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D O C U M E N T A
Brauchen wir Kunst?
Und wenn ja, wozu? In Kassel hat die Documenta erffnetund eine aufregende Kontroverse ber zeitgenssische Werkeentfacht.VON Christoph Menke | 14. Juni 2012 - 08:00 Uhr
BARBARA SAX/AFP/GettyImages
Ein Besucher fotografiert das Kunstwerk "The Disobedient (The Revolutionaries), 2012" derfeministischen kroatischen Knstlerin Sanja Ivekovic.
Jede Documenta entwirft einen Begriff der Kunst . Das ist der Sinn der Documenta:
Sie fragt, wie und wozu es Kunst gibt. Das unterscheidet sie von allen themen- oder
ortsbezogenen Ausstellungen und vor allem von den Biennalen der Gegenwartskunst.
Der emphatische Gegenwartsbezug einer jeden Documenta liegt nicht darin, dass sie
aktuelle Kunst zeigt oder ein dringliches Thema inszeniert. Eine Documenta ist nicht
gegenwrtig durch ihre Objekte und ihre Themen, sondern weil sie die Frage nach dem
gegenwrtigen Begriff der Kunst stellt. Deshalb verwandelt jede Documenta die Frage nach
der derzeitigen Lage der Kunst in die Frage nach der Kunst in unserer derzeitigen Lage.
Jede Documenta arbeitet am Begriff der Kunst. Aus diesem Grund ist die Auswahl der
Werke weder rumlich noch zeitlich begrenzt. Es war bereits die Absicht der ersten
Documenta, Kunst von anderswo zu zeigen. Dafr ist Kassel seit dem Krieg die Stadt
ohne Eigenschaften, eine Stadt, die berall liegen knnte der beste Ort. Weil Kassel
nichts Eigenes hat, ist hier jeder und alles fremd. Das machte den Documentas den Ausgriff
auf Kunstwerke von berall her mglich. Eine Documenta zeigt Kunstwerke aus ganz
verschiedenen Kontexten . Aber sie stellt die Kunstwerke nicht in ihren Kontext zurck,
sondern lst sie aus ihm heraus. Eine Documenta bringt die Freiheit zur Erfahrung, mit der
die Kunstwerke den Kontext ihrer Herkunft bersteigen.
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Indem jede Documenta nach dem gegenwrtigen Begriff der Kunst fragt, gibt sie bereits
eine Antwort: Sie versteht ihn als den Begriff einer Kunst, die sich durch radikale
Selbstbefragung selbst bestimmt. Darin liegt der Modernismus, der mit der Documenta
als Ausstellungsform verbunden ist. Ohne an diesem modernistischen Begriff einer sich
selbst befragenden Kunst festzuhalten, wrde die Documenta zu einem Ort der Beliebigkeit
werden. Beliebigkeit aber bedeutet siehe Vittorio Sgarbis widerliche Inszenierung
auf der Biennale in Venedig Zynismus. Es gibt keinen greren Gegensatz dazu als
die Konsequenz, die Adorno aus der Einsicht gezogen hat, die der erste Satz seiner
sthetischen Theorie festhlt: da nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverstndlich
ist, weder in ihr noch im Verhltnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht. Adornos
Konsequenz aus dieser Einsicht lautet: zweite Reflexion weiterdenken.
DER AUTOR
Christoph Menke ist Professor fr Praktische Philosophiean der Goethe-Universitt in Frankfurt. Als Teilnehmer derDocumenta 13 gestaltet er eine Vortragsreihe zum ThemaWas ist Denken?
Eine Kunst, die sich durch radikale Selbstbefragung bestimmt, begreift sich als radikales
Experiment der Form. Ein Kunstwerk kann nur etwas darstellen, indem es eine Form
herstellt; in der Kunst geht es um das Machen von Formen. Der Grund und Anfang der
Formwerdung, die das Kunstwerk ist, kann aber nur das Formlose sein. So sind die Zonen
der Unbestimmtheit, mit denen Gerhard Richter seine Gestalten umgibt, der Grund der
Formlosigkeit, aus denen sie hervorgehen; so ist der Tanz der Striche, den Jasper JohnsBilder auffhren, nicht gestisch, nicht Ausdruck eines Inneren, sondern das Spiel, in dem
Ordnungen zugleich gebildet und aufgelst werden.
