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    Wer kann heute schon mit Bestimmtheit

    voraussagen, wie sich die konomie der

    One-World entw ick eln wird?

    Bietet der Neomarxismus Analyseanstze,

    mit denen sich der scheinbar eigendyna-

    mische Lauf der Dinge beeinflussen lt ?Fnf bekannte KapitalismuskritikerInnen

    stellen ihre Theorien zur Diskussion.

    IGR

    ote

    Fabrik/Zrich

    (Hg.)

    K

    rise

    welche

    Krise?

    Edition

    ID-Archiv

    Edition

    ID-

    Archiv

    ISBN:

    3-89408-045-0

    Krise w elche Krise?Res StehleErnest MandelRobert KurzMaria MiesKarl Heinz Roth

    IG-Rote Fabrik/ Zrich (Hg.)

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    Krise welche Krise?

    Edition ID-Archiv

    Berlin Amsterdam

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    IG Rote Fabrik/ Zrich (Hg.)

    Krise welche Krise?Res Strehle, Ernest Mandel, Robert Kurz,

    Maria Mies, Karl Heinz Roth

    Edition ID-Archiv

    Berlin Amsterdam

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    Vorwort

    Der Aufschwung beginnt im Kopf betitelten 1994 einigeTopwerbeleute eine Plakatkampagne. Sie versuchten damitzu suggerieren, da die von der Krise Betroffenen in einer

    Art Delirium vor sich hinsiechen und deshalb nicht auf denGedanken kmen, ihre persnliche Situation selbst in dieHnde zu nehmen und sich ganz einfach an den eigenenHaaren aus dem Sumpf zu ziehen. Die Botschaft war klar:

    Die Schuldigen an der Krise sind die von ihr Betroffenen.Damit wre das Thema Krise endlich so positioniert, dasich die Deregulierenden nicht mehr mit ihren Opfern aus-einandersetzen mssen. Wer zum Beispiel keiner Erwerbs-arbeit nachgeht, ist selber schuld und hat nicht automatisch

    Anrecht auf Arbeitslosengeld; dieser Logik folgend werdennun die betreffenden Gesetze verndert.

    Das Kulturzentrum Rote Fabrik in Zrich hat im Herbst1994 mit dem ersten Teil der Veranstaltungsreihe Krise

    welche Krise? einige in Europa wichtige Krisentheoretikerund eine Krisentheoretikerin zu Wort kommen lassen. Die-se Referate liegen hier in zum Teil berarbeiteter Fassung

    vor. Die fnf Referate sollen der Auftakt zu einer lngeren,kontinuierlicheren Auseinandersetzung zum Thema Arbeitund Krise sein.

    Uns ist klar, da eine Diskussion ber Krise und Wider-stand auch konkrete Praxis beinhalten mte. Davon ist zu-mindest im deutschsprachigen Raum wenig zu spren. Die

    versprengte Restlinke ist notwendigerweise mit dem ThemaRassismus beschftigt sie vergit dabei jedoch manchmal,da der tgliche Rassismus gegen MigrantInnen sehr vielmit deren Ausbeutung als billige, schnell abschiebbare Ar-

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    gegenwrtigen konomischen Situation in der Schweiz. Er-nest Mandel, der unermdliche Aktivist der vierten Interna-tionalen, schickt seinem Referat ein erheiterndes dieses

    Mal irre ich mich nicht voraus und erklrt ein weiteres Malin aktualisierter Form sein Modell der langen Wellen der

    kapitalistischen Entwicklung. Das entscheidende Problemder derzeitigen Wirtschaftspolitik sei, da eine staatlicheKontrolle ber den ungeheuren Umfang freischwebenderGelder praktisch unmglich sei und eine Sanierung des Sy-stems einen sehr hohen Preis verlange, so da die lange

    Welle der kapitalistischen Depression anhalten werde. Ma-ria Mies sieht die gegenwrtige Krise als Chance zum Aus-stieg aus der Akkumulationslogik, da sie nicht nur eine ko-nomische, sondern auch eine politische, soziale und ethische

    sei. Den freien Markt bezeichnet Maria Mies als Euphe-mismus fr Gewalt, Armut, Macho-Gehabe, Ausbeutungund Hunger, neue Konzepte fr Wirtschaft und Gesell-schaft sollten auf lokale und regionale Produktion sowieSubsistenzwirtschaft aufgebaut sein. Die Ausfhrungen vonRobert Kurz ber den unvermeidlichen Kollaps des kapitali-stischen Systems und der Finanzmrkte hinterlieen beimPublikum einige offene Fragen ber die postkapitalistischeZeit und was eigentlich zu tun sei, um sich darauf vorzube-reiten. Karl Heinz Roth versucht in seinem Beitrag die amKonkret-Kongre 1993 und in seinem Buch Die Wieder-kehr der Proletaritt entwickelten Szenarien weiter auszu-bauen und setzt mit seinem Votum fr den Aufbau und die

    Vernetzung der bestehenden oder neu entstehenden Bewe-gungen die Sache des Widerstandes gegen die kapitalistischeEntwicklung wieder in den Vordergrund.

    Wir hoffen, mit dem Abdruck der Referate die Diskussi-on etwas weiter voranzutreiben.

    Konzeptgruppe Rote Fabrik, Zrich

    Vorwort 9

    beitskrfte zu tun hat. Bezeichnend ist, da sich auch malUnternehmerverbnde gegen die Abschiebung spezifischerGruppen von AsylbewerberInnen wehren (jngst in derSchweiz z.B. der konservative Wirteverband gegen die Aus-schaffung von TamilInnen). Das Gegeneinander-ausspielen

    von MigrantInnen und Eingesessenen mit mehr oder weni-ger klaren rassistischen Untertnen funktioniert bestens.Vor zehn Jahren war die Behauptung, Wohnungsnot oderArbeitslosigkeit sei den vielen AuslnderInnen anzula-sten, noch vornehmlich in Programmen der rechtsextremenParteien zu finden. Heute bedienen sich mehr und mehr ar-rivierte PolitikerInnen dieser Argumentationsweise. Dane-ben luft der Sozialabbau schon fast reibungslos, werdeneinstige Tabus wie Lohnabbau und Rentenaltererhhung

    mit bestrzender Leichtigkeit geknackt und mit der Er-klrung verpackt, da wir uns gegen den Rest der Weltzu behaupten htten und daher unsere Wirtschaft ab-specken msse Identittsbildung noch beim Abzocken.

    Die von uns eingeladenen ReferentInnen sind keineWunderbringer. Was sie auslsen knnen, sind Diskussio-nen zur besseren Einschtzung aktueller Entwicklungen und

    Mglichkeiten von Organisierung der Ausgebeuteten. Zuhoffen ist, da ihre unterschiedlichen Herangehensweisenund Schwerpunkte enge Blickwinkel ausweiten und inner-linke Widersprche offenlegen. Eher uninteressant wre da-bei, wenn alles beim alten linken Spiel bliebe, sich gegensei-tig Fehleinschtzungen vorzuhalten und Wortklauberei zubetreiben. Jede linke Krisenanalyse, die nicht der aktuellenEntwicklung hinterherhinken will, mte sich eigentlich als

    Werkzeug zur Findung neuer Handlungsmglichkeiten freinzelne und Gruppen, zum Widerstand gegen postfordisti-sche Konzepte und deren eigendynamische Ausbeutungs-gier bewhren, sich an der Praxis messen.

