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209 Hilde Fendrich, Marion Immendörfer und Heinz Oechsner in Verbindung mit den Büros für Bauforschung und Restaurierung Holzinger/Marstaller Der Obertorturm Der Obertorturm Das Vorhaben Im Jahr 2000 zogen die letzten Bewohner aus dem Turm aus, leer schien er in einen Dornröschenschlaf zu fallen. Einige Markgröninger Bürger ergriffen die Initiative, wurden bei der Stadt vorstellig und gründe- ten schließlich den Bürgerverein, um den Turm aus dem Jahr 1555 zu erhalten und der Öffentlichkeit zu- gänglich zu machen. Ein Team kümmerte sich um die Erforschung des Turms: die Restauratoren und Bauforscher Holzinger/ Marstaller lieferten die historische Bauuntersuchung, Heinz Oechsner zeichnete die Steinmetzzeichen, Hil- Bild 1: Die Skizze von Karl Urban Keller (1830 oder früher) lässt noch etwas von der alten Befestigung ahnen (Staats- galerie Stuttgart, Graphische Sammlung)

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Page 1: Der Obertorturm · Im Jahr 2000 zogen die letzten Bewohner aus dem Turm aus, leer schien er in einen Dornröschenschlaf zu fallen. Einige Markgröninger Bürger ergriffen die Initiative,

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Hilde Fendrich, Marion Immendörfer und Heinz Oechsnerin Verbindung mit den Büros für Bauforschung und Restaurierung Holzinger/Marstaller

Der Obertorturm

Der O

bertorturm

Das VorhabenIm Jahr 2000 zogen die letzten Bewohner aus dem

Turm aus, leer schien er in einen Dornröschenschlafzu fallen. Einige Markgröninger Bürger ergriffen dieInitiative, wurden bei der Stadt vorstellig und gründe-ten schließlich den Bürgerverein, um den Turm aus

dem Jahr 1555 zu erhalten und der Öffentlichkeit zu-gänglich zu machen.

Ein Team kümmerte sich um die Erforschung desTurms: die Restauratoren und Bauforscher Holzinger/Marstaller lieferten die historische Bauuntersuchung,Heinz Oechsner zeichnete die Steinmetzzeichen, Hil-

Bild 1: Die Skizze von Karl Urban Keller (1830 oder früher) lässt noch etwas von der alten Befestigung ahnen (Staats-galerie Stuttgart, Graphische Sammlung)

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de Fendrich bearbeitete mit Unterstützung durch Pe-tra Schad an Hand der schriftlichen Quellen die Turm-geschichte, und Marion Immendörfer berichtete überGründung und Arbeit des Bürgervereins.

Der BestandDie Bauforscher und Restauratoren Holzinger/Mar-

staller haben den Turm im Dezember 2001 und Janu-ar 2002 untersucht1. Das Folgende stammt aus ihremBericht:

Der Obere Torturm – am höchsten Punkt der Alt-stadt gelegen – ist der einzig erhalten gebliebene Turmder Markgröninger Stadtbefestigung. Der Bruchstein-quaderbau besitzt rundbogige Tore zur Stadt- undFeldseite und zwei kleinere halbrunde Seitentore zumehemaligen Zwinger zwischen Stadtmauer und demehemaligen Vorwerk. Es ist ein hoher Schalenturmmit geschlossener, in flacher Tonne überwölbterDurchfahrt und Teil der hier noch intakten historischenStadtbefestigung. Über einem rechteckigen Grundrisserrichtet schließen sich an ihn südlich die mittelalter-liche, ins Wimpelinhaus integrierte Stadtmauer, imNorden Bauten des 19. Jahrhunderts an. Nach Wes-ten schiebt sich der Baukörper in den ehemaligen Gra-benbereich vor. Dieser Mauergraben ist nach Südenhin heute noch durch eine zweiflügelige Toranlagedirekt aus der Turmdurchfahrt erreichbar.

Erlaubt sei der Hinweis auf eine Vielzahl von his-torischen Putzresten, die sich an der Feldseite derStadtmauer südlich des Turmes erhalten haben (Bild2).Erstaunlicherweise hat sich im Sockelbereich derStadtmauer in Fragmenten ein Kalkputz mit secco ein-geritzter kleingliedriger Scheinquadrierung erhalten,welcher durchaus aus der Erbauungszeit der Stadt-mauer im 13. Jahrhundert sein kann (Bild 3)!

Das Äußere des sechsgeschossigen massiven Bau-körpers weist vor allem an den Feldseiten (W, S, N)eine nüchterne Gestaltung des Baukörpers auf. We-der die westliche noch die östliche Tordurchfahrt sinddurch architektonische Zierelemente geschmückt.

Ebenso wenig finden wir Untergliederungen des Turm-schaftes etwa durch Gesimse, Vorstöße oder ähnli-chem, auch weisen die Fenster in ihrer schlichtenLängsrechteckform kein Dekorum auf. Ein singulä-res gestalterisches Element an den massiven Bautei-len bildet der in Relief gearbeitete Kielbogen am stei-nernen Fenstersturz des südlichen Kerkerfensters(Ebene 1). Der Sinn dieser Heraushebung liegt wohleher in dem architektonischen Hinweis auf die Lageder Kerkerzelle als in der Funktion einer Bauzier.

Bild 2: Sockelzone der Stadtmauer: Rudimente mittelalter-licher Putze (Foto: Martin Holzinger)

Bild 3: Kerbungen einer Scheinquadrierung (Foto: MartinHolzinger)

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Alle Elemente der Eckquader und Bogenwandun-gen sind aus ockerbraunem Sandstein gefertigt. Sonüchtern die Gestalt des Turmes ist, so ist sein Steindoch sorgfältigst bearbeitet. Die Sandsteinquader be-sitzen alle einen auffallend breiten Randschlag um ei-nen gekrönelten Spiegel. Diese Steinbearbeitung er-innert an die Schlossbauten unter den Herzögen Chris-toph und Ludwig, wie z. B. am Südflügel von SchlossNeuenbürg/Enz aus der Zeit um 1572- 96. An densenkrecht zum Spiegel gearbeiteten Randschlägen dergroßen Steinquader finden sich zahlreiche Steinmetz-zeichen, die formal gut zur archivalisch überlieferten