Warum es nicht ausreicht, die Kunst als Kritik zu definieren
Das Formlose als Grund der Form hat die Moderne seit Nietzsche auf ganz verschiedene
Weise benannt: als Spiel, Chaos, Rausch, Zufall, Materie oder Leben. Immer aber geht es
darum, das Kunstwerk als das Geschehen der allerunwahrscheinlichsten Verwandlung zu
begreifen: des Hervorgehens der Form aus dem Formlosen. Unwahrscheinlich ist diese
Verwandlung, weil sie durch nichts abgesichert ist. Man kann nicht vorweg und allgemein
wissen, wie und ob sie gelingen wird; man kann es daher auch nicht knnen. Das macht
jedes Kunstwerk zum Experiment: zum Experiment mit einer bestimmten Weise, einer
bestimmten Strategie des Machens einer Form aus dem Formlosen.
Wenn eine Documenta nach dem Begriff der Kunst fragt, dann fragt sie danach, wie
die Kunst die Formwerdung aus dem Formlosen vollziehen kann. Sie fragt danach,
ob diese Weisen und Strategien uns berzeugend erscheinen; ja, ob es berhaupt noch
Weisen und Strategien gibt, in denen diese Experimente so geschehen, dass sie fr das
Ganze (Adorno) von Bedeutung sind, weil sie aufs Ganze gehen worin also das
Existenzrecht (Adorno) der Kunst gegenwrtig besteht.
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Wenn der Modernismus einer jeden Documenta darin liegt, dass die Kunst mit dem Begriff
und der Mglichkeit der Kunst experimentiert, dann mssen auch die Strategien befragt
werden, mit denen die Kunst die Frage nach ihrer Mglichkeit seit den 1960er Jahren zu
beantworten versucht hat. So viel ist richtig an der These von Arthur Danto, dass in der
Kunst seit Warhol alles gehe: Es ist nicht mehr klar, wie es geht, vor allem, ob es so wie
bisher weitergeht. Dieser Zweifel betrifft vor allem zwei Strategien der Gegenwartskunst.
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Eine Frau liest in der Audio-Installation "Il Processo (The Trial), 2010-2012" der Knstlerin RossellaBiscotti einen Text.
Die erste Strategie bindet die Selbstbefragung der Kunst an die Kritik ihrer Institutionen,
und zwar nicht nur an die Kritik der Museen, sondern aller gesellschaftlichen Institutionen,
aus denen sie hervorgeht. Die Kritik der Kunst beginnt damit, dass das Bild sich (so bereits
in Eva HessesHang Up) als Teil einer rumlichen Situation begreift und diese in sich
reflektiert. Und sie endet damit, dass das knstlerische Bild (virtuos in den Arbeiten und
Ausstellungen von Alice Creischer) zum Medium der kritischen Reflexion der politischen,
konomischen und ideologischen Funktionen der Bildproduktion in einer Gesellschaft der
Bilder wird.
Aber indem diese Strategie die Kunst als Kritik definiert, macht sie sie wiederum
zum Mittel eines anderen, eines Gegenzwecks: Die Kunst soll die Wahrheit ber die
Institutionen sagen. Das heit aber: Die Kunst wird darauf festgelegt, ein Medium
kritischen Wissens zu sein. Weil die Kunst jedoch zugleich mehr und weniger als kritisches
Wissen ist; weil die Selbstbefragung der Kunst auch noch der Kritik gilt, die sie leistet und
deshalb nicht Kritik ist, verselbststndigt sich das kritische Wissen. Es zieht sich in die
Texte der Ausstellungen und Kataloge zurck, denen gegenber die Kunst leer und stumm
zurckbleibt. Ohne ihren Text wird sie bloe Dekoration.
Eine zweite Strategie der mit sich selbst experimentierenden Kunst ist das Gegenteil
zur Kunst als Kritik: die Kunst als Geschmack, eine Kunst der sinnlichen Effekte und
Phnomene. Das kann im heftigen Schock des Ekels geschehen (wenn Teresa Margolles
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die Besucher durch Dampf aus dem Wasser von Leichenwaschungen schickt) oder in der
subtilen Erkundung der Gesetze und Illusionen des Wahrnehmens bei Olafur Eliasson.
Die Experimente der Kunst sind hier Experimente des sinnlichen Scheins; dann ist dieKunst das Medium eines Erlebens des Erlebens, eines Schmeckens des Schmeckens durch
die Produktion von Oberflchen, die sich (wrtlich bei Jeff Koons) in sich selbst spiegeln.
