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Davis Bunn | Janette Oke Die Frau des Zenturio Roman

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Als ihre Familie drastisch an Reichtum und Einfluss verliert, wird Lea zu Pontius Pilatus geschickt, damit er eine strategische Ehe arrangiert. Doch obwohl ihr Verlobter Alban sehr gut aussieht und eine bedeutende Position innehat, kann Lea dem Leben als Frau an der Seite eines Zenturios nichts abgewinnen. Als Kopf der Garnison in der Nähe von Galiläa hat Alban das Ziel, eines Tages im Zentrum der Macht zu sitzen: in Rom. Um sich zu beweisen, übernimmt er eine Aufgabe, die seine Karriere, seinen Glauben und sein Leben in Gefahr bringt. Als sich Lea und Alban durch den Tod eines gewissen Jesus von Nazareth dazu genötigt sehen, nach Antworten zu suchen, verändert das, was sie entdecken, alles ...

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Davis Bunn | Janette OkeDie Frau des Zenturio

Roman

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Über die Autoren

Janette Oke – die „Grande Dame“ der christlichen Ro-manliteratur – hat bereits über 75 Bücher veröffent-licht und das Interesse an ihren Erzählungen ist nach wie vor ungebrochen. Kein Wunder, gelingt es ihr doch immer wieder, tiefgreifende biblische Wahrheiten in warmherzige und spannende Geschichten von Men-schen wie du und ich einzubetten. Davis Bunn schreibt seit 20 Jahren erfolgreich Romane, die bereits in 16 Sprachen übersetzt wurden. Er lehrt heute darüber hinaus an der Universität Oxford.

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Davis Bunn | Janette Oke

Die Frau des ZenturioRoman

Aus dem Amerikanischen von Ilona Mahel

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Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das FSC-zertifizierte Papier Super Snowbright für dieses Buch

liefert Hellefoss AS, Hokksund, Norwegen.

Copyright © 2009 by Davis Bunn and Janette OkeOriginally published in English under the title „The Centurion’s Wife“

by Bethany, a division of Baker Publishing Group,Grand Rapids, Michigan, 49516, USA.

All rights reserved.© 2010 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Asslar,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenDie Bibelverse wurden der „Hoffnung für alle“-Bibel entnommen.

© 1986, 1996, 2002 International Bible Society. Übersetzung, Herausgeber und Verlag: Brunnen Verlag, Basel und Gießen

1. Auflage 2010Bestell-Nr. 816 417

ISBN 978-3-86591-417-0

Umschlaggestaltung: Immanuel Grapentin, Jennifer ParkerUmschlagfoto: Mike Habermann

Satz: Mirjam Kocherscheidt; Gerth Medien GmbHDruck und Verarbeitung: GGP Media Pößneck

Printed in Germany

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1. Kapitel

A.D. 33, Cäsarea, Provinz JudäaSechs Tage vor dem Passahfest

Normalerweise ging Lea den Weg von der Hauptküche zum Badehaus flinken Schrittes. Doch als sie den Mittelmeerwind spürte, der über ihr Gesicht streichelte, und feststellte, dass die Sonne noch nicht unerträglich heiß vom Himmel herab-schien, konnte sie nicht anders, als ihre Schritte zu verlang-samen. Über sich vernahm sie das Schreien der Seevögel und hob den Blick. Wie friedlich alles war. Nur ein paar Wolken hingen wie eine Herde Lämmer am Himmel. Unterhalb des Fußweges schlugen die Wellen sanft gegen die Landzunge. Nicht einmal die ersten Geräusche aus der hinter ihr gelege-nen Palastanlage konnten ihre Begeisterung schmälern.

Lea nahm sich noch einen Moment Zeit, um alles in sich aufzunehmen. Ihr Blick schweifte über das Panorama, das sich ihr bot. Schließlich wandte sie sich von dem weiten blauen Ozean ab und betrachtete die Schönheit der vor ihr liegenden Stadt.

Wie eine königliche Halskette legte sich Cäsarea um die Küste; der Palast von Pontius Pilatus bildete ihr Herzstück. Von ihrer Position auf dem Felsen aus betrachtete Lea den kunstvoll gestalteten Innenhof mit seinen Säulen und Skulp-turen, die geräumigen Bäder mit ihren Keramikfliesen und

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die beeindruckende Marmorfassade des Palastes selbst. Der Weg zu seinem goldenen Doppelportal führte über eine breite, erhabene Treppe. Unter anderen Umständen hätte Lea das alles unglaublich wunderschön gefunden. Obwohl ihr schöne Dinge und ein eleganter Lebensstil nie fremd gewesen waren, hätte sie sich nie träumen lassen, dass sie einmal im Palast des Statthalters von Judäa wohnen würde. Und doch stand sie nun dort und war seltsamerweise ein Teil davon.

Unter anderen Umständen …Zum ersten Mal seit Langem wanderten Leas Gedanken

zu ihrer Großmutter. Was diese wohl jetzt über Lea denken würde, wenn sie sie hier, umgeben von so viel Prunk, sehen könnte? Lea erinnerte sich daran, wie ihre Großmutter ihr als Kind oft übers Gesicht gestreichelt und gesagt hatte: „Große Dinge erwarten dich, meine Kleine.“ Dann hatte sie ihre mit Edelsteinen geschmückte Hand unter dem Seidenumhang auf ihr Herz gelegt, als wolle sie das Versprechen darin versiegeln. Wie sehr sie ihre Großmutter geliebt hatte. Was würde Lea dafür geben, ein paar Stunden mit ihr zu verbrin-gen! Aber diese lebte nun schon seit acht Jahren nicht mehr. Nie mehr würde Lea diese Möglichkeit haben.