Bild 4: Die einzige Verzierung findet sich am Fenster desKerkers (Foto: Hilde Fendrich)

Bilder 5a und 5b: Steinmetzzeichen am Oberen Torturm in Markgröningen, entspre-chend den Figuren 1 und 3 im Kasten (Fotos: Heinz Oechsner)

Entstehungszeit des Turmes um 1555 passen (Bild 5und Kasten). Die Akribie der Ausführung der Stein-metzarbeiten aus der Ursprungszeit machten es bei derUntersuchung dann auch möglich, spätere Ergänzun-gen abzulesen. Auch scheint der Sandstein der erstenPhase besser der Bewitterung zu trotzen als später hin-zugefügter. So ist bei Betrachtung von Straßenniveaudeutlich ein Substanzverlust ab der 4. und 5. Ebeneder Südostecke gegenüber den bauzeitlichen Eckqua-dern der darunter liegenden Ebenen ablesbar.

Hinweis: Peter Fendrich geht in seinem Beitrag zumMarkgröninger Schloss (Neue Aspekte zur Bauge-schichte) über die Ansicht der Restauratoren Holzin-ger/Marstaller hinaus und hält es für möglich, dassdas verzierte Kerkerfenster sowie die Eckquader vomAbbruch der Burg stammen (dort: Bilder 16, 17, 18).

Eine Besonderheit stellt einerseits die zeitlich späteKonzeption der massiven Bauteile im Sinne eines

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„mittelalterlichen“ Schalenturms, andererseits dervöllige Verzicht auf fortifikatorische Elemente wieetwa Schießstände oder Nutungen für Fallgatter dar.Dabei kann von Bedeutung sein, dass die Entwick-lung der Geschützwaffen zum Errichtungszeitpunktdie eigentlichen mittelalterlichen Tortürme bereitsüberflüssig gemacht hatte und der Turm den neuenZeiten – wenn auch zögernd – Rechnung trägt. Diestadteinwärts orientierte, fachwerkgefüllte Schalenöff-nung folgt dem Vorbild mittelalterlicher Wehr- undTortürme, welche im Sinne oben angedeuteter Um-nutzung in der Renaissance stadtseitig mit Fachwerk-konstruktionen geschlossen wurden. Die Schalenöff-nung verbreitert sich nach oben hin pro Geschossjeweils um Balkenstärke, dabei bleibt der obere Ab-schluss jedoch durch spätere Umbauphasen verunklärt.Der heute bestehende Spitzbogenabschluss stammtvon 1892 ff. und ersetzte einem Gutachten zufolgedas obere, schadhafte „Riegelwerk“, d. h. eine weite-re Fachwerkwand in Ebene 4 und 5. Offensichtlich

wurde Wert auf eine ansprechende Präsentation derstadteinwärts, den Bürgern zugewandten Seite desTurmes gelegt.

Durch die eingeschnitzte Jahreszahl 1561 im Tür-sturz über der Türe zu Ebene 1 kann die Holzphasedatiert werden. Die Lesbarkeit der Inschrift ist durchzahlreiche Beilhiebe für eine spätere Überputzunggestört, doch ist im Streiflicht zumindest die erste 1,die 5 und die 6 zweifelsfrei zu erkennen. Bei der letz-ten Ziffer nehmen wir (im Gegensatz zu Martin Hol-zinger) eine 1 an, da für eine 7 der Diagonalstrich bzw.Diagonalrücken fehlt. Die Zeit von sieben Jahren zwi-schen Beginn der Arbeiten am massiven Baukörperund Abschluss der Fachwerkarbeiten kann man einmalals eventuell durch stockende Finanzierung verlang-samten kontinuierlichen Bauablauf oder als zwei tat-sächlich verschiedene, wenn auch in kurzer Folge, ab-laufende Phasen sehen.

Das stockwerkweise abgezimmerte vollständig ver-zapfte Fachwerkgefüge zeigt in den abwechselnd kur-

Die in den Bildern 5a und 5b wiedergegebenen undweitere, am Oberen Torturm sichtbare Steinmetz-zeichen (Zeichnung: Heinz Oechsner)

Die Steinmetzzeichen finden sich an den Au-ßenseiten des Turms im Norden, Westen und Sü-den im unteren Bereich bis etwa vier Meter Höhe,Figur 1 auf der Ostseite liegt deutlich höher. DieZeichen sind nicht wie üblich auf der Fläche derSteine eingeschlagen, sondern auf dem gezoge-nen Schlag (siehe die Fotos). Figur 1 und Figur2a sind fast identisch.

Die Formen weisen auf eine Datierung zum aus-gehenden 16. Jahrhundert und entsprechen denBaudaten des Turms. Gleiche Zeichen sind inMarkgröningen an anderen Bauten bisher nichtnachgewiesen.

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zen und langen Fußstreben an Bund- und Feldstän-dern und den im Relief genasten (mit Nasen versehe-nen) Kopfwinkelhölzern an den Bundständern charak-teristische Zierelemente renaissancezeitlicher Fach-werkbauten. In den Gefachen befinden sich Bruch-steinmauern aus etlichen Renovierungsphasen, aberauch solche, die als ursprünglich angesehen werdenkönnen. Die geschichteten Bruchsteine wurden mitKalkmauermörtel bei relativ dünner Gefachstärkehochgemauert. Eine frühere Bauphase etwa mit Lehm-stakengefachen kann ausgeschlossen werden, da dieHölzer an den Fachwerkinnenflanken keine Löcherzur Aufnahme von Staken aufweisen. Die östlicheFachwerkwand und die hölzernen Turmeinbauten sindkonstruktiv miteinander verbunden und bilden somitbaulich wie zeitlich eine Einheit. Das Fachwerk derOstfassade besteht vollständig aus wetterunempfind-licher Eiche, während die erhalten gebliebenen Ge-bälke, Unterzüge, Keilstufentreppen und sogar dieKopfstreben der Innenstützen aus leichter bearbeitba-rem und billigerem Nadelholz gefertigt wurden.