    Res Strehle hat die Veranstaltungsreihe in der Roten Fa-brik erffnet. Sein Referat gibt einen berblick ber dieneueren Krisentheorien in der Linken und seine Sicht der

    8 Vorwort

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    Res Strehle

    Marktwirtschaft auf freier WildbahnAchtzehn Thesen zur Krise

    1. Jede konomische Analyse mu sich vorgngig ihrer be-schrnkten Reichweite bewut sein: Sie ist ein kleiner Aus-schnitt von Theorie, vorlufiger Stand des Irrtums und nurbegrenzt mobilisierend. Versuche, sie zwecks Mobilisierung

    zu forcieren und mit endzeitlichen Begriffen wie Sptkapi-talismus zu unterlegen (Ernest Mandel, 1972), erscheinengut zwanzig Jahre spter als gutgemeinte Aufbruchshoffnun-gen am untauglichen Objekt. Das Verhltnis zur politi-schen konomie darf andererseits aber auch kein Konsum-

    verhltnis sein. Minimalziel mu eine aktive Beteiligung allervon Verwertung Betroffenen an der kollektiven Analyse un-ter gleichzeitiger Abkehr von gesamtgesellschaftlichen Wir-alle-Perspektiven sein. Zu vermeiden sind vorab die gngig-

    sten Fragestellungen: Was will die BRD? Droht der Schweizdie Isolation? Liebt Liechtenstein sein Frstenhaus? Auchvor allzu platten, unvershnlichen Wir-sie-Gegenstzen istzu warnen, etwa jenem zwischen Kapitalisten und lohnab-hngigem Proletariat. Maximalziel ist eine differenzierteKlassenanalyse in der weltwirtschaftlichen Dimension. Wersind die Jger? Wie haben sie sich mit den Lwen arrangiert?

    Wie sind die Reviere aufgeteilt? Welche Rolle spielt derken(es)yanische Staat? Der Internationale Whrungsfonds

    (IWF)? Und wie stehts mit dem Mut der Antilopen? MssenVegetarier zeitlebens Opfer bleiben? Marktwirtschaft auffreier Wildbahn ist keine Sonntagsschule.

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    hngige, eigene Subjektivitt und Handlungsfhigkeit. ObKrise oder nicht, gelte oder harzige Kapitalverwertunghngt entscheidend auch von unserem Verhalten ab zwi-schen den Polen Komplizenschaft/Anpassung bzw. Verwei-gerung/Widerstand je kollektiver wir uns verhalten, um so

    sprbarer.5. Die Krisentendenz ist keine Folge ungeschickter staat-

    licher Eingriffe, sondern mit Marktwirtschaft untrennbarverbunden und hngt mit dem Widerspruch zwischen demRationalisierungswettlauf der Kapitalisten und dessen ge-samtgesellschaftlichen Folgen zusammen. Je freier der

    Markt in den Metropolen, um so kapitalintensiver die Pro-duktion, um so grer auch das Miverhltnis zwischen derstark wachsenden Nachfrage nach Investitionsgtern und

    der vergleichsweise zurckbleibenden Nachfrage nach Kon-sumgtern. Je mehr Markt also, um so mehr Effizienz kom-petitiver Unternehmer, um so mehr aber auch gesamtwirt-schaftliches Ungleichgewicht.

    6. Krise hat aus Sicht der Kapitalverwertung ein Doppel-gesicht: stndig drohender Betriebsunfall bis zur langfristi-gen Zusammenbruchsperspektive einerseits, Krisenangriffim Sinne der Nutzung oder gar Provokation des Ab-schwungs als Voraussetzung zur Wiederherstellung neuer

    Verwertungsbedingungen andererseits (sogenannte entge-genwirkende Tendenzen). Kapital geht damit hnlich halb-freiwillig und mit demselben behaglichen Schaudern in dieKrise wie Kinder auf eine Geisterbahn. Denkbar genauso,da es am Ende gestrkt herausfhrt, wie da es eines Tagesnicht mehr herausfhrt.

    7. Seit der Weltwirtschaftskrise von 1857/59 hat der Kri-senangriff seinerseits das Doppelgesicht von Neuordnung

    der Art und Weise, wie die Werte angeeignet werden (Akku-mulation) sowie der Art und Weise, wie diese Wertaneignungreguliert wird (Regulation). So wichtig es ist, diese beiden

    Marktwirtschaft auf freier Wildbahn 13

    2. Der Begriff Krise ist so, wie er im folgenden verwendetwird, nicht moralische, sondern konomische Kategorie. Erbezeichnet damit weder Hunger, Elend noch Umweltkata-strophen, noch Sinn- oder Staatskrisen, sondern einzig undallein eine tiefgreifende, langandauernde Infragestellung von

    rentabler Kapitalverwertung. Er bezeichnet mehr als einenkurzfristigen, vorbergehenden Einbruch der Wirtschaft(Rezession) und deutet in letzter Konsequenz den mgli-chen Zusammenbruch von Kapitalismus an. Ausgangspunktder Verwertungskrise ist nach wie vor die produktive Sphre(Wertschpfung und -aneignung, Akkumulation), abgeleitetdavon betroffen und ihrerseits neue Ursache die Zirkulati-onssphre (berakkumulation). Mathematisch lt sich dieFrage der Krise auf die Hhe des Strichs in der alten Marx-schen Formel G (ursprngliches Geldkapital) W (damitproduziertes Warenkapital) G (neues Geldkapital nach

    Verkauf des produzierten Warenkapitals am Markt) reduzie-ren.

    3. Krise ist aber nicht nur einfach konomisch-techni-sches oder gar mathematisches Ergebnis stockender Kapi-talverwertung, sondern Ergebnis eines tendenziell ge-genstzlichen Verhltnisses zwischen den Subjekten (Trge-rInnen) und den Objekten (Betroffenen) von Kapitalverwer-

    tung. Ob sich ein Phnomen wie etwa der im groen Stil ge-plante Massentourismus in der Sdtrkei durchsetzt, ent-scheiden letztlich weniger die Preisstruktur des Weltmarktsund die Konsumkraft von MetropolentouristInnen (wieetwa Robert Kurz meint) als die praktische Ausdrucksweisedes Einverstndnisses bzw. der Verweigerung mit dieser Art

    von Verwertung hier und dort und zwar weit gefat (mitinbegriffen jeder Widerstand nationaler, sozialer und kolo-gischer Bewegungen dort wie auch die moralischen Skrupel

    mglicher KonsumentInnen hier).4. Wir haben, wie alle lebendigen Objekte von Kapital-

    verwertung, zustzlich eine von der Kapitalbewegung unab-

    12 Res Strehle

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    ria Mies, Claudia v. Werlhof). Gerade die Dialektik vonMehrwertaneignung aus Lohnarbeit und Wertraub aus un-freier Arbeit hat historisch zur Durchsetzung neuer kapitali-stischer Gesellschaftsformen gefhrt (siehe dazu etwa dieKriegsaktualitt im Aufschwung nach dem Kriseneinbruch

    von 1857/59, den Zusammenhang zwischen Fordismus,Prohibition und 1. Weltkrieg in den USA, Nationalsozialis-mus, 2. Weltkrieg und nachholender Fordisierung Europasoder auch zwischen Stalinismus und Staatsfordismus in derSowjetunion).

    9. Im Unterschied zu frheren Kriseneinbrchen (undbelehrt durch sie) hat sich Kapital mittels einer Gloca-lism-Strategie (global denken und planen, lokal handeln)unempfindlicher gemacht gegen regionale Kriseneinbrche,

    gleichzeitig beweglicher in der Ausntzung regionalerBooms und in der Rentenabschpfung auf aufstrebenden

    Mrkten (emerging markets). 140 Jahre Krisenerfah-rung und Bestrafung von Dinosaurier-Verhalten haben Be-

    weglichkeit und Flexibilitt gefrdert und damit jenes Kapi-tal laufend gestrkt, das schon der Form nach die hchsteBeweglichkeit hat: weder branchenmig noch regional ab-hngiges, noch stoffwertgebundenes Finanzkapital. Wichti-ger und damit hher belohnt wird die richtige Erwartung

    des zuknftigen Ertrags (Boom der Finanzmrkte) sowie derzu erwartenden Differentialrente von Boden (Immobilien-spekulation).