Lea seufzte und wandte sich vom Prunk des Palastes ab, um ihre Aufmerksamkeit wieder der so ganz anderen Schönheit des Meeres zu schenken. Die Oberfläche funkelte genauso wie Großmutters Edelsteine. Wie leicht es wäre, an-gesichts einer solchen Morgenstimmung zu vergessen, dass sie hier war, weil sie keine andere Zuflucht hatte.

Weit hinter den wogenden Wellen lag ihr wahres Zuhause. Zwar gab es dort keinen Platz mehr für sie, aber ihr Herz hing noch immer daran. Würde sie Verona jemals wieder-sehen? Und in Rom stand auch ihrer Mutter ein Neuanfang bevor. Allein. Betrübt sehnte sich Lea danach, bei ihr zu sein und ihr, so gut es ging, Liebe und Trost zu schenken. Aber sie blieb gefangen in dem mächtigen Palast eines römischen Präfekten, umgeben von einer Eleganz, die sie nur aus der

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Entfernung bestaunen konnte. Ja, sie war in Reichtum und einer hohen gesellschaftlichen Schicht geboren worden und aufgewachsen – doch hier stand sie nun, nicht viel mehr als eine Sklavin. Bitterkeit erfüllte sie und nahm ihr schier den Atem.

Zumindest hatte sie es leichter als ihre beiden älteren Schwestern. Wenn auch ihr Körper gefangen war, ihr Geist war frei. Sie konnte ihr Leben ihr Eigen nennen, auch wenn es das Leben einer Dienerin war. Viel lieber war sie eine Dienerin im Haus des Pilatus als die Sklavin eines Mannes, den sie weder liebte noch respektierte und der jeden ihrer Schritte überwachte. Ihre Gefangenschaft war viel leichter zu ertragen, dessen war sie sich sicher.

Lea warf nochmals einen sehnsüchtigen Blick auf das weite blaue Meer. Dann straffte sie entschieden ihre Schul-tern und lief in Richtung Badehaus. Ihre erste Pflicht am Morgen bestand darin, frische Handtücher und Gewänder auszulegen und sicherzustellen, dass all die teuren Salben und Seifen in ausreichendem Maße zur Hand waren.

Du musst dir das Gute in der Welt einfach nehmen, hallte eine sanfte, aber feste Stimme in ihrer Erinnerung wider, denn die Welt wird nie mit ausgestreckter Hand auf dich zu-kommen. Die Worte ihres Vaters. Obwohl sie sich noch gut an diesen Rat erinnern konnte, musste sie zugeben, dass diese Philosophie auch ihm keine bleibende Belohnung gebracht hatte.

Am nächsten Morgen verwandelte sich Leas ohnehin schon fordernder Tagesablauf rasch in ein Chaos. Wie jeder andere Diener im Haus des Pilatus fürchtete auch sie die Nachricht, dass Pilatus wieder nach Jerusalem ziehen würde. Für die Diener und Sklaven bedeutete dies, dass ihre alltäglichen Aufgaben, die sie auch so schon von frühmorgens bis spät in die Nacht hinein voll in Anspruch nahmen, um ein Vielfaches vermehrt wurden.

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Lea fiel es schwer, mit dem sich immer weiter vergrö-ßernden Tempo Schritt zu halten. Als sie am Abend zuvor endlich ihr Tagewerk vollendet und sich in den Gemächern der Bediensteten auf ihrem Lager niedergelassen hatte, hatte sie sich noch ganz gut gefühlt. Doch in der Nacht hatte sie sich unruhig hin und her geworfen, und als sie die Hand auf ihre Stirn gelegt hatte, war ihr klar geworden, dass sie Fieber hatte. Noch vor der Dämmerung war sie in die Küche gegan-gen, um sich Wasser zu holen. Danach hatte sie sich wieder schlafen gelegt in der Hoffnung, dass ihre Beschwerden ver-schwinden würden. Aber jetzt schwanden ihre Kräfte rasch, während die Liste ihrer Aufgaben genauso schnell länger wurde, wie die Hitze des Tages zunahm.

Lea war sich bewusst, dass ihrer Herrin, der Gemahlin des Pilatus, auffiel, wie schwerfällig sie an diesem Morgen war. Sie gab sich Mühe, sich schneller zu bewegen und fröhlicher zu sein. Die Probleme einer Dienerin, welche Ursache diese auch immer haben mochten, durften der Herrin nicht den Tag verderben.

Doch von Stunde zu Stunde erkannte Lea immer deutli-cher, dass sie nicht mehr lange würde durchhalten können. Sie hatte das Gefühl, als brenne sie innerlich. Ihr Magen re-bellierte und alle Glieder ihres Körpers schmerzten.

Als sie über ihr Gesicht strich, spürte sie, dass sie glühte. Obwohl sie zum ersten Mal von dem Fieber befallen wurde, das zum Ende jedes Winters das Land heimsuchte, kannte sie die Symptome genau. Sie spürte, wie die Hitze langsam ihre Glieder verbrannte. Ich habe keine Zeit, krank zu sein, stöhnte sie innerlich. Nicht heute!