Eichenholz fand im Inneren dennoch bei den tra-genden Innenstützen und den ebenfalls stark belaste-ten Mauerlatten Verwendung. Wiedlöcher an einigender verbauten Eichenhölzer der Ostfassade weisen aufeinen seltenen Befund hin: Die hier verbauten Eichenwurden geflößt, obwohl sie aufgrund ihrer hohen Dich-te an sich nicht flößbar sind! Sie mussten daher ent-weder als Oblast transportiert oder – das legen dieWiedlöcher nahe – in schwimmfähige, d. h. in über-wiegend aus Nadelholz bestehende Gestöre eingebun-den werden. Da sich auch an den Nadelhölzern Wied-löcher finden, dürfte das Bauholz für das Holzwerkdes Oberen Torturms vollständig aus dem Floßholz-handel stammen. Aufwendig wurde es aus größerer

Bild 6: Querschnitt und Bauphasen des Oberen Torturms(Schriftlicher und fotografischer Bericht Holzinger/Marstaller)

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Entfernung (vermutlich aus dem Enzgebiet im Schwarz-wald) herangeschafft. Derart erschwerte Bedingungenbei der Beschaffung von Bauholz belegen meist Kri-sen in der lokalen Waldwirtschaft.

Erbaut 1555, zur Zeit Herzog ChristophsDas ist eine Jahreszahl, für die der Stadtführer kei-

nen Spickzettel braucht: Zeit der Renaissance. Her-zog Christoph, Sohn des unruhigen Ulrich, regiertevon 1550 -1568 das Land Württemberg, ein Mann derReformen, Verordnungen, der Konsolidierung und

zutiefst fromm, der das Heft fest in die Hand nahm.Ein Segen für Land und Volk und fast so geschätztwie einst Eberhard im Bart.

Während sein Vater Ulrich sich noch hauptsächlichdem Festungsbau zuwandte, galt Herzog Christoph alsein großer Schlösserbauer. Diese wurden nur soweitbefestigt, dass sie einen überraschenden Überfall oderHandstreich abwehren oder auch einen militärischenStützpunkt abgeben konnten2. Neben Schlössern inseinen Amtsstädten ließ er eine Reihe von Jagdschlös-sern bauen und vor allem das Stuttgarter Residenz-schloss, dafür wurden mindestens 460 000 Guldenausgegeben, das war doppelt so viel wie für den Fes-tungsbau. In den meisten Städten gab es mittelalterli-

che Anlagen, von denen viele in der zweiten Hälftedes 15. und 16. Jahrhunderts modernisiert wurden.Diese repräsentativen Bauten sollten das Ansehen desFürsten nach innen und außen stärken.3 Christoph ließauch das Gröninger Schloss umbauen und erweitern.Kostenpunkt 7097 Gulden 35 Kreuzer und 2 Heller.Möglicherweise wurde im Zuge dieser Baumaßnah-men – mit sanftem Druck – angeregt, das neue Toraußerhalb der Schlossanlage zu bauen. Bis dahin hat-ten die Bürger mit ihren Fuhrwerken zur Herbstzeitihren Weg durch die ehemalige Burg genommen.

Die Durchfahrt lag ursprünglich in der hinteren lin-ken Ecke des heutigen Gymnasiums, wo jetzt der Ein-gang zu Cafeteria und Speisesaal ist. Auf den Plänenvon 1869/70, als es um den Umbau vom Frauenge-fängnis zum Lehrerinnenseminar und Waisenhausging, ist die Ausfahrt noch verzeichnet; wie aus demPlan vom ersten Stock zu sehen ist, war sie überbaut.

Ein erster schriftlicher Hinweis auf das Obere Torfindet sich in der Erneuerung des Lagerbuchs von15654, noch zu Lebzeiten Herzog Christophs. Dort istbeschrieben, was zum Schloss gehört, nämlich viert-halb Morgen Gartens und Zwingelß, wie daß mitt ai-ner Mauren umbfangen. Auch dem Platz gegen derStatt so weytt der Allt Schloß Grab gewesen, der ein-

Bild 8: Blick ins Turminnere (Foto: Martin Holzinger)Bild 7: Türsturz mit der eingekerbten Jahreszahl 1561 (Foto:Martin Holzinger)

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geworffen, Ist meineß gnädigen Fürsten und HerrnAigenthumb. Aller ufflegungen und beschwerung vondenen vonn Groningen unnd sonnst Meniglichem frey.Eß seindt auch Statt unnd ampt schuldig zween Wecht-ter Im schloß zu Gröningen zu besolden. (...) Item ainHofstatt zwischen dem Schloßgraben unnd SeboltGalsterß scheüren, daselbsten geht jetz ain thor hin-auß. Anstelle der genannten herrschaftlichen Hofstattwurde 34 Jahre später das heute nach den Vimpelingenannte Gebäude errichtet.

Die Stadt hatte also auf gut Befinden der lieben Al-ten 1555 mit dem Bau von Tor und Turm begonnenund zwar auf eigene Kosten, das betonte man extra.Die Wache, welche die Stadt zuvor für das Tor imSchloss zu stellen hatte (und die von der Obrigkeitmit 4 Klaftern Brennholz besoldet wurde), war danachauf dem neuen Turm eingesetzt. Dass der Wächter ausMangel des Holzes bar bezahlt wurde, bestätigt diebereits oben vom Bauforscher festgestellte damaligeHolzknappheit im Land.

Das Zeitalter der „lieben Alten“Als Hochwacht hat der Obere Torturm noch einen

gewissen Sinn, denn man sieht weit übers Land, aberdiese Funktion erfüllte auch der Hochwachtturm derKirche. Zu Verteidigungszwecken waren Türme umdiese Zeit längst überholt. Andernorts, z.B. in Schorn-dorf, dessen Befestigung in jenen Jahren nach demneuesten System ausgebaut wurde, hatte man erkannt,dass der mittelalterliche Bering, die hochragendenTürme und Mauern keinen Schutz mehr gegen diegesteigerte Feuerkraft der Geschütze boten. Die Tür-me waren freistehende Ziele, die beim Einsturz mitihren Trümmern die Gräben auszufüllen drohten. Auchin Kirchheim waren aus diesem Grund bereits 1539drei der sieben alten Stadttürme niedergelegt und derKirchturm bis auf die Dachhöhe abgetragen worden.5

Warum baute man dann in Gröningen noch so ei-nen „veralteten“ Turm? Die Antwort muss lauten: Eswar ein schieres Prestigeobjekt, ein Statussymbol zur

Bild 9: Die frühere Durchfahrt durch das Schloss lag unter dem kleinen Turm in derBildmitte. Blick von Westen auf das ehemalige Lehrerinnenseminar (Foto: Bild-sammlung Hilde Fendrich)

Verschönerung der Stadt, denn gegen Handstreicheund für die Beschließung der Stadt hätte eine wesent-lich kleinere Anlage genügt. Die lieben Alten wolltenzeigen, dass sie keine armen Schlucker waren.