    Dem Rationalisierungswettlauf der in der produktivenVerwertung ttigen Realkapitalisten entspricht der Wettlaufder Finanzkapitalisten um die mglichst frhzeitige Ab-schpfung der Ertrge aus der realen Verwertung in Form

    von den die Ertrge so frhzeitig wie mglich vorwegneh-menden Kursgewinnen auf Finanztiteln und abgeleiteten Fi-

    nanzinstrumenten (Derivativen). Die Dividende (eigentli-cher Beteiligungsertrag der Eigentmer) wird so zum weniginteressanten, letzten Beutezug des Kleinaktionariats auf das

    Marktwirtschaft auf freier Wildbahn 15

    Bereiche gedanklich zu trennen, so kurz greift es, ein politi-sches Programm als Programm anderer (sozialer oder kolo-gischer) Regulation zu formulieren (wie es etwa Ernest Man-del schon 1972 macht). Ohne fundamentale nderung derzugrundeliegenden Akkumulationsweise sowie der Geldor-

    ganisation sind solche politischen Programme weder sonder-lich aussichtsreich noch konkretutopisch, eben hchstenssolare statt soziale Revolutionen (Elmar Altvater).

    8. Jede Krisenanalyse, die den Blick nur auf Markt,Lohnarbeit, formelle konomie, formellen Rechtsstaatrichtet, sieht nur die helle Seite des Mondes und wird inihrem Verstndnis des Mondes zwischen Sichel undScheibe stehenbleiben. Sie wird die Spitze des Eisbergs frden Eisberg halten und bse berraschungen erleben, wenn

    sie die kleine Scholle nur mal rasch beiseite schieben will.Sie wird insbesondere das Geheimnis der ursprnglichen

    Akkumulation nicht oder (wie Karl Marx) nur historischverstehen, bemerkt wohl die erlschenden Lichter desMarktes (Robert Kurz), nicht aber das schon immer feh-lende Licht in der Rumpelkammer. Das ist nicht blo histo-rische Lcke, sondern verstellt den Blick auf einen Bereichmit konomisch weitreichender Bedeutung (Oligarchie, Re-ligion, Mafia, externe Kosten usw.). Gbe es nur Markt (also

    etwa fr die Arbeitskraft nur Arbeitsmarkt), wre Kapitalis-mus lngst in der Krise kollabiert oder zerbrochen. Nungab es aber neben der Akkumulation aus Lohnarbeit (Mehr-

    wertaneignung, quivalenter Tausch) stets eine Parallelak-kumulation aus Zwangsarbeit, gebundener Arbeit, Abhn-gigkeits- und Zuneigungsarbeit wie auch aus anderen For-men von Wertraub (Parallelakkumulation, nicht-quivalen-ter Tausch). Rosa Luxemburg hat dazu schon 1912 in ihrerSchrift Die Akkumulation des Kapitals die theoretische

    Grundlage gelegt, die Bielefelderinnen haben daraus ihreTheorie des blinden Flecks der orthodoxen politischenkonomie entwickelt (Veronika Bennholdt Thomsen, Ma-

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    mics), beschftigungssttzender Keynesianismus (siehe Clin-tonomics, Japan, EU-Gipfelbeschlsse 1993).

    12. Die Umstrukturierung in der Schweiz erfolgt ver-gleichsweise zgerlich, da hier bezglich komparativer Ko-stenvorteile des Finanz- und Dienstleistungsplatzes lange

    eine komfortable Monopolsituation bestand, vergleichbaretwa mit jener des Informatikkonzerns IBM auf dessen

    Mrkten. Abgestuft in den drei konjunkturellen Einbrchenseit Mitte der siebziger Jahre, waren folgende Strategienund Angriffspunkte erkennbar:

    Die Produktionsauslagerung von Mitte der siebzigerJahre (Ab in die Dritte Welt, neue internationale Arbeit-steilung) mit einem Abbau von insgesamt 240 000 Arbeits-pltzen wird mittels Abschiebung ungarantierter auslndi-

    scher Arbeitskrfte kaschiert. Die Schwerpunkte des Arbeits-platzabbaus liegen in der Uhrenindustrie (- 40 000), der Tex-til- und Bekleidungsindustrie (- 60 000), der Maschinen- und

    Metallindustrie (- 30 000) sowie im Bau- und Holzgewerbe(- 40 000). Rund 60 Prozent der innerorts abgebauten Ar-beitspltze werden in Billiglohnregionen neu aufgebaut.

    Zu Beginn der achtziger Jahre erfolgt eine Rationali-sierungswelle mit hohem Kapitalbedarf (Swatchisie-rung). Auffllig ist in der Folge die Teilenteignung der am

    Weltmarkt orientierten Familiengesellschaft, die trotzhohem persnlichen Reichtum nicht ber ausreichende Fi-nanzkraft fr die aufwendige Rationalisierung und den Auf-bau von Monopolstellungen verfgt (typisch dafr ist dieEntmachtung der Rstungsindustriellenfamilie Bhrle inder zweiten Generation, aber auch der Machtverlust zahlrei-cher Textildynastien in der vierten und fnften Generation).Nebenwirkung der Rationalisierung bei gleichzeitiger Be-krftigung der Auslagerungsdrohung ist die Schwchung der

    Gewerkschaften, exemplarisch in Italien (Niederlage imFiat-Streik 1981), im Kleinen aber auch in der Schweiz(Druckerstreik 1980).

    Marktwirtschaft auf freier Wildbahn 17

    leere Brenfell. Der frhzeitigen Beteiligung am Verwer-tungsertrag eines einzelnen kapitalistischen Betriebes ent-spricht die frhzeitige Abschpfung vernderter Verwer-tungsertrge in ganzen Whrungsregionen (Devisenspeku-lation).

    10. Das Anti-Krisen-Instrumentarium von Staat, Ver-bnden und Konzernen lt sich auf der Ebene der Regula-tionsweise im Spannungsfeld zwischen Regulierung (Ein-griffe in den Markt, nachfragesttzend) und Deregulierung(Marktschub, angebotssttzend) fassen. Regulierende undderegulierende Anti-Krisen-Strategie haben sich historischabgewechselt. Beide Strategien knnen Krisen entschrfenund aufschieben, beide knnen sie langfristig aber auch ver-schrfen. Wie lange und in welchem Ma staatliche Regulie-

    rung mglich ist, ist letztlich ein Problem ihrer Finanzie-rung: Sie scheint in den EG-Metropolen etwa auf halbem

    Weg ausgereizt (durchschnittlich 70 Prozent Staatsverschul-dung im Verhltnis zum Bruttoinlandprodukt). Ab 100 Pro-zent Staatsverschuldung in Hhe des Bruttoinlandproduktsmu rund eine Stunde eines achtstndigen Arbeitstages zurFinanzierung der Schuld (Zinsen, Amortisationen) aufge-

    wendet werden, nach eineinhalb Stunden drfte eineSchmerzgrenze fr rentable Kapitalverwertung ber-

    schritten sein.11. Die aktuelle Situation in den Metropolen, z.B. in den

    USA, Japan, Grobritannien, der BRD oder der Schweiz,lt sich kennzeichnen durch die berlagerung der seit Mit-te der siebziger Jahre virulent gewordenen Weltwirtschafts-krise mit verschiedenen konjunkturellen Aufschwngen undEinbrchen seither. Der Krise wurde weltweit vorrangig mitangebotsorientierten Deregulierungsmanahmen begegnet(IWF, Reganonomics, Thatcherismus, Europischer Wirt-

    schaftsraum, Europisches Whrungssystem), in den Metro-polen sekundr regulierend nachfrageorientiert mit einembegleitenden Rstungskeynesianismus (siehe etwa Reagono-

    16 Res Strehle

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    verband SMUV in der Schweiz mit neu geschaffenen Pro-jektgruppen fr Beratung und Information der Betroffenen).

    13. In der Schweiz liegt das Hautgewicht der staatlichenWirtschaftspolitik seit 1989 ebenfalls auf den angebotsori-entierten Deregulierungsmanahmen. Dieses Schwerge-

    wicht kommt im internationalen Vergleich relativ spt(nachholend), auerdem unmittelbar vor dem Konjunk-tureinbruch ab 1991. Es sollte via external binding durch

    Anschlu an den EWR (in der Schweiz nachvollzogen mit-tels eines Eurolex-Gesetzespakets) durchgesetzt werden.Nach der ablehnenden Volksabstimmung vom 1. Dezember1992 wird die Deregulierung verlangsamt und mittels Aus-nahmen in sensitiven Bereichen (Arbeitsmarkt, Bodenmarkt,

    Verkehrspolitik) durchgesetzt. Instrumente sind der vorder-

    grndig freiwillige autonome Nachvollzug (Swisslex)und die unfreiwillige Krtenschluckerei aufgrund der Er-gebnisse bilateraler Verhandlungen mit der EU. Von Wirt-schaftsseite wird der Konjunktureinbruch ab 1991 weitge-hend zum autonomen Vorvollzug bentzt und bringt derSchweiz eine offene und verdeckte Arbeitslosenrate von eu-ropischem Durchschnitt (um 10 Prozent), national immer-hin Jahrhundertrekord.