Einer der Palastwächter bog um die Ecke des Badehau-ses und starrte in ihre Richtung. Obwohl es schon langsam dunkel wurde und der Mann einige Schritte entfernt war, konnte sie erkennen, dass er sie finster anblickte. Hatte er etwas bemerkt? Waren ihre Schritte schleppend? Taumelte sie? Sie zwang sich weiterzugehen. Die Sonne ging schon am westlichen Horizont unter, aber es gab noch viel zu tun. Am

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nächsten Morgen würden alle nach Jerusalem aufbrechen, wo Pontius Pilatus während des jährlichen Passahfestes für Ruhe und Ordnung sorgen würde.

Zögernd ging Lea in Richtung der Bedienstetenquartiere. Wenn sie sich vielleicht einfach ein paar Minuten ausruhen würde … Doch auf halber Strecke hatte sie das Gefühl, als würde sich eine Meereswoge erheben und über sie hinweg-schwappen. Ihr wurde schwarz vor Augen und sie musste sich an der Wand abstützen. Sie wusste nicht einmal mehr genau, wo sie war. Als sie vernahm, dass jemand ihren Namen rief, fehlte ihr die Kraft zu antworten.

Lea hatte keine Angst vor der Dunkelheit, die sie umfing. Im Gegenteil – sie war ihr willkommen.

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2. Kapitel

Neun Tage später

Lea spürte eher, dass man ihren Namen rief, als dass sie es tatsächlich hörte. In der Dunkelheit des frühen Morgens richtete sie sich von ihrer Schlafmatte auf und vernahm ein Flüstern, so leise, dass man es hätte überhören können. Die Stimme war verschwunden, als Lea ganz aus dem Schlaf er-wacht war, aber die Erinnerung daran blieb und mit ihr das sichere Gefühl, dass der Ruf – aus welchem Grund auch im-mer – voller Liebe und Fürsorge gewesen war.

Erst als sie aufstand, bemerkte sie, dass das Fieber ver-schwunden war.

Über eine Woche lang hatte sie in ihrem Quartier gelegen, so schwach, dass sie ohne Hilfe nicht aufstehen konnte. Die Stunden hatte sie gezählt, indem sie den Schatten beob-achtet hatte, der über den gefliesten Boden gewandert war. Jetzt wusch sie ihr Gesicht in einem Becken an der Wand und rollte ihre Matte auf, als sei sie nie krank gewesen. Ihre Stirn fühlte sich wieder kühl an. Sie streckte die Arme aus und schaute verwundert auf ihre Hände, die nun nicht mehr zitterten. Kopfschüttelnd wünschte sie, sich an die Details ihres Traums erinnern zu können. Sie war sicher, dass es eine Männerstimme gewesen war, die so liebevoll ihren Namen gerufen hatte.

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Die Dämmerung war noch nicht mehr als eine bleiche Ah-nung am östlichen Himmel. Das Licht war noch so gedämpft, dass die Wellen, die sich unterhalb des Palastes an den Felsen brachen, nur Schatten waren. Ein paar Sterne trotzten eben-falls noch der aufgehenden Sonne. Zwei Wächter schritten die Grenzmauern des Palastgeländes ab und löschten dabei die Nachtfackeln.

Weil sich fast alle anderen in Jerusalem aufhielten, war es im Palast auffallend still. Wenn Pontius Pilatus anwesend war, brummte das Haus vor Geschäftigkeit, und es herrschte eine angespannte Atmosphäre. Selbst in der Stille der Nacht war der Ort dann von einer erwartungsvollen, manchmal ängstlichen Stimmung geprägt. Es gab kaum einmal einen ruhigen Augenblick, schon gar nicht für eine junge Dienerin wie Lea.

Lea betrat die Küche, wo Dorit bereits auf ihrer Matte saß. Die alte Frau zog es vor, in der Nähe der Feuerstelle zu schla-fen, auch wenn dies bedeutete, dass sie aufstehen musste, so-bald die erste Küchensklavin ihren Arbeitstag begann. Aber selbst jetzt, wo das Mädchen nicht da war, schlief Dorit nie länger als bis zur Morgendämmerung.

Die alte Frau riss vor Überraschung die Augen auf. „Lea, warum bist du nicht im Bett?“

„Ich fühle mich, als sei ich eben aus dem Gefängnis entlas-sen worden.“

„Dir geht es also besser?“„Mehr als das, Dorit. Ich bin wieder gesund.“„Komm, lass mich fühlen, ob dein Fieber auch wirklich ab-

geklungen ist.“ Dorit erhob sich und legte eine altersfleckige Hand auf Leas Stirn. „Ich habe mir große Sorgen um dich gemacht, Kind.“

Leas Antwort wurde vom Ruf eines Palastwächters un-terbrochen, der aus der Richtung der Palasttore kam. Lea richtete sich auf, als sie hörte, dass sich Pferde näherten. Die betagte und von Schlachten ganz raue Stimme, die Antwort gab, erkannte sie sofort.

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„Das ist Avitus!“, stellte sie fest.„Das ist unmöglich.“ Dorit schlurfte schweren Schrittes

zum Tisch und setzte sich. „Er ist fort, als du mit Fieber dar-niederlagst. Er ist sicher noch mit dem Statthalter in Jerusa-lem.“

Lea wollte keine Zeit mit Diskutieren vergeuden. Sie beugte sich zum Küchenfeuer hinab, blies in die Glut, bis diese angefacht war, und legte dann Anmachholz auf.