Herzog Christoph hat es ihnen in Stuttgart „nach-gemacht“. Dort wurden 1564 der äußere Mauerringum die Vorstädte geschlossen zum Schutz vor Über-fällen und Landstreichern. Christoph ließ die drei al-ten Stadttürme erneuern und weitere Türme erstellen.Alle hatten gegen einen ernsthaften Angriff keinenfortifikatorischen Wert. Doch es scheint, dass ein statt-licher Turmkranz dem Herzog als eine Art von Ho-heitszeichen für seine Residenzstadt nötig erschien.6

Rang und Rechtsanspruch einer fürstlichen Hauptstadtverlangten eine ansehnliche und stattliche Ummaue-rung. – Eine fürstliche Amtsstadt wie Markgröningenbrauchte also auch ihren Torturm. MittelalterlicheMauer, Wehrgang, Graben und Vormauer hatte sie jalängst, auch diese hatten der damaligen „modernenKriegsführung“ nicht mehr viel entgegen zu setzen. –Geschlossene Tore indes bewahrten vor Landfahrern,umherstreifendem Gesindel und Bettlern. Außerdem

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Und was anbelangt die Stadtmauer mit deren vierThoren, Thürn, Zwinger und Thorwarts-Häus-lein so werden solche Gebäude insgesamt von Stadtund Amt in Bau und Ehren erhalten; hingegenso viel die Besoldung der 3 Thorwart unter demOster- Eßlinger- und Untern-Thor anbetrifft, sohat solche bis anhero die Stadt allein praestirt wiedenn jeder derselbigen jährlich zwanzig drey gul-den von dem Bürgermeisteramt empfangen hat.Nachdem aber vor wenigen Jahren wegen derHochwacht auf dem Obern Thurn, worauf dieNachtwach die 4 Thorwarte abwechslungsweiseversehen, eine Abänderung gemacht und ein be-ständiger Nachtwächter dahin bestellt worden, somußten die Thorwartt für den Nacht hoch wächtervon ihren jährlichen 23 fl. Besoldung jeder 3 fl.abgeben, also daß deren jeder nunmehro jährlich20 fl., der Hochwächter aber von der Stadt 9 fl.empfängt.Hingegen wird der Thorwarte uf dem Obern Thornach alter Observanz von der Stadt- und Amts-pfleg völlig besoldet, welcher ebenfalls von seinerBesoldung dem Nacht-Hochwächter einen gerin-gen Antheil gleich den übrigen jährlich abgebenmuß.Die fürstliche Vogt- und Kellerey allhier hat all-jährlich zur Beholzung des Hochwächters auf demObern Thurn bey der Vogtey 4 Klafter Brennholt-zen abzufolgen wofür aus Mangel des Holzesbisher an Geld à 1 fl. 30 x Sechs Gulden dem Hoch-wächter bezahlt werden.

Der Obere Torturm nach dem Saal- und Lagerbuch 1751-54 (S. 372 ff.):

Hierbei ist noch weiter zu wissen, daß vor Zeitender Thurn und Thor bey dem Schloß oder jetztma-ligen Amtshaus gar nicht gewesen, sondern dieBürger zur Ernd- und Herbst-Zeiten mit ihrenFrüchten und Most (ihren Weg) durch das Schloßgehabt haben, und hiebevor allzeit eine Wacht indem herrschaftlichen Schloß allhier gehalten, aufgut befinden der lieben Alten aber ein besondererThurn und Tor vor ohngefähr 196 Jahren nächstam Schloß in eigenen Kosten erbaut, die Wachtausser dem Schloß zu verringerrung der Besoldungauf angeregten neu erbauten Thurn neben obengedachtenjährlichen 4 Klqfter Brenn-Holz verlegtworden; welcher Umständen wegen in dem altenStadt Saal-Buch annoch ein Schreiben befindlichist, welches Burgermeister und Gericht sub dato16. August 1628 an den damaligen Herrn VogtenJacob Jsmael Metzger allhier erlassen.Von dem Obern Thurn ist noch hiehero zu bemer-ken, daß mit Einwilligung der Stadt und Amts- Vor-stehern seit 4 Jahren her von der Vogtei allhiervon unten hin auf 2 wohl verwahrte Gefängisseauf herrschaftlichen Kosten erbauet und solche Er-bauung Stadt- und Amtswe gen anderst nicht alsmit diesem austruckentlichen Beding eingestandenworden daß, was daran jetzt und künfftig zu repa-rieren seyn möchte, solches alles und jedes, wie esnur Namen haben mag, ohne den mindesten bey-trag von Stadt und Amt, sondern allein auf gnä-digster hoher Herrschaft Kosten geschehen solleund musse.

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bedeutete der Schlagbaum vor dem Tor gleichzeitigdie Zollstation für auswärtige Händler. Aber auch nachinnen halfen die Tore und ihre Wächter, die Bürger imGriff zu behalten bzw. die Kontrolle zu wahren, zumBeispiel hatte der Torwart jeden anzuzeigen, der wäh-rend des Gottesdienstes am Sonntag die Stadt verlas-sen wollte oder für seine Tiere ein Grastuch voll Fut-ter geholt hatte, wer unter der Woche nach dem Bet-glockenläuten erst vom Feld heim zog oder garauswärts zu lange gezecht hatte. Die Kirchenzensur-protokolle sind voll von solchen „Vergehen“.

Wer waren nun aber die lieben Alten, die zur Zeitdes Turmbaus in Gröningen das Sagen hatten? ImSchloss wohnte der Vogt Hipolyt Resch mit seiner FrauMaria und Tochter Magdalena (1554-59). Caspar Maglöste ihn im Frühjahr 15597 im Amt ab und blieb bis1562.

