhe unter der linken und rechten Kette in Zentimetergenauigkeit ermittelt werden. Zur Unterstützung des Pistengerätefahrers werden die Schnee-höhen direkt im Pistengerät optisch in Echtzeit angezeigt.

Ob diese Spezialgeräte langfristig mit den universellen und eben-falls GPS-fähigen Smartphones mithalten können, ist fraglich. Der App-Store bietet allerlei Erweiterungen, etwa Messgeräte wie Kom-pass, Alti- und Tachometer, automatische Berggipfelbestimmung, Log-buch oder Alpenblumenlexikon.9

Die ungeheure Stärke des GPS liegt in der Kombination mit Soft-wareangeboten wie dem virtuellen Globus von GoogleEarth und dem Webdienst GoogleMaps, die beide Satelliten- und Luftbilder unter-

GPS-Empfänger neuester Generation bieten sprach-geführte Navigation auf Wanderwegen

Icons von Wander-Apps

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schiedlicher Auflösung mit Geodaten überlagern und beinahe beliebig ergänzt werden können. Das beliebige Springen zwischen den Maßstä-ben, das Charles Eames in den Powers of Ten (1968) erahnte, ist Wirk-lichkeit geworden. Die Darstellung der komplexen Hochgebirgsräume ist so realitätsgetreu geworden, dass man sich nun tatsächlich mit der Maus die Berge empor tasten kann. Seit 2010 lässt sich in GoogleEarth auch durch Wetterdaten erstellter virtueller Regen, Schnee und Sturm beobachten. Bergsteiger-Foren wie hikr.org, in denen die Mitglieder ihre durchgeführten Touren veröffentlichen, sind zum Teil ebenfalls mit den Google-Produkten verknüpft und ergänzen die Satellitenbilder durch von der Erdoberfläche aufgenommene persönliche Fotos und Be-schreibungen. Bedeutet dies, dass das virtuelle Erlebnis die tatsächliche Besteigung ersetzt und nun niemand mehr Berge erklimmt? Ganz im Gegenteil. Mont Blanc, Matterhorn und Grossglockner sind die drei alpinen Publikumsmagneten, die allesamt erst im 19. Jahrhundert be-zwungen werden konnten. Alle drei verzeichnen stetig ansteigende Be-sucherzahlen, die an die Grenze des logistisch möglichen gehen: Am Grossglockner zählt man inzwischen 5’000 Besteigungen pro Jahr, am anspruchsvolleren Matterhorn sind es immerhin noch 3’000 und beim Mont Blanc spricht man von unglaublichen 30’000 Besuchern jährlich. Das Verlangen scheint groß zu sein, das virtuell Erlebte an die phy-sische Welt zu koppeln.

Bereite ich mich also als gelegentlicher Freizeit-Berggänger auf eine Tour vor, kann ich mir den ausgewählten Berg unter den verschie-densten Gesichtspunkten ansehen, diese während der Tour aktualisieren und anschließend mein eigenes Erlebnis dem kollektiven Datenbestand hinzufügen. Wir sind weit weg von Scheuchzers Maulwurfshügeln und Dufours Trigonometrie der Oberfläche. Während wir uns in der Welt bewegen, betrachten wir sie in unserer Vorstellung der Topografie gleichzeitig von außen aus Sicht der Satelliten. Die Alpen sind in einer kaum noch erfassbaren Dichte dokumentiert, die keine Geheimnisse mehr kennt und keine Fragen offen lässt10 – allenfalls die Fragen, wie wir damit umgehen und welche Rolle die reale Topografie eigentlich noch spielt.

Zwischen den KartenDabei dürfen wir nicht vergessen, dass wir uns jederzeit durch ein-faches Ausschalten der verschiedenen Geräte die Illusion von Scheuch-zers Maulwurfshügeln schaffen könnten. Das dies denkbar ist, zeigt

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das tragische Schicksal Chris McCandless’, der 1992 bei dem Versuch verhungerte, einen Sommer lang in Alaska als Jäger und Sammler zu überleben11. McCandless hatte Unterschlupf in einem Buswrack gefun-den, nur etwa 30 Kilometer vom nächsten Highway entfernt. Der 22 -jährige blendete die Zivilisation aus, indem er bewusst darauf verzichtete,

Wildnis-Illusion wurde ihm zum Verhängnis, als er Hilfe benötigte und seinen Hinweg durch Hochwasser abgeschnitten vorfand, aber weder von der Existenz alternativer Routen noch einer nur zehn Kilometer entfernten Schutzhütte wusste. Ironischerweise ist heute McCandless’

Fotos bestens in den digitalen Geländemodellen verankert.Vielversprechender scheint es jedoch, die Verortungsebenen be-

auf diese Weise neue Sichtweisen zu schaffen. Ein Beispiel für einen -

Hilfe eines Stativs über einen Zeitraum von 24 Stunden. Den Stand-

virtuellen dreidimensionalen Modellen und weitgehend unabhängig vom Erschließungsnetz der Wanderwege. Zurück aus dem Gebirge, be-ginnt er wiederum am Bildschirm, die etwa 120 über den Tag entstan-denen digitalen Aufnahmen zu überlagern12. So schafft er Zeitcollagen mit surrealen Lichtsituationen, die er in der Tradition von Friedrichs ro-mantischen »Kompositlandschaften« sieht – und damit zurückgreift auf

10 In absehbarer Zeit könnte dies auch für die anderen Gebirge der Erde zutreffen: Am 13. Mai 2011 meldete das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in einer Pressemitteilung, dass es gelungen wäre, den Mount Everest mithilfe optischer Satellitendaten in einer maximalen

Interessierte die Route von 15 Bergsteigern einer aktuellen Expedition zum höchsten Berg der Erde verfolgen.

11 Jon Krakauer: Into the Wild, New York 1996

12 Anne Bergfeld: »Grauhorulicka – Von der Kunst, Zeit zu fangen« in: Transhelvetica Nr. 4, 2011, S. 20–22

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Surreale Zeitcollage aus 120 innerhalb eines Tages aufgenommenen Digitalfotos: Ivo Kuhn, Grauhorulicka, 2010, Fotopapier auf Aluminium, 273 × 99 cm

Wissenschaft