    14. Die dreistufige Anti-Krisen-Strategie ist in dem Sin-ne Krisenangriff, als damit ein Umbau der Gesellschaft inRichtung auf eine neue Gesellschaftsformation (Akkumula-tion und Regulationsweise) vorangetrieben wird: Schlag-

    worte sind in diesem Zusammenhang die Zweidrittelge-sellschaft, der Postfordismus (ein Begriff des kleinstengemeinsamen Nenners) oder Toyotismus eine Gesell-schaftsformation, die einen Teil der Gesellschaft (eben dasuntere Drittel) ausgrenzt, indem sie ihn durch die Ma-schen des staatlichen Netzes und der positiv-moralischen f-

    fentlichen Wahrnehmung fallen lt. Am Ende dieses Pro-zesses steht eine neue Identitt des postfordistischen Subjek-tes oder genauer: neue aufgefcherte Identitten der post-

    Marktwirtschaft auf freier Wildbahn 19

    Ab 1989 wird von Unternehmerseite die Light- undLean-Welle propagiert gegen den zu hohen Choleste-ringehalt (Stephan Schmidheiny) des Schweizer Volkes mitden nach wie vor (zu) hohen Garantien von Staat, Landwirt-schaft, Industrie, Dienstleistungsbereich. Anvisiert wird in-

    ternationale Wettbewerbsfhigkeit, Stimmung gemachtmit einem drohenden Abstieg des Finanz- und WerkplatzesSchweiz in den weltweit gefhrten Investitions- und Rating-statistiken. Stephan Schmidheiny, ein Schumpeterscher In-dustrieller in der vierten Generation, macht sich gleichzeitigfr nachhaltigen, intelligenten und kologisch vertrgli-chen Kapitalismus stark (siehe dazu etwa die Position des

    von ihm prsidierten Business Council am Erdgipfel von Rio1991).

    Er gruppiert die von ihm geerbten Beteiligungen laufendneu, stt ab, was nicht zum Kerngeschft gehrt, machtschlank (lean production), was ihm bleibt, und formtdie einstigen Maschinenindustriebeteiligungen zu einem

    Technologiekonzern (ABB, Leica, Landis & Gyr). hnlichwie die Schmidheiny-Beteiligungen wenn auch nicht mitderselben Dynamik werden Staat und Gesellschaftschlank gemacht. Es entstehen neue Selbstndige iminformellen Sektor, ein Rassismus der Wohlanstndigkeit(Nora Rthzel), das Appenzeller Patriarchat wird marktfr-mig modernisiert (notfalls mit Zwangseinfhrung desStimmrechts fr Frauen via Bundesgericht). hnlich wie die

    Apartheid in Sdafrika wird die Geschlechterdiskriminie-rung aus Verfassung und Gesetzen entfernt (neues Eherecht,

    Abschaffung des Nachtarbeitverbots), bleibt indessen durchden Markt abgesichert (unterschiedliche Kaufkraft, Lhne,Garantien, Inwertsetzung spezifischer Eigenschaften ent-lang den ethnischen und geschlechtsspezifischen Grenzen).Die geschwchten Gewerkschaften erhalten fr den Fall ih-

    rer Kooperationsbereitschaft beim technischen und sozialenUmbau der Betriebe eine Assistenzrolle (siehe etwa IG Me-tall in der BRD oder der Metall- und Uhrenarbeitnehmer-

    18 Res Strehle

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    einer konsensfhigen Basis in den oberen zwei gesellschaftli-chen Dritteln, halbwegs stabiler (weil sozial regulierter) stattabenteuerlicher Wildwestkapitalismus.

    16. Die eingegrenzten zwei Drittel sind ihrerseits nichthomogen, sondern unterscheiden sich wiederum in ein obe-

    res Drittel (gut gesichert, gut verdienend, interessante Ar-beit) und ein mittleres Drittel, das flexibel sein mu (mittle-re Sicherheit und Einkommen). Das mittlere Drittel ist beiFehlverhalten abstiegsbedroht, gleichzeitig aber auch beibesonders gut gelungener Anpassung aufstiegsberechtigt(bildhaft deutlich in der Sandwichposition berangepaterZellenchefs in der teilautonomen industriellen Fertigung:faktisch Kleingewerbler auf nicht gesicherter Basis).

    17. Materialistisch richtet sich die Hoffnung auf Wider-stand gegen diesen gesellschaftlichen Umbau vorab auf dasuntere Drittel, das von Ausgrenzung bedroht ist. Wenn esrichtig ist, da die Wahrheit ber die Ausbeutung im Lohn-arbeitsbereich beim lohnabhngigen Proletariat liegt (Karl

    Marx), dann liegt die Wahrheit ber die Ausgrenzung beimausgegrenzten Menschen und kollektiv in den ausgegrenztenSektoren der Unterklasse. Das heit keineswegs, da dieserSektor automatisch widerstndig ist, sondern an sich amehesten das Bewutsein ber die Ungerechtigkeit einer Aus-grenzung und die Notwendigkeit einer fundamentalen Ver-nderung entwickeln wird. Ob daraus auch ein Bewutseinfr sich entsteht, ist eine Frage des historischen Prozesses.

    Auerdem darf im mittleren und oberen Drittel auf Solida-ritt gehofft werden, materialistisch werden sich solcheHoffnungen indessen nur in Ausnahmefllen erfllen.

    18. Hauptproblem des Widerstands ist seinerseits seineAuffcherung als bernahme des organisatorischen Prinzips

    von Postfordismus. Als postfordistische Subjekte sind wirgegen die Differenzierung als organisatorisches Prinzip undgegen die Abgrenzung als Verhaltensmuster a priori so we-

    Marktwirtschaft auf freier Wildbahn 21

    fordistischen Subjekte, nachdem das Grundprinzip die Dif-ferenzierung ist, das Grundmuster die Ab- und Ausgren-zung.

    15. Postfordismus nach Schweizer Art unterscheidet sichaufgrund der weltwirtschaftlichen Position von anderen

    Formen dieses Umbaus sowohl bezglich Hrte und Tempoder Ausgrenzung wie auch bezglich des Ziels: Die soziale(Ultra-)Stabilitt ist fr den Liechtenstein-Fleck Schweiz im

    weltwirtschaftlichen Leopardenfell (Hochwertschpfungs-region, Finanzplatz, Headquarter-Standort, Humanittstra-dition) nach wie vor zu wichtig, als da das Haus mit dem ei-sernen Besen gekehrt wrde. Es wird mit dem Flaumer inOrdnung gebracht: Der konsenfhige Rassismus ist nichtoffen, blutig oder im ethnischen Anspruch hherwertig

    (Herrenmensch oder rassisch fundierte Weltherrschafts-ansprche), sondern abwgend und pseudo-intellektuell dif-ferenzierend, versteckt sich in Kriminalitts- und Zahlungs-bilanzstatistiken, ist berwiegend rechtsstaatlich abgesi-chert und macht angebliche ethnische Unterschiede an Ei-genschaften und Verhaltensweisen fest. Marktfrmig kanner ethnisch zugeordnete Eigenschaften und Verhaltenswei-sen in Wert setzen (Multikulturalitt von Gastronomieund Kulturbetrieb). Typisch fr den weichen Schweizer

    Weg in den Postfordismus sind die Synthese von Repressionund Aufweichung der Prohibition im Bereich illegaler Dro-gen durch das Innenministerium (unter weicher Fh-rung), die zgerliche Sanierung der Staatsfinanzen, die nichtber Leichen geht (Stichonomics), sowie die im interna-tionalen Vergleich sanfte Renovation von Kranken- und