Der Vogt führte den Vorsitz über Gericht und Rath,dem ehrenamtlichen Organ der städtischen Selbstver-waltung, das auch die hohe und niedrige Gerichtsbar-keit ausübte und für zivilgerichtliche Angelegenhei-ten zuständig war. Er hatte als landesherrlicher Be-amter in der Regel eine relativ teure Ausbildung ab-solviert und musste bei der Amtsübernahme eine hoheKaution stellen. – Noch lebten in der Stadt die frühe-ren Vögte Michel Volland (†1558) und Martin Vol-land († 1561) samt deren Familien.

Unterhalb der Ebene von Gericht und Rat gab esdie Bürgermeister, mindestens zwei, die jährlich wech-selten. Sie führten in Abwesenheit des Vogts die Sit-zungen und hatten Weisungsbefugnis gegenüber denstädtischen Bediensteten. Hauptsächlich waren sie fürdie Rechnungsführung der Stadt und der Amtskörper-schaft verantwortlich.

Da ist z. B. Burkhard Vimpelin, verheiratet mit Oti-lia Summerhardt, die das große Haus Marktplatz 2besaßen. Sein gleichnamiger Vater war 1553 gestor-ben, auf seinem Epitaph in der Stadtkirche steht u.a.in lateinischer Sprache ein kluger Ratsherr warst duder Stadt, einzige Hoffnung für ihre Söhne ... unge-

schmälert bleibt dein Verdienst immerfort nach dei-nem Tod. Viele Nachkommen dieses älteren BurkhardtVimpelin und seiner Frau Margarethe finden sich inGericht, Rat und als Consul, wie die Bürgermeisterauch hießen. Auch der junge Hans Kegelin verheira-tet mit Maria Scheck, Tochter des Stadtschreibers,begann in jener Zeit seine Karriere. Sein Vater warder Keller Zacharias Kegel gewesen. Zu dieser Grup-pe gehören auch Hans Sigloch, dessen Mutter eineVolland war, und Walter Ziegler (verheiratet mit EstherMann), deren Sohn Michael Professor der Philoso-phie und der Sprachen in Tübingen wurde und zugleichPädagogarch der Lateinschulen ob der Steig 1608-1615. Walter Ziegler vertrat die Stadt auch als Land-und Ausschussdeputierter im Landtag.

Der wichtigste Mann und einzig hauptamtlicheAmtsträger in der städtischen Selbstverwaltung warindes zweifelsohne der Stadtschreiber8, der ein Exa-men vor den herzoglichen Räten in Stuttgart abgelegthaben musste. Lange Zeit war es Johann Scheck ge-wesen, dessen Töchter mit ihren Partnern Teile derhiesigen Ehrbarkeit bildeten.9 Johannes Betz war of-fensichtlich sein Nachfolger, zeitweilig auch Kellerauf dem Asperg. Betz war mit Agatha Späth, Tochterdes Hans Späth von Gröningen verheiratet. Er starbam 14. April 1579. von seinem Grabstein ist nur einFragment übriggeblieben. Es zeigt den knienden Stadt-schreiber mit seinem Wappentier, einem Bären, daseine Verwandtschaft mit dem baufreudigen Spitalmeis-ter Betz vermuten lässt.

Es gibt keine „Gemeinderatsprotokolle“ aus jenerZeit, wir können aber davon ausgehen, dass diese„Stadtväter“ den Beschluss zum Bau des Turmes ge-fasst haben und auch wussten, wie er zu finanzierenwar. Wer war aber der Baumeister?

In der Musterungsliste von 155310. sind die Wehr-pflichtigen mit Spießen, Rüstungen, kurzer Wehr oderals Schützen ausgerüstet, einige trugen aber zusätzlicheine Axt: Hanns Kepflin, Enderis Zimerman, JacobZimerman und Enderis Herzog. Damit sind sie als

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Zimmerleute der Stadt ausgewiesen; Kilian Meurer –seinem Namen entsprechend – war vermutlich einMaurer und Steinmetz11. Bei der nächsten Musterungum 155812 hatte sich die Zahl der Wehrpflichtigen mehrals verdoppelt, mit einer Axt ist aber keiner mehr dabei.

Hans Kepflin oder Köpfle war Architekt und Zim-mermann gleichzeitig, sein gleichnamiger Sohn wirdin den Kirchenregistern auch als Stadtwerckmeisterbezeichnet. Dazu kam wahrscheinlich noch eine aus-wärtige größere Bauhütte.

Sie haben solide gebaut, die Handwerker des 16.Jahrhunderts, denn keine fünfzig Jahre nach seinerErbauung wurde der Turm auf eine harte Probe ge-stellt: Den 8. Sept. 1601 war daselbst [in Gröningen]

ein starkes Erdbeben, welches die Stadt, die dochmeistens auf einem felsigten Boden ligt, dermassendurch zween Stösse erschütterte, daß der Wächter ver-meinte, der hohe bei dem obern Thor stehende Thurnwürde gar umfallen, wie er denn durchaus krachte,als ob er zerbersten wollte. So überliefert es ChristianFriedrich Sattler in seiner Topographischen Geschich-te des Herzogtums Württemberg, während der VogtHofmann nach Stuttgart berichtete, dass im Schlossdie Ziegel vom Dach fielen und der Kirchturm soschwankte, dass der Türmer auf seiner Bank von dereinen auf die andere Seite rutschte.

Auch die schweren Zeiten des DreißigjährigenKrieges nach 1634 scheint der Obertorturm glimpf-

Bild 10: Grabsteinfragment des langjährigen Stadtschrei-bers Johannes Betz † 1579 (Foto: Hilde Fendrich)

Bild 11: Grabsteinfragment vermutlich von BurkhardVimpelin d.J. † vor 1599 (Foto: Gerhard Schmid)

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lich überstanden zu haben, obwohl zahlreiche Häu-ser und Scheunen zerstört wurden und die Stadtmau-er an vielen Stellen niedergeworfen worden war. DieFrau des Hochwächters auf dem Kirchturm warfen dieKaiserlichen nach der Schlacht von Nördlingen vomTurm herunter ... der Obere Torturm taucht in denAkten der Unmenschlichkeiten dagegen nicht auf.Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, als dieStadt ziemlich entvölkert war und die übrigen Be-wohner Deutschlands heftig durcheinandergewir-belt waren, lernen wir einen Oberthorwart kennen.Er heißt Leonhard Kreideweiß, kam als Witwer vonEllmandingen in der Marggrafschaft und heiratetein Gröningen am 22.2.1652 Esther Walz, Tochterdes verstorbenen Conrad Walz von Braittenberg imCalwer Amt. Kreideweiß starb mit 89 Jahren am22.3.1666. 1713 ist der Schuster Wenzel Neideck Ober-torwart.