Diese Strategie bietet Gelegenheiten fr den sich selbst genieenden Genuss. Dadurch wird
die Kunst zu einer Kunst der Oberflche und Effekte, sie wird eine Kunst der Bastler und
Handwerker eine Kunst, die ihr Knnen ausstellt. So definiert diese Kunst Kunst: als
ein Machen-Knnen, das sich verbergen kann. Die Kunst, die nur Oberflche sein will,
ist zugleich eine Feier handwerklicher Meisterschaft. Bloe, sinnliche Oberflche, ohne
Sinn und Gehalt, ohne Kritik und Wissen und die Bewunderung souverner Meisterschaft
entsprechen einander; so wie Andreas Gurskys riesenhafte Fotobilder ihre Montiertheit
nur verbergen, um sie so auszustellen, dass sie als Operationen der Selbstverfertigung
eines wahrhaft bermenschlichen Knstlerblicks bewundert werden knnen. Hier ist das
sthetische nicht mehr (nach Borges Bestimmung) das Bevorstehen einer Offenbarung,
zu der es nicht kommt, sondern ihre bloe Abwesenheit ja, ihre erschpfte Erfllung in
der Selbstoffenbarung des Knstlers.
Die Kunst als Wissen gegen die Kunst als Oberflche, die Kunst der Kritik gegen
die Kunst des Geschmacks: So lautet eine Beschreibung dieses Gegensatzes. Politische,
eingreifende Kunst gegen die Kunst des Marktes ist eine andere Weise, diesen Gegensatz
zu beschreiben. Was aber, wenn heute beide Seiten falsch geworden sind? Wenn sich
erweist, dass beide Strategien zuletzt die Idee der modernen Kunst preisgeben, die in
jedem Moment die Frage nach ihrer Mglichkeit stellt: die eine zugunsten der Sicherheit
des kritischen Wissens, die andere zugunsten des Staunens vor den sinnlichen Effekten
knstlerischen Knnens? Wenn das zutrifft, kann eine Kunst, die die Frage nach ihrem
Begriff stellt, heute nur jenseits dieses Gegensatzes liegen.
Die Frage nach Formen der Kunst jenseits des Gegensatzes von Kritik oder Geschmack,
von Wissen oder Staunen ist die Frage nach der Form der Kunst: die Frage nach einer
Form, die aus der Erfahrung des Formlosen der Erfahrung des Rausches und des Spiels
der Krfte hervorgeht und deshalb diese Erfahrung in sich trgt. Wozu aber brauchen wir
berhaupt diese Formen? Wozu brauchen wir berhaupt Kunst?
Genauer gefragt: Wozu brauchen wir eine Kunst, die ein Experiment mit ihrer eigenen
Mglichkeit ist, in einer Gesellschaft, die so der Ordoliberale Franz Bhm Ende der
1960er Jahre selbst ein Experimentiersystem ist? Die kapitalistische Gesellschaft bt
Herrschaft auf eine neue Weise aus: nicht indem sie ein bestimmtes Verhalten vorschreibt,
sondern die Verhaltensweise, immer weiter und wieder auszuprobieren, mit welchen
Strategien man Erfolg hat. Die kapitalistische Gesellschaft erzwingt die Haltung des
Dauerexperiments eines jeden mit sich selbst, mit den eigenen Handlungen, mit den
eigenen Fhigkeiten, ja, dem eigenen Sein.
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Der Kapitalismus verdammt uns zum Experiment des Schicksals
Dem permanenten Selbstexperiment entspricht ein gesellschaftlicher Prozess, der dem
Einzelnen als Schicksal (so Bhm weiter) erscheinen muss. Als Schicksal erscheint dieGesellschaft dem Einzelnen, weil er die Folgen seines Handelns, Erfolg oder Misserfolg,
nicht vorhersehen und durchschauen kann. Jeder Einzelne experimentiert, um dem
Schicksal des eigenen Scheiterns zu entgehen, und deshalb scheitern alle zusammen,
aber nicht gemeinsam, an der Gesellschaft als Schicksal. Das Experiment, zu dem die
kapitalistische Gesellschaft uns verdammt, ist das Experiment des Schicksals.
Das Experiment der Kunst dagegen ist das Experiment der Freiheit. Die Spielrume, die
wir im gesellschaftlichen Handeln ausloten mssen, sind keine Rume des Spiels; denn
sie stehen unter dem Gesetz des Erfolgs, des berlebens. Diesem Gesetz des bloen
berlebens will der evolutionstheoretische Biologismus auch die Kunst unterordnen.Das Formlose, der Rausch und das Spiel der Krfte, aus dem heraus die Form der Kunst
sich hervorbringt, ist aber die Freiheit von jeder Bestimmung die Freiheit radikaler
Unbestimmtheit, unendlicher Negativitt. Die Selbsthervorbringung der Form in der Kunst
ist frei, weil sie aus Freiheit, aus der Freiheit des Formlosen heraus, geschieht. Die Kunst
ist das Gegenexperiment zu den Schicksalsexperimenten, die wir gesellschaftlich bei Strafe
des Scheiterns vollziehen mssen. Dazu brauchen wir die Kunst: um die Mglichkeit
der Freiheit jenseits der Spielrume gesellschaftlicher Anpassung und ihrer biologischen
Ideologie zu erfahren.
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