    Altersversicherung. Noch das oberste Gremium der Schwei-zerischen Bankgesellschaft beruft sich in einem Konflikt miteinem am US-Standard orientierten Raider auf seine sozia-

    le Verantwortung gegenber ihren Beschftigten, Kunden,vorab im Klein- und Mittelgewerbe als Publikums- undVolksbank. Dies ist mehr als Ideologie: Es ist die Suche nach

    20 Res Strehle

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    Ernest Mandel

    Nicht s gegen junge Bankangestellt e ...Die langen Wellen der kapitalistischenEntwicklung

    Seit 1973 befindet sich die kapitalistische Weltwirtschaft ineiner langen Depression, die das, was man im Englischensoft landing nennt, in absehbarer Zeit ausschliet. Inner-

    halb der langen Depression, der langen Wellen, wie das inmeinem Jargon heit, gibt es den normalen Konjunkturzy-klus, also die Auf- und Abbewegungen der Produktion unddes Profits. Aber, und das ist das Kennzeichen dieser langen

    Welle, es kommt beim Konjunkturaufschwung nicht zu ei-nem Abbau der Erwerbslosigkeit. Diese steigt ununterbro-chen, nicht nur in der Dritten Welt, wo sie horrende For-men angenommen hat, nicht nur in den nachstalinistischenGesellschaften im Ostblock und der ehemaligen UdSSR. Siesteigt auch im Westen.

    Um es auf einen einfachen Punkt zu bringen: Die offizi-ellen Zahlen sind geflscht. Viele der tatschlichen Erwerbs-losen Frauen, Jugendliche und nichtqualifizierte mnnli-che Arbeiter kommen in der Statistik nicht vor, weil, wie esin der zynischen Sprache der brgerlichen konomInnen soschn heit, diese Leute vom Arbeitsmarkt verschwundensind, sie davon ausgeschlossen wurden. Die Hauptursachedieser Massenerwerbslosigkeit ist einfach zu erklren, beina-he schon eine arithmethische Frage. Die dritte technologi-sche Revolution mit der Halbautomatisierung, Miniaturisie-rung und der Steigerung der materiellen Produktivkrfte

    wirkt weiter. Ein Beispiel aus Belgien: Einer der klassischen

    23

    nig gefeit wie gegen Fast food, Wohnwand und TV-Sams-tagabend im Fordismus. Die Differenzierungs- und Abgren-zungsmuster sind zwischen Metropole und Peripherie rie-senhoch aufgebaut, zwischen Vollanspruchberechtigten,

    Minderanspruchsberechtigten und Nicht-Anspruchsberech-tigten staatlicher Leistungen, Lohnarbeit und Nicht-Lohn-arbeit (letztere nach wie vor hauptschlich Frauenarbeit). DieLohnarbeit selber hat sich aufgefchert in solche frSchwarzarbeitende, flexibel Beschftigte, Beschftigte in derZulieferpyramide, Stammarbeiter im Kernbetrieb, interme-dire Zellenchefs und Inselleiter usw. Die gesellschaftliche

    Analyse vagabundiert zwischen Neuauflagen aller historischbekannter Formen von Idealismus und Materialismus, diepolitischen Strategien auf der Linken zwischen allen Formen

    von Reformismus und revolutionrem Weg. Die Eingren-zung fhrt zu Anpassung in allen Formen zwischen Karriereund Resignation, die Ausgrenzung zur Nicht-Anpassung inebenso vielen verschiedenen Formen zwischen Selbstzer-strung, Flucht in Esoterik, Selbstaufgabe in mafiser Hier-archie bis zu hoffnungsvollen Formen von Selbstorganisati-on. Wenn schon, ist der Leopardenfleck Liechtenstein na-mens Schweiz vor dem Hintergrund der gesamten Weltwirt-schaft die negative Besttigung einer weltweiten Angleichungder Proletaritt, wie sie etwa Karl Heinz Roth vermutet. Auf-

    fcherung in der Angleichung vielleicht, Angleichung in derAuffcherung womglich, Auffcherung zur Ungleichheitsicher.

    22 Res Strehle

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    walten von einem Tag auf den anderen Milliarden vonDollar und haben sich dabei offensichtlich mehrere Maleihre und die Finger ihrer Bank verbrannt. Das gilt fr dieSchweiz genauso wie fr die USA, Grobritannien und et-

    was abgeschwchter auch fr Frankreich und Belgien, wodie Bankenkontrolle paradoxerweise dank der greren Ver-staatlichung der Banken seriser ist und es zu weniger Skan-dalen kommt.

    Es gibt Versuche, im Namen der Rentabilitt sogenann-te kostensparende Eingriffe etwa bei den Unterrichtsausga-ben oder den Ausgaben fr die soziale Sicherheit durchzu-fhren. Diese Logik ist brutal und zynisch. Je lnger die De-pression dauert und die Erwerbslosigkeit steigt, um so ge-schwchter ist die organisierte ArbeiterInnenbewegung bzw.-klasse.

    Ich meine das im weitesten Sinn des Wortes, nach derDefinition wie sie Plechanow und Lenin im ersten Pro-gramm der russischen Sozialdemokratie formuliert haben.Die LohnarbeiterInnnenklasse besteht aus denjenigen, dieunter dem konomischen Zwang stehen, ihre Arbeitskraftzu verkaufen. Es sind also nicht nur Industriearbeiter und

    vor allem nicht nur mnnliche Industriearbeiter. Dazugehren auch die Lohnabhngigen im ffentlichen Dienst,im Dienstleistungssektor, in allen Bereichen.

    Hinter dieser Offensive des Kapitals, einer neokonserva-tiven Offensive im Weltmastab, liegt eine fr das Kapitalselbst gefhrliche, ich wrde beinahe sagen schwachsinnigeIllusion: da die Folgen des Sozialstaatabbaus keine negative

    Auswirkung auf die brgerliche Klasse selbst htte. Das istgrob gesagt Unsinn. Es gibt dafr einen historischen Prze-denzfall. Der Anfang der modernen, ffentlichen Hygiene(so simple Sachen wie die Kanalisation) lag in der Tatsachebegrndet, da in der Mitte des 19. Jahrhunderts armutsbe-

    dingte Seuchen, ich denke in erster Linie an die Cholera,auch in den reichen Vierteln der kapitalistischen Grostdteausbrachen. Das Brgertum fing an, sich darum zu sorgen,

    Nichts gegen junge Bankangestellte ... 25

    belgischen Industriezweige war die Papierherstellung undalles, was damit zusammenhing. Heute gibt es in Belgieneine einzige Papierherstellungsmaschine, die tglich mehrPapier produziert, als in ganz Belgien und Holland verkauft

    werden kann. Dies nur als Beispiel, ich knnte eine ganzeReihe von anderen Beispielen anfhren, die in dieselbeRichtung gehen.

    Welches ist die empirische Besttigung der langen Wel-len liegt sie allein in der Massenerwerbslosigkeit? An undfr sich ist das nicht unwesentlich, aber die Ursache liegtnicht allein darin. Sie hat ihre Ursache vor allem in der Re-privatisierung des Geldes, oder, wie es die landlufige For-mel umschreibt, in der wachsenden Globalisierung der

    Weltwirtschaft, der wachsenden Internationalisierung desKapitals, welche letzten Endes durch die immer strker her-

    vortretende Steigerung der Produktivkrfte begrndet ist.Die Spekulation auf den Devisenmrkten in der Welt

    wird von den Grobanken und von einem nicht unbedeu-tenden Teil der Groindustrie, d.h. vom Kern der kapitali-stischen Klasse, getragen.