Der Turm als StadtgefängnisAm Turm fallen im zweiten Geschoss vergitterte

Fenster auf. Hier waren auf obrigkeitlichen Druck imJahr 1750 zusätzlich zu dem Verlies weitere Arrest-zellen eingebaut worden, weil der zuvor als Gefäng-nis benutzte runde Turm13 an der Nord-Ostecke derStadt ein schadhaftes Dach hatte und ihn niemandmehr reparieren wollte.

Im Obertorturm wurden nicht nur die Fenster ver-gittert, sondern die Fachwerkwand stadtseits mit di-cken Bohlen verkleidet, damit nicht der Eingesperrte– mit einigen beherzten Tritten – die Ausmauerunghinaustreten und flüchten hätte können. Die von derVogtei, also der Vertretung des Landesherrn, gefor-derten beiden Gefängnisse gingen auf herrschaftlicheRechnung, ebenso jede künftige Reparatur daran, daswurde im Lagerbuch genau vermerkt.

Vermutlich war der Hochwächter auch für die Ver-köstigung der Inhaftierten zuständig.

Ungleich ungemütlicher musste es für Gefangenein dem Kerker auf Ebene eins gewesen sein. Bei die-

Bild13: Grabsteinfragment eines unbekannten Baumeistersjener Zeit (und seiner Frau?) mit der Inschrift „Gott wollebeeder verblichener Leichtnamen an ienem grossen Tag einefröliche Aufferstehung verleihen Amen“ (Foto: HildeFendrich)

Bild 12: Wappen des Martin Volland, † amheiligen Pfingsttag 1561 (Foto: HildeFendrich)

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sen dicken Mauern war an ein Entkommen nicht zudenken. Die dicke Kerkertür hat eiserne Beschläge undmit Bleidübeln in die Mauerquader eingelassene Si-cherungsriegel. Anscheinend stammt sie noch aus derErbauungszeit des Turms. In Kriegszeiten wurde die-ses Verlies als Archiv benutzt, ebenso wie der stadtei-gene Kirchturm. Selbst im Zweiten Weltkrieg warenhier noch Akten der Stadt untergebracht.

Der Turm in GefahrDie Stadt hatte 1889 doch tatsächlich den Turm auf

Abbruch verkaufen wollen! Genau so, wie sie es mitdem Unteren, dem Esslinger und dem Ostertor getanhatte. Ähnlich wie in den 1960er Jahren war ein Mo-dernisierungssturm durch die Stadt gefegt. Heutzuta-ge heißt das „Sanierung“.

Zum Glück erhob die Staatsfinanzverwaltung da-gegen Einspruch. Sie war zuständig für das Geländeder ehemaligen Reichsburg. Die nördliche Mauer desTurmes diene ja als Wand des nunmehrigen Königli-chen Lehrerinnenseminars und als damals im Jahr1849 der als Holzmagazin genutzte ehemalige Vieh-stall zu einem Frauengefängnis ausgebaut hatte wer-den sollen, hatte man von der Stadt einige Meter Platzzwischen dem Obertorturm und der Stadtmauer ge-braucht. Die Arbeitshausverwaltung hatte sich dage-gen damals bereit erklärt, die Kosten zu übernehmen,die durch die Verlegung der Staffel zum Turmeingangentstanden. (Man kann sich diese Verlegung allerdingsschwer vorstellen, denn auf dem Stadtplan von 1831ist die Staffel bereits so eingezeichnet, wie sie heute ist.)

Im Juli 1889 meldete sich ein Vorläufer der Denk-malpflege zu Wort, Staatsfinanzrat Dr. Paulus, einMann, der durch das Königreich Württemberg zog unddie Altertümer zeichnete und inventarisierte. Erschrieb, dass es für die altberühmte Reichssturmfah-nenstadt Markgröningen im hohen Grad betrüblichwäre, wenn dieser Thurm niedergeworfen würde, weildie jetzt noch alterthümlich schöne Stadt viel von ih-rem städtischen und malerischen Charakter einbüßenmüßte. Wo immer in Württemberg Thorthürme nieder-geworfen worden seyen, sey darauf eine baldige, abermeist nicht mehr gutzumachende Reue gefolgt.14

Dem Mann müssen wir heute noch dankbar sein!In die Jahre gekommen bereitete der Torturm der

Stadt aber erhebliche Sorgen. Der Turmaufbau warseit langem schadhaft.1889 meinte der königlicheBezirksbaurat Herzog, dass eine Herstellung dessel-ben nur Flickwerk wäre, und daß ein Abwerfen des

Bild 14: Die alte Kerkertür (Foto: Martin Holzinger)

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gründlich schadhaften Aufbaues, die Mauerung deroffenen (östlichen) Seite des Thurms und die Bekrö-nung desselben mit einem auf Konsolen ruhendem stei-nernen Zinnengesimse und Herstellung einer auf ei-sernen Trägern ruhenden Plattform aus Beton dasBeste wäre. Dabei riet er noch, den oberen Turmauf-satz um einen Meter zu erhöhen, was ein starkes ei-sernes Gebälk erfordere. Kostenvoranschlag mindes-tens 5000 Mark.

Die „Stadtväter“ gingen in sich und schritten 1890zur Sanierung, nicht ohne vorher bei der Staatsfinanz-verwaltung 600 Mark und beim Konservatorium fürvaterländische Altertümer 400 Mark Zuschüsse lockergemacht zu haben. Weil der Hochwächter seine Woh-nung während der Bauarbeiten räumen musste, wur-de der Polizeidiener mit dem Aufziehen der Uhr be-auftragt.

