aspektblindheit.pdf
TRANSCRIPT
Günther gettinger Seite 1 25.06.2012
Wann haben Sie das letzte Mal gestaunt?
„Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung
bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der
Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet
etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: dass
man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, dass es
also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte
gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge – im
Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet:
die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es
solche Mächte gab, muss man zu magischen Mitteln greifen, um die
Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel
und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die
Intellektualisierung als solche.“
Max Weber, Wissenschaft als Beruf, München 1919
Alles, was überhaupt ‚über etwas’ ausgesagt werden kann, kann klar und deutlich gesagt
werden, und muss auch so gesagt werden – wenn man Missverständnisse vermeiden will.
Das, was aber nicht gesagt werden kann (etwas ‚als etwas’ sehen), das muss einem ‚gezeigt’
werden, muss im Perspektivenwechsel eines offenen Dialogs unmittelbar ‚erlebt’ werden:
Kaninchen oder Ente?
Etwas ‚als etwas sehen’ und ‚über etwas in einer bestimmten Weise denken’ sind
verschiedene sprachliche Ausdrücke für ein und dieselbe Sache – d.h. über etwas ‚anders
denken’ ist dasselbe wie ‚es anders sehen’.
Perspektivenwechsel!
Aspektblindheit:
Zumeist leiden wir aber unter ‚Aspektblindheit’: wir halten unsere bestimmte Art etwas zu
sehen / wahrzunehmen/ zu denken für die einzig mögliche Art etwas zu sehen /
wahrzunehmen / zu denken.
Günther gettinger Seite 2 25.06.2012
>Erst durch das Phänomen des Wechsels des Aspekts scheint der Aspekt vom übrigen Sehen abgelöst zu werden.
Es ist, als könnte man nach der Erfahrung des Aspektwechsels sagen: ”Es gab also da einen Aspekt!” <
Wittgenstein, Nachlass 229, S.228
>Das Wesentliche des Aspektwechsels ist ein Staunen.<
Wittgenstein Nachlass 137, S. 132b, Hervorhebung original.
>Wenn aber der Aspekt aufleuchtet, dann ist der Ausdruck davon […] wesentlich der Ausdruck einer neuen
Wahrnehmung. […]
Der Ausdruck des Sehens des Aspekts ist der Ausdruck der neuen Wahrnehmung. Wenn aber der Aspekt
aufleuchtet, dann ist der Ausdruck davon […] wesentlich der Ausdruck einer neuen Wahrnehmung. […]
Der Ausdruck des Sehens des Aspekts ist der Ausdruck der neuen Wahrnehmung.<
Wittgenstein, Nachlass 137. S. 126a u. 128b, Hervorhebung original.
Unser subjektives Welterleben, die Weltsicht unserer Kultur ist niemals eine vollkommene
Beschreibung der Realität, es ist bloß ein Aspekt/Auszug aus dem, was an Realität vorliegt:
unsere jeweilige Weltsicht ist kein eindeutiges Abbild der Realität (Homomorphie), sie ist ein
Konstrukt, eine ‚Metapher’, eine ‚Landkarte’ der Realität, aber nicht die Realität selbst:
Zumeist nehmen wir die Perspektivität unseres Welterlebens und unserer
Weltbeschreibung aber nicht wahr. Wir sehen nicht, dass wir im begrifflichen Denken
‚Dinge’ nur auf spezifische Weise sehen können – aspekthaft also – und sehen also auch
nicht, was wir nicht sehen. Wir verwechseln dann unsere Landkarte von der Welt mit dieser
selbst, die Speisekarte mit dem Essen. Was aber ist in dieser Metapher das ‚Essen’? Das
unmittelbare Erleben. ‚Wir erleben immer mehr als wir sagen und denken können’ – aus
diesem Erleben abstrahieren wir ständig ganz automatisch bestimmte Elemente und fügen sie
dann zu sinnvollen Gebilden; ein Vorgang, der in der deutschen Sprache sinnvoller Weise
auch so bezeichnet wird: als ‚Wahr-nehmen’, ‚etwas für wahr nehmen’.