Schwere Schritte waren von der Terrasse her zu hören, dann vernahm sie hinter sich Avitus’ Stimme: „Du bist also wach. Gut! Ich brauche dringend ein Bad.“ Die Hauswachen des Pilatus waren ganz unterschiedliche Charaktere. Avitus war Leas Liebling – ein grauhaariger Veteran, der schon bei den frühen Feldzügen des Präfekten im Norden von Gallien dabei gewesen war. Anders als manche der übrigen Soldaten musste Avitus nichts mehr beweisen.

„Das Feuer brennt noch nicht, das heißt, dass du noch ein Weilchen auf dein Bad warten musst.“ Lea wandte sich um und lächelte zur Begrüßung. „Aber es ist trotzdem schön, dich zu sehen.“

Der stämmige Mann grummelte vor sich hin und setzte sich dann mit einem Seufzer gegenüber von Dorit auf einen Hocker. Die Küche war ein riesiger Raum, ganze vierzig Fuß lang und fast genauso breit. Von der Ostseite gingen zwei Vorratsräume ab. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch, der groß genug war, dass alle Diener und Sklaven gleichzei-tig daran Platz fanden. Den Palastwachen war es untersagt, die Küche oder den Rest des Hauses zu betreten, abgesehen von gewissen vertrauenswürdigen Ausnahmen, zu denen auch Avitus gehörte. Die anderen aßen im Haus der Wachen und drängten die armen Sklaven, ihnen das Essen zu brin-gen.

Avitus stöhnte erneut, als er seine Beine ausstreckte. „Ich bin die ganze Nacht und den ganzen gestrigen Tag hindurch geritten. Man hat mich als Vorhut aus Jerusalem geschickt, als Pilatus aufbrach.“

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Dorit war überrascht. „Der Herr ist schon wieder auf dem Weg hierher?“ Mühsam versuchte sie aufzustehen.

„Bleib sitzen“, befahl Lea, nahm ein Fladenbrot und brachte es zusammen mit Oliven, Ziegenkäse und getrock-neten Früchten an den Tisch. Ein Soldatenfrühstück. „Würde Avitus hier sitzen, wenn die Ankunft des Statthalters unmit-telbar bevorstünde?“

Avitus grunzte dankbar und musterte ihr Gesicht. „Geht es dir wieder gut?“

„Oh ja.“ Lea füllte einen Kupferkessel mit Wasser und hängte diesen über die Feuerstelle. Sie zögerte, doch dann fügte sie, den Blick in die offenen Flammen gerichtet, hinzu: „Heute Morgen habe ich im Traum eine Stimme gehört. Je-mand rief meinen Namen – ich glaube, es war ein Mann. Und als ich aufwachte, war mein Fieber verschwunden. Sogar mehr als das: Es ist so, als wäre ich nie krank gewesen.“

Sie spürte Avitus’ Blick auf sich ruhen, doch er schwieg.Lea warf wortlos noch mehr Holz ins Feuer. Selbst wenn

er mehr hätte erfahren wollen, hätte sie ihm keine weiteren Erklärungen geben können.

Alle fürchteten die aufwendigen und schwierigen Wechsel von einem Palast zum anderen. Der Präfekt verabscheute Jerusalem und seine üble Laune vergiftete vor jedem Umzug die Stimmung im gesamten Haushalt. Lea täuschte nie eine Erkrankung vor, so wie viele andere es taten, in der Hoffnung, unter den wenigen zu sein, die zurückgelassen wurden, da-mit sie sich um den Palast am Meer kümmerten – und so die Meeresbrise und die ruhigen Tage genießen konnten. Nein, ihre Krankheit war echt gewesen. Erschreckend echt. In ihren wenigen lichten Momenten hatte sie andere Diener wispern hören, dass sie wohl nicht mehr leben würde, wenn sie aus Jerusalem zurückkehrten.

Avitus sagte zwischen ein paar Bissen: „Die Herrin hat sich große Sorgen um dich gemacht. Zumindest, bis sie selbst krank geworden ist.“ Lea wandte ihm ihre ganze Aufmerk-samkeit zu. „Sie hat schlecht geträumt. Seit der ersten Nacht

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in Jerusalem wurde sie von furchtbaren Albträumen gequält. Ihre Schreie haben das gesamte Haus geweckt.“

Lea murmelte: „Ich sollte zu ihr gehen.“„Sie wird zu dir kommen, Mädchen. Sie werden alle zurück

sein, ehe die Nacht hereinbricht. Ich bin früher gekommen, um dich vorzuwarnen –“

„Pilatus begleitet also seine Frau?“, fragte Dorit schnell.„Er ist die ganze Zeit nicht von ihrer Seite gewichen.“„Ihr Zustand hat sich doch sicher gebessert. Sonst könnte

sie niemals diese Reise auf sich nehmen.“„Nicht, als ich sie zuletzt sah.“ Avitus steckte sich eine Olive

in den Mund. „Gibt es auch Fleisch?“„Ich bin sicher, es ist noch gepökeltes Schweinefleisch von

unserem gestrigen Nachtmahl übrig“, entgegnete Dorit.„Und Cervisia“, fügte Avitus hinzu. „Wie gesagt, ich bin die

ganze Nacht durchgeritten und habe schrecklichen Durst.“Dorit löste den Schlüsselbund von ihrem Gürtel und gab

ihn Lea. Diese ging zu der verschlossenen Vorratskammer, fand den passenden Schlüssel und öffnete die Tür. Sie wan-derte an den Regalen voller Gold- und Alabastergefäße, die nur für die Tafel des Pilatus bestimmt waren, und den Am-phoren voller Honig und edler Weine entlang. Dann hielt sie vor den Regalen mit Käse und Pökelfleisch inne. Sie nahm eine Platte mit Schweinefleisch aus dem Regal, trug diese zum Tisch und ging dann zurück, um einen Becher aus dem Steinkrug zu befüllen.