Die TurmbewohnerEin älterer Markgröninger erinnert sich an die Er-

zählungen seines Großvaters, der noch den Schnei-dermeister „Gretel-Wild“ gekannt hat (1816-1895).Er wohnte auf dem Turm und hatte auch gleichzeitigdie Funktion des Hochwächters. Seine erste Frau hat-te Margarethe geheißen und ihm wohl den Spitzna-men eingebracht, zur Unterscheidung von den vielenanderen Familien Wild in Markgröningen. „Gretel-Wild dei Hütte brennt!“ hätten ihm die Buben oft nach-gerufen um ihn zu ärgern. Einmal habe er einen derKerle erwischt und im Turm eingesperrt. Jakob Wildwurde 1884 ins Spital aufgenommen15, sein Nachfol-ger auf dem Turm wurde Lorenz Gieg. – Ob der Tür-mer Ludwig, der auch die Gänse hütete, wie Toni Zell-er in ihrer hübschen Geschichte beschreibt16, nach Giegden Turm bewohnte, ist nicht klar. (Nach den Gemein-deratsprotokollen 1887-1891 war Jakob Löffler alterund neuer Gänsehirt gewesen).

Im „Dritten Reich“ war der Turm Treffpunkt derHitlerjugend geworden, im unteren Raum tagten die„Pimpfe“, darüber die HJ. 1935 wurden im 2. Stock

Bild 15: So könnte der Torturm vor den Renovierungsarbeiten der 1890er Jahre aus-gesehen haben (Idee und Zeichnung: David Zechmeister)

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zwei Räume von dem aus Mailand stammenden Kunst-studenten und Auslandsdeutschen Werner Dierlewan-ger ausgemalt.17 Restaurator Holzinger fand davonnoch Spuren eines „Kämpfenden“ an der Südwand.Dabei blieb unklar, ob die Malereien durch den Zim-merbrand 1943 zerstört oder später beseitigt wurden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Wohnungsnotwegen der vielen zerbombten Häuser und der immermehr werdenden Heimatvertriebenen so groß war,wurde Familie Preßburger in den Turm eingewiesen.Sie war mit sechs Kindern aus Ungarn vertriebenworden und hatte kurz in der Unteren Kelter Unter-schlupf gefunden. Dann bekamen sie einen großenRaum im Turm. Vorne wurde gekocht und gegessen,

hinten geschlafen, immer zwei Kinder in einem Bett.Maria erinnert sich noch, wie sie anfangs mit Blecht-ellern zur Mittagszeit ins „Ratstüble“ zogen. Die dor-tige Wirtin – Martha Walther – kochte für sie mit undversorgte sie auch gelegentlich mit Kleidung. – EinenWasserhahn gab es im Turm nur auf dem Gang, trotz-dem schaffte man es schließlich, zu kochen, zu wa-schen und zu baden. Ganz unten, neben dem Gefäng-nisverlies, war das Plumpsklo. Man sammelte im „Potde chambre“ oder in Eimern und trug es dann hinunter.

Friedrichs hatten im Spital gewohnt. Ihnen wurdeeine Wohnung im nächst höheren Stockwerk gerich-tet. Auch für sie gab es zunächst nur den einen Was-serhahn ... Zu den sechs Preßburger-Kindern kamenim Lauf der Zeit noch zwei dazu: Sepp und Kathiwurden beide im Turm geboren. Auch zu Friedrichskam die Hebamme auf den Turm. – Die älteren Press-burger-Kinder erhielten dann das Stockwerk überFriedrichs zum Schlafen. Man musste sich eben ar-rangieren und durfte keine großen Ansprüche haben.Das ehemalige Verlies teilten sich die Turmbewohnerals Keller.

Die letzten Bewohner des Turms waren eine türki-sche Familie, die ursprünglich in der Schlossgasse 3wohnte, der aber wegen Sanierung des Hauses gekün-digt wurde. Preisgünstiger Wohnraum war knapp, dieStadt konnte ihr nur den Turm anbieten, dort blieb siedann viele Jahre, bis sie sich im Jahr 2000 in Schwie-berdingen ein Haus kaufen konnte.

Die letzte größere Renovierung1986/87 war der Turm zuletzt renoviert worden. Die

Verkleidung über der Plattform aus verzinkten Blech-plättchen aus den Jahren 1892/96 wurde entfernt. DasFachwerk der ersten drei Etagen auf der Ostseite wur-de freigelegt, da es aus Eichenholz gefügt ist, wird esvoraussichtlich noch viele Jahre halten. Das Fachwerkdes Spitzbogens war schadhaft gewesen und wurdeschon 1892 durch Mauerwerk ersetzt, das jetzt ausoptischen Gründen von außen verbrettert wurde. Die

Bild 16: Der Turm war bis ins Jahr 2000 bewohnt (Foto:Eduard Haidle)

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Uhr wurde renoviert und erhielt ein neues Zifferblattund das eiserne Gestänge auf der Turmspitze wurdesaniert. Von der Firma Bachert in Heilbronn wurdeeine neue Glocke gegossen, deren Klang zuvor mitden übrigen Markgröninger Glocken abgestimmt wur-de. Darauf steht:

SCHLAGGLOCKEOBERES TOR

STADT MARKGRÖINGENGEGOSSEN IM AUGUST 1987

Bild 17: Mit einem Riesenkran wurde 1987 die neue Turm-spitze hochgehievt (Foto: Stadtbauamt)

Möglicherweise wurde ihre Vorgängerin im 2. Welt-krieg abgenommen, was das Schicksal vieler Glockenwar. Schon im Gemeinderatsprotokoll von 1924 ist zulesen: Für die 1917 im Krieg geopferten Glocken desRathausturms und des Oberen Torturms werden neuebeschafft. Die geopferte Glocke war bereits 1892 zer-sprungen gewesen und umgegossen worden. 1987wurde auch die Kugel auf der Turmspitze erneuert –die alte war zerschossen – und das ganze Werk miteinem neuen Adler gekrönt.