Denken und wahrnehmen sind für gewöhnlich also ein- und derselbe Vorgang, was wir aber
in der Regel nicht so erleben, ganz im Gegenteil:
‚Die allgemein für wahr gehaltene stillschweigende Annahme ist doch die, dass unser
begriffliches Denken uns objektiv ‚über die Dinge da draußen’ berichtet, uns, die wir
‚drinnen’ dann jeweils entscheiden können und müssen, was wir mit diesen Berichten von
‚draußen’ anfangen’ sagt der Quantenphysiker David Bohm in seinem Buch ‚Denken als
System’.
Während doch bereits unsere je bestimmte Art zu denken unsere spezifische Art des
Wahrnehmens prägt. Der heute bei uns vorherrschende Begriff des Denkens (‚draußen die
Dinge’ getrennt vom ‚Denker’ drinnen) verschleiert die Tatsache, dass der Vorgang des
Wahrnehmens und Denkens ein zirkulärer Prozess ist: unsere Art zu Denken und Fühlen prägt
unser Wahrnehmen, und dieses wiederum bestätigt unsere Art zu denken und zu handeln.
Ganz nach dem Motto eines Chefs, der nach langwierigen Beratungen über ein schwieriges
Problem zu einem seiner Mitarbeiter gesagt hat: ‚Stören Sie mich nicht weiter mit Fakten, ich
habe mir bereits eine Meinung gebildet.’
Endlich hat der gute Mann eine ihn befriedigende Lösung des Problems gefunden, warum soll
er sich diese gleich wieder ‚madig’ machen lassen. Man versteht ihn bestens. Und der besagte
Günther gettinger Seite 3 25.06.2012
Mitarbeiter wird gelernt haben, in Zukunft besser seinen Mund zu halten. So kommen
routinemäßig suboptimale Lösungen zustande, so gehen Unternehmen langfristig zugrunde,
so erstarren Bürokratien. Innovationsgeist und Kreativität gehen baden. Wenn dann
schlussendlich alle offiziell immer einer Meinung sind, dann wird das als großartiger Erfolg
gefeiert. Gelebte Aspektblindheit! Die Realität hält sich nämlich nicht an die kurzsichtigen
Beschlüsse der Problemlöser, und konfrontiert diese dann früher oder später mit den sog.
unerwünschten Wirkungen und Nebenwirkungen ihrer Entscheidungen. Aspektblind wie wir
nun mal sind, werden wir diese unerwünschten Wirkungen aber nicht unserer Art zu denken
zurechnen können und wollen, sondern unvorhersehbaren und unkontrollierbaren Faktoren
wie ‚Zufällen’ oder ‚Bösewichten’ oder Sonstigem. Lernen wird durch Aspektblindheit
gewaltig behindert!
Seltsam, dass diesem in unserer Kultur verbreitetem Phänomen so wenig Aufmerksamkeit
geschenkt wird! Aber kein Geringerer als Max Weber ist darüber auch ins Staunen geraten
und hat uns auch mit einer möglichen – und m.E. sehr bedenkenswerten - Antwort
konfrontiert: unser wissenschafts- und technikorientierter Fortschrittsglaube macht uns derart
aspektblind.
Und fast hundert Jahre nach Max Webers Befund stellt ein Computer-Wissenschaftler und
Mitglieds des ‚Club of Rome’ – Fritz Rademacher – folgende bange Fragen und gibt folgende
hoffnungsfrohen Antworten:
„Is there a chance for a peaceful future, a chance for avoiding an ecological collapse or a
neofeudalisation (global two-class society) of the world population? And how is that related
to technology? The key to a better future lies in the right combination of innovations in
technology and innovations in governance.”
Nun, woher sollen diese Innovationen denn kommen, solange wir in dieser unserer
spezifischen Aspektblindheit verharren? „Nicht mehr, wie der Wilde ....... muss man zu
magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern
technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung
als solche.“
Und wenn gerade die ‚Intellektualisierung als solche’ das Problem wäre? Dieser magische
Glaube an die Berechenbarkeit und technischen Beherrschbarkeit der Welt? Wäre das nicht
auch möglich, ja geradezu wahrscheinlich?
Der immer staunende und vorsichtig-skeptisch fragende Wittgenstein möge daher an dieser
Stelle das letzte Wort haben:
>Erst durch das Phänomen des Wechsels des Aspekts scheint der Aspekt vom übrigen Sehen
abgelöst zu werden. Es ist, als könnte man nach der Erfahrung des Aspektwechsels sagen:
”Es gab also da einen Aspekt!” <