Als sie die Tür wieder verschlossen und Avitus das Cervi-sia gebracht hatte, hob er den Becher und leerte ihn in einem einzigen langen Zug. Dann seufzte er zufrieden, setzte das leere Gefäß ab und meinte: „Es hat Ärger gegeben wegen dieses Propheten.“

Keine der beiden Frauen erkundigte sich, von wem Avitus sprach. Stattdessen wollte Dorit wissen: „Hat es einen Auf-stand gegeben?“

„Würde ich hier sitzen, wenn es einen gegeben hätte?“ Avi-tus starrte gedankenverloren auf seinen Teller, auf den Lea

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gerade das Schweinefleisch legte. „Dieses Land bringt nichts als Ärger hervor. Und dieser Prophet erst recht.“ Er steckte sich einen Bissen in den Mund und schüttelte den Kopf.

Lea ließ je eine Prise getrockneter Blätter in drei Krüge fallen, goss diese mit heißem Wasser auf und stellte dann einen Krug vor Dorit ab. Avitus nahm seinen eigenen, schob den Teller von sich und sagte: „Der Sanhedrin, der hohe jüdi-sche Rat, hat Pilatus damit gedroht, dass es einen Aufstand geben würde. Sie sagten, dass dieser Rabbi, dieser Jesus, ihren Tempel und ihren Gott lästert. Und dass er sich selbst zum König der Judäer erklärt hat.“

„Schlimmer als Herodes wird er wohl kaum sein“, entgeg-nete Dorit missmutig.

„Pilatus hat den Propheten verhört. Ich war bei der Ver-handlung dabei, wenn man es überhaupt so nennen kann. Das Ganze war seltsam und ich habe schon einiges erlebt!“

„Erzähl uns, was passiert ist!“, drängte Dorit ihn.„Es war ganz eindeutig, dass dieser Mann unschuldig war.

Pilatus wusste es, ich wusste es. Die Meute, die in der Festung Antonia stationiert ist, hatte ihren Spaß mit ihm getrieben. Auf Befehl von Pilatus wurde er zwar gegeißelt, aber der Rat verlangte dennoch seinen Tod.“

„Wie kann das sein? Was haben sie dann mit ihm getan?“ Lea wusste selbst nicht, warum es sie überhaupt kümmerte.

„Sicher haben sie ihn gekreuzigt.“ Dorit verzog das Gesicht. „Bin ich froh, dass ich das nicht miterleben musste!“

„Du hast nie wahrere Worte gesprochen.“ Avitus’ Gesicht war von Jahrzehnten in Wind, Sonne, Wetter und Krieg ge-gerbt, aber etwas, das über diese Naturgewalten hinausging, hatte ihn offenbar noch stärker altern lassen, seit er Cäsarea verlassen hatte. Er starrte in die Ferne zur aufgehenden Sonne. Dann senkte er seine Stimme, sodass die beiden Frauen sich nach vorne beugen mussten, um seine nächsten Worte zu ver-stehen: „Ein Sturm kam auf, als er starb, und die Erde bebte.“ Er blickte auf seine gefalteten Hände hinab. „Ich hatte Angst.“

„Du?“

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„Ich war wie gelähmt vor Angst. Ich dachte, die Götter würden über uns herfallen. Ich bin noch immer nicht darüber hinweg. Es war, als hätte die Welt alle Hoffnung verloren.“

„Aber jetzt ist er tot und der Ärger ist vorbei“, sagte Dorit, die sehr pragmatisch veranlagt war.

„Ich hoffe, du hast recht.“ Der glasige Blick des Soldaten und seine eingefallene Haltung ließen Lea erschaudern, als hätte sie die Ereignisse selbst miterlebt. Er schüttelte den Kopf und öffnete seine Hände, sodass seine Handflächen nach oben zeigten. „Aber als ich unterwegs war und nur der Mond mir Licht spendete, hatte ich das Gefühl, dass wir die-sen Ärger nicht loswerden.“

Lea betrat Proculas Schlafgemach, öffnete die Fenster, um die kühle Seeluft hereinzulassen, und legte in Vorbereitung auf die Ankunft ihrer Herrin ein frisches Bettlaken heraus. Mit dem Schlüssel an ihrem Gürtel schloss sie den Wandschrank auf und zählte sechs Golddinare ab. Den Betrag verzeichnete sie auf einer Pergamentrolle, die sie dort abgelegt hatte, nachdem die Frau des Statthalters sie mit der Verwaltung der Hauskasse betraut hatte. Kein Diener war jemals zuvor dafür verantwortlich gewesen, über die Einnahmen und Ausgaben Buch zu führen. Das wusste sie, weil Dorit vor ihr die Haus-kasse verwaltet hatte, obwohl sie weder lesen noch schrei-ben konnte. Und die Person vor Dorit konnte es auch nicht getan haben, denn dieser Diener war ein Dieb gewesen, der bei jeder Transaktion Geld abzweigte und behauptete, es sei in Wahrheit in die Taschen des Steuereintreibers gewandert.