Bild 18: Die Spitze ist aufgesetzt (Foto: Stadtbauamt)

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Der Bürgerverein und seine ArbeitDer Obertorturm stand gerade mal ein paar Monate

leer, da wuchs bei einigen Bürgern die Überzeugung,dass es ein Jammer sei, wenn man ein so markantesaltes Bauwerk vor sich hin dämmern ließe und demVerfall preisgäbe. Wünschenswert wäre vielmehr, dassdie Öffentlichkeit den Turm wieder begehen könnteund er mit Leben erfüllt würde. Eine Sanierung wärein jedem Fall ein Gewinn für die Stadt. Doch leiderstanden keine finanziellen Mittel dafür zur Verfügung.

Die Vorstellungen, wie dennoch etwas bewegt werdenkönnte, nahmen rasch genauere Formen an und nach ei-nigen Gesprächen mit der Stadt als Besitzerin des Turmsfand am 9. Mai 2000 die Gründungsversammlung desBürgervereins statt. Von zwanzig anwesenden Bürgerin-nen und Bürgern wurden neunzehn spontan Mitglied.Sie wählten aus ihren Reihen Christa Kretschmer zur 1.Vorsitzenden, Fritz Fendrich zum 2. Vorsitzenden, Ar-min Hausmann zum Kassenverwalter, Sonja Morbitzerzur Schriftführerin und Marion Immendörfer zur Pres-sewartin. Ohne Vereinsgründung gäbe es keine Zuschüs-se von der Denkmalpflege und keine Kredite. Die Fi-

nanzierung der Innenrenovierung (für außen ist wei-terhin die Stadt zuständig) baut auf Eigenleistung derMitglieder und Freunde des Projekts, auf Mitglieds-beiträge und Spenden sowie Aktionstage des Vereins.

Wenn auch über die Nutzung noch kein festes Kon-zept bestand, so war doch klar, dass das Gebäude spä-ter allen örtlichen Gruppen und Vereinen zur Verfü-gung stehen sollte, ein Treffpunkt auch für Jung undAlt, ein Forum für Kunst und Kunsthandwerk und vorallem eine zusätzliche Attraktion bei Führungen durchden historischen Stadtkern werden sollte.

Der erste große Erfolg war der Tag des offenenDenkmals 2001. 1400 Besucher freuten sich an derschönen Aussicht vom Turmkranz und an der Ausstel-lung eines jungen Markgröninger Künstlers. Auch dieGeschichte des Torturms und die Arbeit des Bürger-vereins fanden erfreulich viel Beachtung.

Nach mühevoller erster Entrümpelung des Turmswurde in zahlreichen Treffen mit der Stadtverwaltung,dem Stadtbauamt, dem Landratsamt und dem Landes-denkmalamt die Bausubstanz untersucht und mit dembegleitenden Architekten Peter Leiberich ein Sanie-rungs- und Restaurierungskonzept entwickelt.

In der folgenden Zeit gab es zahlreiche Arbeitsein-sätze im Turminneren von Mitgliedern und auch Nicht-mitgliedern unter fachkundiger Anleitung von Mark-gröninger Handwerkern. Zuerst musste die steileBlockbohlentreppe gesichert und der Kranz am Um-gang erhöht werden, um Unfällen vorzubeugen. AlleZwischenwände aus neuerer Zeit wurden entfernt,nachdem sie vorher schichtweise auf eventuell erhal-tenswerte Spuren untersucht worden waren. An denübrig gebliebenen Außenwänden wurde der Putz sorg-fältig abgeschlagen. Sie sollen als Natursteinwändeden Charakter des Turms auch im Innern widerspie-geln. Decken aus neuerer Zeit mussten herausgenom-men und morsche Holzböden aus Sicherheitsgründenentfernt werden, sie sollen mit altem Holz wieder be-legt werden. Auch der Kamin musste weichen. Nochgibt es immens viel zu tun.

Bild 19: Ganze Berge von Müll wurden aus dem Turm ent-fernt (Foto: Marion Immendörfer)

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Anmerkungen

1 Schriftlicher und fotografischer Bericht usw., Auszüge2 Werner Fleischhauer, S. 333 Volker Trugenberger, S. 139 f4 HStAS, H 101, Band 1079a, S. 6 f5 Fleischhauer, S. 236 Fleischhauer. S. 337 Resch übernimmt am 11.3.1559 letztmals eine Patenschaft8 Trugenberger, S. 1449 Barbara Scheck οο Bastian Wächter

Maria Scheck oo Johann Kegelin, vor 1558 BürgermeisterCatharina Scheck oo Veit Wächter, GlemsmüllerJudith Scheck oo Johann Lang, 1560 Bürgermeister

10 HStAS, A 28a M 151

11 In Bietigheim hat vermutlich dieser Meister Kilian einen Brunnengebaut, der leider nicht mehr steht, nur die Rechnung ist noch da.

12 HStAS, 28a M 19313 zwischen hiesiger Stattmauern und deren graben, im von gedach-

ter Stattmauren durch einen gang abgesondert und freystehen-der Thurn, worinnen sich obenher der gemeine Burger- undenaber der Boden Thurn befindet, weswegen hiesiger Vogt Andlerschon öfters begehrt, das darauf befindlich sehr abgängige Blat-tendach solte von der Statt- und Amtspfleg reparirt werden(HStAS,.A 206 Bü 2136)

14 StadtA M, GRP 1889-1892, fol 17615 StadtA M, GRP 1884, fol 140b16 Markgröningen – Menschen und ihre Stadt, S.6417 StadtA M, M 07 Bü 694, Auskunft Frau Dr. Schad

Der Obertorturm ist eines der Wahrzeichen der Stadtund genau wie das Vimpelinhaus nicht wegzudenken.Die lieben Alten ließen ihn bauen, die „lieben Jun-gen“ haben die Pflicht, ihn zu erhalten.

Quellen

HStAS, A 28a M 151HStAS, H 101, Band 1079aStadtA M, Schriftlicher und fotografischer BerichtMarkgröningen, Oberer Torturm, Februar 2002. Ge-fertigt für den Bürgerverein Markgröningen: Atelierfür Restaurierung Martin Holzinger, Tübingen undBüro für Bauforschung Tilman Marstaller, Rottenburg-OberndorfStadtA M, GRP 1884, fol 140bStadtA M, GRP 1889-1892, fol 176StadtA M, M 07 Bü 694StadtA M, Sal- und Lagerbuch 1751-54

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