    An diesem Tatbestand lt sich wenig ndern. Das hatetwas zu tun mit der Globalisierung der Weltwirtschaft, aberauch mit der technologischen Revolution im Geldhandel(das ist nicht genau der richtige Ausdruck dafr, aber das ist

    hier nicht das Thema). Durch die Anwendung der elektroni-schen Verfahren auf den Devisenmrkten kann man in Se-kunden Milliarden von Dollar von einem Land ins andere,

    von einem Kontinent in den anderen transferieren. Und die-ser Proze entzieht sich jeglicher Kontrolle, auch derjenigender Nationalbanken. Eine der Folgen dieses riesigen Wachs-tums der Bankenaktivitt ist, da das durchschnittliche Ni-

    veau der Qualifizierung der Bankangestellten katastrophalgesunken ist. Es gibt Grobanken, welche die Verwaltung

    von Milliarden von Dollar in die Hnde von einzelnen jun-gen Bankangestellten (ich habe nichts gegen junge Bankan-gestellte) legen, die ohne jegliche Erfahrung sind. Sie ver-

    24 Ernest Mandel

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    sache, da sich die heutigen Atomkraftwerke mit der soge-nannten friedlichen Nutzung der Kernenergie, durch denGebrauch von klassischen Waffen nicht nur zu einem, son-dern zu Hunderten von Hiroshimas entwickeln knnten.

    Wenn man diese Atomkraftwerke mit klassischen Waffenbeschiet, werden sie zu Atombomben mit all den verhee-renden, menschenvernichtenden Folgen. Und wir haben er-lebt, da sich diese Folgen keineswegs auf die in unmittelba-rer Nachbarschaft lebende Bevlkerung beschrnken. Nachdem Reaktorunfall in Tschernobyl war nicht nur die Ukrai-ne verstrahlt, betroffen waren auch Lappland und weit st-lich und westlich der Ukraine liegende Lnder.

    Der Kampf fr die Abschaffung der Atomkraftwerke istein realistisches Ziel, viel realistischer als all die beschrnk-ten Manahmen, die von internationalen Instanzen vorge-schlagen werden. Wenn dieser Unfug nicht verschwindet,droht die Menschheit zu verschwinden.

    Die Masse der Lohnabhngigen, so wie ich sie vorhergeschildert habe, reagiert, und sie reagiert viel strker, alsman das noch vor fnf Jahren geglaubt hat. Der Umfangdieser Reaktion kann sehr breit sein. Er wird von einer be-

    wutseinsmigen Frechheit, auf franzsisch sagt man in-solence, getragen, die alles bersteigt, was aus der Vergan-genheit bekannt ist.

    Als der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staatenber ein beinahe totales Abtreibungsverbot abstimmte, sindeine Million amerikanische Frauen auf die Strae gegangenund haben gesagt: Wir scheren uns einen Dreck um die Ge-richte, wir bestimmen unser Schicksal selbst. Als vor einigen

    Wochen das italienische Parlament unter dem ziemlich in-kompetenten neuen Premierminister Berlusconi einen An-griff auf die Altersrenten und einige andere Sozialeinrich-tungen verkndete, sind drei Millionen italienische Lohnab-

    hngige auf die Strae gegangen und haben ebenfalls gesagt:Wir scheren uns einen Dreck, was dieses Parlament, wasdieser Premierminister, beschlieen wir bestimmen unser

    Nichts gegen junge Bankangestellte ... 27

    nicht aus sozialem Gewissen, das war nur die nachtrglicheRationalisierung, sondern aus Angst. Und heute ist dasGrobrgertum im Weltmastab, einschlielich der reich-sten Lnder des Westens, mit einer hnlichen Problematikkonfrontiert, ohne sich darber jedoch Rechenschaft abzule-gen. Armutsbedingte Seuchen wie Tuberkolose und Choleragreifen unvermeidlich von der Dritten Welt in die reichstenLnder des Westens ber, und die Illusion, da die reichen

    Viertel davon verschont werden, ist Irrsinn. Wie im 19.Jahrhundert wird es schon wegen des Selbsterhaltungstriebszu einer Reaktion kommen, mit Versptung, aber mit ver-heerenden Folgen fr die gesamte Bevlkerung der reiche-ren westlichen Lnder.

    Was die neokonservative Ideologie kennzeichnet, ist einewiederum beinahe schwachsinnige Unterschtzung der Ge-fahren, welche die ganze Weltbevlkerung bedrohen. Die

    vier Reiter der Apokalypse sind bereits unterwegs, und wirspren ihren Atem bereits im Nacken. Kernenergie, Kriegund Hunger in der Dritten Welt werden politische Folgenhaben, welche die Demokratie bedrohen werden.

    Dazu ein frchterliches Beispiel. Jedes Jahr sterben inder Dritten Welt 26 Millionen Kinder aus Hunger und auf-grund von leicht heilbaren Seuchen. Das ist die schrecklicheRealitt des Weltkapitalismus heute. Wer das nicht sieht,

    wer davon die Augen verschliet und glaubt, das sei unver-meidlich und normal, ist ein Mensch, der nicht mit denFen in der Wirklichkeit steht. Es gibt ein altes berhmtes

    Wort von Rosa Luxenburg: Die Menschheit hat die Wahl:Sozialismus oder Barbarei. Heute knnen wir mit voller

    Verantwortung und aus Kenntnis der Weltwirklichkeit mehrRealismus als die Neokonservativen an den Tag legen undsagen, die Menschheit hat die Wahl: Sozialismus oder physi-sche Vernichtung. Nicht nur die der Menschheit, sondern

    wahrscheinlich jeglichen Lebens auf dieser Erde. Zu dieserThese folgendes Beispiel: Jedermann kennt die Folgen desAtomkriegs. Woran man nicht oder kaum denkt, ist die Tat-

    26 Ernest Mandel

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    der Praxis lsen. Es mu etwas hnliches (ich sage das jetztganz verkrzt, historische Analogien sind nie richtig, immerhypothetisch) geschehen wie die Russische, Deutsche oderSpanische Revolution, welche die Menschen durch ihren In-halt und ihre praktische Wirkung berzeugt. Wann das ge-schehen wird, wei kein Mensch, vielleicht wird es zehn Jah-re dauern, vielleicht zwanzig, vielleicht dreiig. Aber eineskann ich mit groer Selbstsicherheit sagen: Was noch vorfnf Jahren als unvermeidlich erschien, der weltweite Tri-umph des Neokonservativismus, das wird in den kommen-den Jahren als vllig illusorisch erscheinen. Die Welt wird infnf Jahren ganz anders aussehen als heute. Ich mchte zweiGrnde fr diesen vorsichtigen Optimismus angeben. Deneinen Grund hat der groe englische Revolutionr Shelleyin einem kurzen Satz zusammengefat: we are many, theyare few. Wir haben die Macht der groen Zahlen hinter uns.Ich mchte das mit einer Zahl, die Sie wahrscheinlich er-schrecken wird, besttigen: Im Weltmatab ist die Klasseder Lohnabhngigen auf mindestens eine Milliarde Men-schen gestiegen, und sie steigt ununterbrochen.

    Ich mchte zwei Zahlen nennen: In Indien gibt es ber100 Millionen LohnarbeiterInnnen, ohne das, was man im

    Marxschen Sinne als Halbproletariat bezeichnet, mitzurech-nen, das heit die armen Bauern und Buerinnen, die einem

    Teil des Jahres gezwungen sind, als LohnarbeiterInnen zuarbeiten, weil sie sonst nicht genug zu essen haben. In Chinagibt es ber 300 Millionen LohnarbeiterInnen, das Halb-proletariat aus den Drfern nicht mitgezhlt. Sie knnen je-den Tag in nicht-marxistischen, serisen Tageszeitungen le-sen, da durch eine Reihe von Wirtschaftsprozessen, die ich

    jetzt hier nicht im einzelnen beschreiben will, DutzendeMillionen armer Bauern und Buerinnen in die Stdte wan-dern, um zu versuchen, sich als Arbeitskraft zu verdingen,

    weil sie auf dem Dorf verhungern, und da die Regierungeine riesige Angst vor den politischen Folgen dieser Massen-flucht hat. Das ist eine der groen historischen Voraussagen

    Nichts gegen junge Bankangestellte ... 29

    Schicksal selbst. Es fehlt also nicht an Massenreaktion, in ei-nem Land mehr, in einem anderen weniger.