Lea wusste nicht, ob Procula die Pergamentrolle jemals öffnete, denn darüber wurde nie ein Wort verloren. Aber Lea konnte es sich ohnehin nicht leisten, eine Anklage zu riskie-ren, selbst wenn diese sich als falsch herausstellen würde. Ihr Vater war von unehrlichen Geschäftspartnern des Diebstahls bezichtigt worden und hatte dann durch seinen Bankrott jegliches Ansehen verloren. Lea wollte mit aller Macht ver-

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hindern, dass ihr ein ähnlicher Vorwurf gemacht würde. Sie nahm sich einen Augenblick Zeit, um die Edelsteine und das Geld zu zählen, verglich die Ergebnisse dann mit ihren Auf-stellungen, schloss die Schatulle und legte diese wieder in den Wandschrank.

Als sie den Palast verließ, verfolgten die Palastwächter sie mit ihren Blicken, sagten aber nichts. Sie benahmen sich den Sklavenmädchen gegenüber oft sehr derb, vor allem ge-genüber jenen, die nicht schon an einen von ihnen vergeben waren. Aber der gesamte Haushalt betrachtete Lea als Nichte des Pilatus, was zugleich wahr und falsch war. Ihr Großvater war ein enger Vertrauter von Pilatus’ Vater gewesen. Leas Vater war wiederum als Erwachsener in die Sippe hinein-adoptiert worden – ein Zeichen des Wohlwollens, das es in gewissen Kreisen der römischen Gesellschaft häufiger gab. Aber dann war das finanzielle Unglück gekommen. Drei Jahre lang hatte man in der Provinz Judäa wieder und wieder über den Ehrverlust von Leas Vater gesprochen. Und jeden Tag hatte Lea sich gewünscht, sie könnte die bittere Wahrheit leugnen.

Für eine Stadt ihrer Größe war der Markt in Cäsarea sehr groß. Händler kamen selbst aus so entfernten Gegenden wie Arabien, Alexandria und sogar Gallien. Die Kaufleute boten an Marktständen rund um den Hauptplatz die feinsten Wa-ren an. Die gesamte Verwaltung Cäsareas war römisch und der größte Teil der Bevölkerung kam ursprünglich nicht aus der Region. Selbst die judäischen Einwohner waren stolz darauf, sich „Römer“ nennen zu können, und sprachen Grie-chisch anstelle von Aramäisch, das in den übrigen Regionen von Judäa gesprochen wurde.

Lea eilte über den Markt und bestellte und handelte vol-ler Ungeduld. Sie erzielte gewöhnlich die bestmöglichen Preise, aber heute war es wichtiger, Zeit zu sparen als ein paar Dinare. Es gehörte zu ihren Aufgaben, aus den Zutaten, die es frisch zu kaufen gab – Waldpilze, Räucheraal oder fangfrischen Rotbarsch –, das Nachtmahl zuzubereiten. Als

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Vorspeise würde es eine Suppe aus Sauerampfer und Salbei geben, beschloss sie, und um das Mahl abzurunden, würde sie die ersten Früchte der Saison mit wildem Honig und Zimt ser-vieren. An jedem Stand gab sie Anweisungen, die Bestellun-gen innerhalb der nächsten Stunde in den Palast zu liefern. Zu guter Letzt kaufte sie ein Päckchen übelriechender Pollen, der unverschämt teuer war, wie Teer aussah und noch schlimmer schmeckte. Aber es war die einzige Arznei, die Procula half, wenn sie unter Kopfschmerzen litt. Albträume bedeuteten schlaflose Nächte, und wenn die Herrin nicht gut schlief, kam es vor, dass die Schmerzanfälle noch schlimmer wurden.

Obwohl Lea hart verhandelte, hatte sie sich mit manchen Standbesitzern angefreundet. Mit diesen Händlern sprach sie nun über den Tod des Propheten und spekulierte über die Ge-fahr eines Aufstandes. Obgleich sie nicht lange genug bleiben konnte, um mehr zu erfahren, hatte sie bei einem der Händler das Gerücht aufgeschnappt, dass sogar Herodes Antipas aus Jerusalem nach Cäsarea kommen würde. Dass Herodes Jeru-salem auf dem Höhepunkt der Frühlingsfestivitäten verließ, war noch nie vorgekommen. Während der Händler die Mün-zen in Leas Hand zählte, dachte er laut darüber nach, ob die Tatsache, dass sowohl Herodes als auch Pilatus so plötzlich aus Jerusalem abreisten, etwas mit der Kreuzigung des Pro-pheten zu tun haben könnte.

Um derartige Gerüchte und Spekulationen zu wissen war für Diener im Haus eines mächtigen Mannes von enormer Bedeutung. Daher verstaute Lea diese Informationen zu-sammen mit den übrig gebliebenen Münzen und kehrte zum Palast zurück.

Sie war überrascht, Dorit und Avitus immer noch am Kü-chentisch sitzend vorzufinden, und beschloss, die Gelegen-heit zu nutzen und den Soldaten um Hilfe zu bitten. Lea ging zu einem der Holzfässer, fischte eine Gurke und eine Paprika aus der Lake aus Meersalz und schnitt beide in dünne Schei-ben. Dann legte sie noch etwas Fladenbrot dazu und stellte das Essen vor Avitus. „Möchtest du noch mehr?“

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Avitus starrte erst sie und dann seinen Teller an. „Du hast dich hier ja schon gut eingelebt.“

„Und Freunde gefunden.“„Viele hatten erwartet, dass du deine Aufgaben an andere

Diener delegieren würdest.“„Du auch?“Avitus nickte langsam. „Allerdings. Als ich hörte, dass du

kommst, dachte ich: ,Das wird Ärger geben.‘“„Und du irrst dich selten.“ Sie lächelte kurz. „Könntest du

nicht einen der Wächter bitten, das Feuer anzufachen?“„Sie hassen es, solche Sklavenarbeiten verrichten zu müs-

sen.“„Aber sonst werden die Bäder nicht rechtzeitig fertig sein.

Du weißt doch, dass Pilatus nach einem Bad verlangen wird, sobald er hier ankommt. Und ich muss mich um das Abendes-sen kümmern und die Gemächer des Präfekten herrichten.“

„Mit den Gemächern kann ich dir helfen“, bot Dorit an.„Nein, du hast hier genug zu tun.“ Lea wandte sich wieder

an Avitus. „Befiehl ihnen die Aufgabe nicht – das werden sie nur als Strafe verstehen. Such dir einen Freiwilligen und ich werde ihm heute Abend aus Pilatus’ persönlichen Vorräten zu essen geben.“

„Wenn das so ist, dann melde ich mich doch freiwillig!“Genau das hatte sie gehofft. Als Lea sich bei ihm bedankte

und sich ihrer nächsten Aufgabe zuwandte, sagte Dorit: „Setz dich einen Moment zu uns, Kind.“

„Aber ich habe so viele Dinge zu erledigen und viel zu wenig Zeit!“ Doch es war etwas an Dorits Miene, das sie dazu brachte, sich hinzusetzen. „Worum geht es?“

„Ich habe gehört, wie Pilatus von dir gesprochen hat“, setzte Avitus an. Er brachte es nicht fertig, ihr in die Augen zu sehen. „Es stimmt, was man sich erzählt.“

Lea war plötzlich wie versteinert. Seit Wochen sprachen die Diener von einem Hauptmann, der eine der abgelegens-ten Garnisonen der Provinz befehligte. Es kursierte das Ge-rücht, dieser Mann namens Alban habe sich über einen be-

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freundeten Gesandten an Pilatus gewandt. Der Hauptmann hatte offenbar um Leas Hand angehalten. Wie er überhaupt von ihr erfahren hatte, war ein Rätsel, denn Lea suchte die Bekanntschaft von Männern nicht. Sie hatte sich alle Mühe gegeben, das Gerede zu ignorieren, denn sie hoffte inständig, ihr Leben lang unverheiratet zu bleiben.

„Pilatus hat sich mit einigen seiner Offiziere beraten. Sie alle wussten nur Gutes über den Hauptmann zu berichten“, fuhr Avitus fort.

„Wenn Pilatus wünscht, dass du den Hauptmann heiratest, Kind, dann wirst du genau das tun.“ Dorit griff nach Leas zit-ternder Hand. „Die, die ihn gesehen haben, sagen, dass dieser Alban außergewöhnlich gut aussehend ist –“

„Was kümmert es mich, wie er aussieht? Gutes Aussehen führt nur zu Stolz und Arroganz“, erwiderte Lea mit bebender Stimme. „Und wer sagt so etwas über ihn? Die Dienerinnen, deren Herzen er gebrochen hat? Freudenhausbesitzer? Ta-vernenwirte?“

„Soldaten, die mit ihm im Krieg waren“, sagte Avitus ruhig. „Und Männer, die unter ihm gedient haben. Sie behaupten, dass er ein gerechter Mann sei.“

„Ich habe dir ja gesagt, dass der Plan ihr nicht gefallen würde“, raunte Dorit Avitus zu.

Er zuckte die Schultern. „Ein Soldat befolgt die Befehle seiner Offiziere.“

„Ich bin aber kein Soldat!“, empörte sich Lea.Dorit ergriff erneut ihre Hand. „Avitus spricht als Freund

zu dir, Kind. Wie willst du dich vorbereiten, wenn du nicht hören willst, was er zu sagen hat?“

„Es ist nicht nötig, sich auf irgendetwas vorzubereiten, denn es wird nicht …“ Aber alles Feuer in ihr war erloschen, und sie ließ die Schultern hängen, als wollte sie sich erge-ben.

„Warum hat deine Familie dich zu Pilatus geschickt?“, fragte Avitus sanft. „Dachtest du, du könntest dich für den Rest deines Lebens bei der Dienerschaft verstecken?“

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Dorit legte ihre rechte Hand unter Leas Kinn und drehte das Gesicht der jungen Frau in ihre Richtung. „Du musst gut zuhören.“

„Ich habe Pilatus schon gedient, als er noch mit einem Kinderschwert spielte“, fuhr Avitus fort. „Ich kenne ihn so gut wie nur wenige andere. Dieser Mann verschenkt nichts, ohne etwas dafür zu bekommen. Er wird dich für einen Vorteil eintauschen.“

Lea war so wütend, dass sie nicht sprechen konnte. Das Wort „eintauschen“ schwirrte ihr durch den Kopf. Ihre letz-ten Monate zu Hause waren davon überschattet gewesen, dass ihre beiden älteren Schwestern bettelten und weinten und flehten, nicht mit Männern verheiratet zu werden, die sie nicht liebten. Doch letztlich war eine von ihnen in das Bett eines Mannes geschickt worden, der elf Jahre älter war als Leas eigener Vater. Die andere Schwester war mit einem Mann verheiratet worden, der so fett war, dass er seine Füße seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte.

„Ich habe herauszufinden versucht, was dieser Haupt-mann Pilatus anzubieten hat, doch außer Beute ist mir nichts eingefallen“, sagte Avitus.