    Ein drittes Beispiel, worauf ich besonders stolz bin, weilda die GenossInnen meiner Kapelle doch eine entscheiden-de Rolle gespielt haben: Als der ehemalige brasilianischeStaatsprsident, eine total korrupte Figur, sich an die Machtklammerte, sind ber eine Million Menschen, gefhrt durchdie PT (die ArbeiterInnenpartei), auf die Strae gegangenund haben gefordert, dieses korrupte Schwein mu weg, undsie erreichten seinen Rcktritt. Es ist also nicht das Problem,da es keine Massenreaktionen gibt, aber diese Massenreak-tionen spielen sich in einem weltweiten Klima der tiefenGlaubwrdigkeitskrise des Sozialismus ab. In den Augen der

    Mehrheit der Lohnabhngigen, mnnlicher und weiblicher,haben der Stalinismus und der Nachstalinismus total ver-sagt, ebenso die Sozialdemokratie. Fr sie gibt es keineglaubwrdige Alternative links von diesen zwei traditionel-len Strmungen der ArbeiterInnenbewegung und -klasse.

    Wir, ich meine damit smtliche Krfte links vom Neostali-nismus und der Sozialdemokratie, werden nicht als eine aufabsehbare Zeit relevante, fhige Alternative angesehen. Mansympathisiert mit uns, findet uns ehrliche Leute, wir sindkeine korrupten SchwindlerInnen, aber man traut uns nichtzu, da wir uns im Rahmen der von uns befrworteten de-

    mokratischen Verfassung durchsetzen werden. Unser Sozia-lismusprojekt mu von der Selbstverwaltung getragen wer-den, das heit von der aktiven Beteiligung der groen Mehr-heit der Bevlkerung das kann nicht geschehen, wenn mannicht daran glaubt. Das fhrt zu einem grundlegenden Wi-derspruch. Die groen Massenbewegungen, die ich aufge-zhlt habe, sind fragmentiert und diskontinuierlich und kn-nen deshalb in unmittelbarer Zukunft noch von der beste-henden Ordnung, in erster Linie von den staatstragenden

    Parteien inklusive der Sozialdemokratie und den neosozial-demokratischen EurokomunistInnen, rekuperiert werden.Dieses Problem kann man nicht theoretisch, sondern nur in

    28 Ernest Mandel

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    mit der Formel Solidaritt umschreiben Kooperation inweltweitem Ausma, ohne Differenzierung, ohne Segregati-on, ohne Zersplitterung, ohne die Unterordnung eines Teilsder Ausgebeuteten und Unterdrckten unter irgendeinhheres Ziel es gibt kein hheres Ziel als die Emanzipati-on, im weitesten Sinne des Wortes.

    Und hier kommt eine nicht zu unterschtzende Gefahrauf uns zu: Worauf spekuliert das Grokapital? Es spekuliertdarauf, da die Ideologie der Zersplitterung, der Individuali-sierung, der Entsolidarisierung auf die Klasse der Lohnab-hngigen selbst bergreift. Wir mssen uns klar sein, da essich um einen realen und selbstmrderischen Trend handeltund da dieser verheerende Folgen haben kann, wenn es zueiner neuen, hheren Welle der Wirtschaftsdepression undder Erwerbslosigkeit kommt. Schon Albert Einstein, kein

    Marxist, ein religiser Sozialist und ein kluger Mann, hat inden 30er Jahren die lapidare Formel aufgestellt: Man kannden Faschismus nicht bekmpfen, wenn man nicht die Er-

    werbslosigkeit radikal ausschaltet. Das ist heute genausowahr wie damals. Und die groe Gefahr ist, da, wenn es an-statt des heutigen Umfangs der Erwerbslosigkeit zu zwei-oder dreimal mehr Erwerbslosen kommt, bei der nchsten

    Welle der Depression, der Rezession im Rahmen dieser De-pression, da dann die Gefhrdung der politischen Demo-

    kratie, die Gefhrdung der Menschenrechte auf die Tages-ordnung gesetzt wird. Dann verbreitet sich Rassenha, Ju-denha, Ha gegen die Schwarzen, die AsiatInnen, engstir-niger Nationalismus weltweit in absolut irrationaler Weise.In Japan, wo es praktisch nie Juden oder Jdinnen gegebenhat, wird das klassische Flschungsprodukt, die Protokolleder Weisen von Zion, das Hitler in einem groen Mae ani-miert und inspiriert hat, massenweise verbreitet und findet

    Anklang.

    Eine Umfrage hat erwiesen, da 35 Prozent der japani-schen Bevlkerung, welche nie einen Juden oder eine Jdingesehen haben, glauben, da es eine Weltverschwrung des

    Nichts gegen junge Bankangestellte ... 31

    von Karl Marx, die Wirklichkeit geworden ist, und die ihnnicht zu einem Kapitalismuskritiker des 19. Jahrhundertsmacht, sondern zu einem genialen Propheten des 21. Jahr-hunderts.

    Zu der Zeit, als Marx diese These aufstellte, widersetztensich die LohnarbeiterInnen gegen die unmittelbaren Folgender kapitalistischen Ausbeutung und Unterdrckung. Meistendeten diese Kmpfe mit Niederlagen. Aber eines lerntendie lohnabhngigen Klassen aus diesen Niederlagen: dieNotwendigkeit, sich zu organisieren. Als Marx das schrieb,gab es in der ganzen Welt wahrscheinlich nicht mehr als hun-dert oder hundertfnfzigtausend organisierte Lohnabhn-gige. Heute gibt es kein Land, keine Insel, keine auch so ab-gelegene Gesellschaft, wo es nicht eine organisierte Lohnar-beiterInnenschaft gibt. Dieser Trend wird sich verstrken.

    Es gibt einen zweiten Grund fr meinen vorsichtigenOptimismus. Diesen Grund mchte ich mit einer Anekdoteumschreiben die Geschichte der drei Frsche: Drei Fr-sche sind in ein Milchfa gefallen. Der erste Frosch, derneokonservative Frosch, sagte: Wir sind ja sowieso verlo-ren, das ist nichts anderes als die Erbsnde, Frsche sindschlecht, bleiben schlecht, sind zum Untergang verurteilt.Er blieb unttig und ertrank. Der zweite, sozialdemokrati-sche Frosch, ohne Zweifel etwas sympathischer als der erste,

    meinte: Och, das ist alles halb so wild, wir werden schoneine Lsung finden, es wird schon noch. Er tat nichts undertrank ebenfalls. Der dritte Frosch, sagen wir mal der sozia-listische, kommunistische Frosch, man kann ihn nennen wieman will, (nicht nur auf meine Kapelle bezogen), sagte:Was haben wir denn zu verlieren, wir sehen, die beiden an-deren Frsche sind ertrunken, lat uns so viel zappeln wie

    wir knnen, es kann doch nur besser sein, als nichts zu tun.Und er zappelte wie wild, und siehe da, die Milch ward zu

    Butter, der linke Frosch konnte herausspringen und wardgerettet. Das ist ein Pldoyer fr Aktion, fr Aktivitt, fr

    Ttigkeit, fr Widerstand, fr Rebellion, fr das, was wir

    30 Ernest Mandel

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    kommen heute und sagen mit drohendem Zeigefinger:Wenn man uns keine Zugestndnisse macht, dann verla-gern wir den Arbeitsplatz nach einem Billiglohnland. Dasknnen sie machen, es gibt immer Lnder mit niedrigeremLohn. Die einzige mgliche und realistische Antwort aufdiese Strategie ist eine weltweite Solidaritt und Kooperati-on aller Lohnabhngiger untereinander. Das ist nicht leichtdurchzusetzen, da mache ich mir keine Illusion, das kann

    Jahre dauern. Ich habe einmal das Wort geprgt, es mag einbichen seltsam klingen: Heute ist die grte Waffe in denHnden von kmpferischen GewerkschaftlerInnen das

    Adrebuch, oder etwas moderner: das Fax-Gert. Und dannder einfache Entschlu, sobald irgendeine Verlagerung von

    Arbeitspltzen in einem Betrieb stattfindet, die Kolleginnenund Kollegen aller Betriebe, die in diesem Arbeitszweig ar-

    beiten, auf der ganzen Welt zu informieren und zu fragen:Was machen wir dagegen? Anfangs werden sie nicht viel ma-chen, dann mehr und mehr, und dann werden sie dafr sor-gen, da gemeinsam weltweit gehandelt wird. Das wird

    Wirklichkeit werden. Wie lange es dauern wird, wei ichnicht, aber der Zeitpunkt wird kommen.