Dorit wandte ein: „Pilatus ist doch schon so reich!“„Ein Mann wie Pilatus kann niemals genug bekommen.

Ich glaube, der einzige Grund, warum die Angelegenheit nicht viel schneller vonstattengeht, ist der, dass Pilatus Zeit braucht, um zu entscheiden, was er diesem Mann abknöpfen kann.“ Avitus fuhr in guter Soldatenmanier einfach fort: „An dem Tag, an dem wir Jerusalem verließen, hat Pilatus seinen Berater Linux auf der östlichen Route nach Galiläa geschickt. Ich nehme an, Pilatus möchte in Erfahrung bringen, was dein Zukünftiger aufbieten wird, um dich für sich zu gewinnen. Und ich schätze, es wird etwas sein, das mit dem gekreuzig-ten Propheten zu tun hat.“

Lea schlug die Hände vor ihr Gesicht.„Ob es dir gefällt oder nicht: Bald schlägt deine Stunde.“

Avitus lehnte sich so weit vor, dass sie ihm in die Augen sehen

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musste. „Wir alle wissen, dass dein Vater alles verloren hat und völlig mittellos starb.“

„Er wurde … er wurde betrogen.“ Das letzte Wort kam mit einem Schluchzen heraus.

Der Soldat wischte diesen Einwand mit einer Handbewe-gung beiseite. „Er ist tot und seine Schulden sind noch nicht bezahlt. Und wo ist deine Mutter?“

Als Lea nicht reagierte, antwortete Dorit: „In Rom. Sie wohnt in einer Witwenhütte am Rande des Anwesens ihrer Schwester. Sie lebt in völliger Armut –“

„Hört auf!“ Lea verbarg ihr Gesicht.Avitus fuhr dennoch fort, klang aber mehr wie ein Freund

als wie ein Soldat. „Es gibt also niemanden in deiner Familie, der auf dein Schicksal positiven Einfluss nehmen könnte. Pi-latus kann mit dir tun und lassen, was er will. Denk an meine Worte: Früher oder später wird er dich dem Hauptmann zur Frau geben.“ Er wartete, bis Lea wieder in der Lage war auf-zublicken. „Und du hast es in der Hand, diese Ehe zu deinem eigenen Vorteil zu nutzen.“

Der Mann lehnte sich noch näher zu ihr und sagte: „Du musst dir überlegen, was du von dieser Verbindung erwar-test. Und dann mach dich bereit, dafür zu kämpfen.“

Lea versuchte, so gut es ging, sich mit Arbeit abzulenken. Geistesabwesend röstete sie den Braten und setzte die Suppe auf. Als ein Dienstmädchen Blumen aus dem Palast-garten brachte, nahm Dorit ein paar davon für den Tisch, während Lea sie Vase für Vase in allen Haupträumen ver-teilte. Sie zwang sich, an andere Dinge zu denken, und kon-zentrierte sich voll auf die Arbeit mit Dorit. Diese war mit ihrer Herrin aus Rom gekommen und lange Jahre Proculas Dienstmädchen gewesen. Sie kannte nichts anderes, und sie hatte die Arbeit auch dann weiter verrichtet, als die meisten anderen Frauen in ihrem Alter sich leichtere Aufgaben ge-sucht hätten.

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Kurz nachdem Lea ins Haus gekommen war, hatte Dorit sich jedoch die Hüfte gebrochen. Der Schmerz hatte sie mehr altern lassen, als es die Arbeit jemals getan hatte. Lea war als Proculas Dienerin eingesprungen und hatte getan, was nötig war, ehe Dorit überhaupt fragen musste. Es war sehr schwer gewesen, Proculas Ansprüchen zu genügen und gleichzeitig Dorits Last zu erleichtern. Lea hatte es getan, weil irgendet-was in Dorits Augen sie an ihre eigene Mutter erinnerte. Die stumme Sorge in ihrem Blick war genau der Gesichtsaus-druck, den Lea in den letzten Tagen ihres Zusammenseins an ihrer Mutter beobachtet hatte. Was war schlimmer? Nie Reichtum, Ansehen und Ehre gehabt zu haben oder all das zu kennen und es entrissen zu bekommen? Wie auch immer die Antwort lautete – die Augen beider Frauen spiegelten densel-ben Schmerz und dieselbe Resignation wider.

Ansonsten hatten Leas Mutter und Dorit jedoch wenig gemeinsam. Dorit kannte nichts außer dem harten Leben einer Dienerin. Leas Großmutter, die Mutter ihrer Mutter, war eine Judäerin gewesen, die mit dem Oberaufseher von Verona verheiratet gewesen war. Leas Mutter, die in Reich-tum und Macht aufgewachsen war, betrachtete sich selbst im Hinblick auf ihre Herkunft als Römerin und im Hinblick auf ihre Bildung als Griechin; mit ihrem judäischen Erbe wollte sie nichts zu tun haben.

Lea hatte also die ersten Tage in Judäa damit verbracht, einer Sklavin zu dienen, und hoffte, dass jemand ihrer Mutter die gleiche Freundlichkeit erweisen würde. Dies hatte dazu geführt, dass Lea eine Freundin gefunden hatte, die sich in einem Haus voller Intrigen und verdeckter Angriffe um sie kümmerte.

Wie wenig das alles nun half. Lea stellte die letzte Vase an ihren Platz. Niemand konnte sie jetzt vor ihrem Schicksal bewahren.