    Natrlich ist es nicht einfach. Menschen agieren nichtfr etwas, woran sie nicht glauben. Ich betone nochmals:Die weltweite Glaubwrdigkeitskrise des Sozialismus hat

    ohne Zweifel zu Tendenzen der Differenzierung und Entpo-litisierung innerhalb der LohnarbeiterInnenschaft gefhrt.Zudem gibt es verschiedene Niveaus des Arbeitsplatz-schutzes. Es gibt die im groen und ganzen noch immer vollgeschtzten Lohnabhngigen, es gibt die nur teilweise ge-schtzten, entqualifizierten, und es gibt die berhaupt nichtmehr geschtzten.

    Als trauriges und symbolisches Beispiel mchte ich dieSituation im Pariser Faubourg Saint-Antoine anfhren, wo

    fnf Revolutionen angefangen haben. Dort gibt es einenPlatz, wo jeden Morgen illegale ImmigrantInnen, welche

    von den UnternehmerInnen nach Gutdnken erpret wer-

    Nichts gegen junge Bankangestellte ... 33

    internationalen Judentums gibt, wogegen man sich wider-setzen mu. In der ehemaligen Sowjetunion, heute das Landmit dem grten Antisemitismus, gibt es Irrsinnige, mankann sie ja nicht anders nennen, die mit Hitler-Bildern aufihren T-Shirts herumspazieren und behaupten, Hitler hatnur einen Fehler begangen, er hat zuwenig Juden umge-bracht, sie wrden es das nchste Mal besser tun. Und das ineinem Land, wo die Nazis mindestens 30 Millionen Men-schen umgebracht haben. Das ist vlliger Irrsinn, aber mankann von diesen Leuten nicht rationale Argumente erwar-ten, man kann sie nur in der Praxis besiegen, und das bedeu-tet, wie bereits gesagt, die Erwerbslosigkeit mit einer sofor-tigen radikalen Verkrzung der Arbeitszeit auf maximal 30

    Arbeitsstunden pro Woche zu bekmpfen. Das ist die einzi-ge Mglichkeit, diese frchterliche Gefahr, die da auf uns

    zukommt, im Weltmatab zu besiegen.Hier mu man eines unterstreichen. Es gibt keine be-

    schrnkte Solidaritt, das ist unmglich. Wenn der Wille zurSolidarisierung und zur Kooperation bei einem entschei-denden Teil der Lohnabhngigen verschwindet, dann fngtes mit dem engstirnigen Nationalismus, Land gegen Land,an. Ein klassisches Beispiel sind die USA. Die Lohnabhngi-gen in der Automobilindustrie sagen: Die Japaner sindschuld an unserer wirtschaftlichen Krise. Zusammen mit

    den Unternehmern setzen sie sich fr eine protektionisti-sche Politik gegen den Import von japanischen Autos ein.Das ist konomisch total sinnlos.

    Aber so fngt es an: Nach Land gegen Land wird es zuProvinz gegen Provinz, Stadt gegen Stadt, Stadtteil gegenStadtteil kommen, so weit ist es schon in einer ganzen Reihe

    von Lndern. Solidaritt kommt entweder generell unbe-schrnkt und im Weltmastab, ohne jegliche Form der Dis-krimination zum Tragen, oder sie wirkt nicht und ist irrele-

    vant. Davon knnen wir ausgehen, und ich hege einen mil-den, gemigten Optimismus. Die grten Erzieher zurgrenzenlosen Solidaritt sind ja die Multis selbst. Die Multis

    32 Ernest Mandel

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    arbeiterInnen, aber immerhin. Wir haben hier eine prakti-sche Anwendung von dem, was ich in meinem Referat her-

    vorheben will, nmlich da der Begriff LohnarbeiterIn, dieKlasse der Lohnabhngigen, ein gesamtgesellschaftlicherBegriff ist. Wenn man ihn auf mnnliche Arbeiter in derklassischen Groindustrie beschrnkt, dann geht diese Zahlzurck, nicht in allen Lndern, sie verlagert sich, geht aberim Weltmastab zurck. Das ist aber eine falsche Definition,nicht allein aus theoretischen, sondern aus praktischen Er-

    wgungen. Ein Beispiel: Bergarbeiter, Stahlarbeiter oder Ar-beiter in der Maschinenbauindustrie konnten auch in derbesten Zeit die kapitalistische Wirtschaft nicht vllig lahm-legen. Das haben sie nie gemacht und nie gekonnt. AberBankangestellte knnen das mit viel grerer Wirksamkeit.

    ArbeiterInnen des Telekommunikationssektors knnen heu-

    te mit viel grerer Wirksamkeit die kapitalistische Wirt-schaft komplett lahmlegen. Nirgends kann eine kapitalisti-sche Wirtschaft ohne Banken funktionieren, das ist unmg-lich. Nach einer Woche wrde die Wirtschaft zusammen-brechen. Ich stelle fest, da in mehreren Lndern in der

    Welt, ich knnte mehrere aufzhlen, inklusive Belgien, beiden Bankangestellten der Grad des Selbstbewutseins unddes Willens zur Durchsetzung ihrer potentiellen gesell-schaftlichen Macht steigt. Das sind keine rosigen Aussichten

    fr die brgerliche Klasse, und sie macht sich darber zuRecht groe Sorgen.

    Die Schlufolgerung lautet also: Widerstand, Rebellion,unbegrenzte Solidaritt. Die unbegrenzte berzeugung,da letzten Endes die lohnabhngigen Menschen, die 99Prozent der Weltbevlkerung ausmachen, ihr Schicksalselbst in die Hnde nehmen und bestimmen knnen.

    (Mndliches Referat. Schriftliche berarbeitung unter Einbezie-

    hung von Antworten auf Fragen aus dem Publikum: DanielStern/Kari-Anne Mey)

    Nichts gegen junge Bankangestellte ... 35

    den knnen, herumstehen und sich zu Hungerlhnen ver-dingen. Die Lhne sind noch immer etwas hher als dieHungerlhne, die sie in ihrer Heimat erhalten. Die Unter-nehmerInnen knnen mit ihnen anfangen, was sie wollen,sie erpressen und sie benutzen, um den Durchschnittslohnzu drcken, was sie selbstredend auch tun. Aber jetzt mch-te ich die Gegenseite der Medaille zeigen. Gleichzeitig hatdiese wachsende Spaltung der Lohnabhngigenklasse zu ei-nem von der Unternehmerschaft gnzlich unerwarteten Er-gebnis gefhrt. Die entqualifizierten LohnarbeiterInnensind zu einem aktiven, selbstbewuten Widerstand unfhig,aber gleichzeitig findet ein wachsendes Selbstbewutseinunter den hochqualifizierten Lohnabhngigen statt. Es gibtein geflgeltes Wort, das am ersten Kongre der polnischenSolidarnosc von einem Genossen (der jetzt Mitglied der

    4. Internationalen geworden ist) geprgt wurde: die daoben, korrupt und inkompentent. Das korrupt ist nichtsNeues, aber das inkompetent, das ist eine riesige nde-rung in der Mentalitt eines Teils der ArbeiterInnenklasse.Ich habe Arbeiterschulungskurse und Gewerkschaftsschu-lungskurse durchgefhrt, in den letzten zwanzig, fnfund-zwanzig Jahren wahrscheinlich vor mehr als 100 000 Ge-

    werkschaftlerInnen gesprochen. Die allgemeine Reaktionder ArbeiterInnen und GewerkschaftlerInnen, die an diesen

    Kursen teilnahmen, war: Naja, was du da sagst, ist alles sehrschn, wir knnen froh sein, wenn sich das in die Tat um-setzt, aber wie knnen wir denn ohne Techniker, Ingenieure,Fabrikdirektore auskommen, dazu haben wir die Fhigkeitdoch gar nicht. Das hat sich jetzt gendert, und es heit: Wirknnen es besser als die Ingenieure, die knnen es nur theo-retisch, wir haben die tgliche Praxis im Betrieb. Sie werdenihnen auf die Schulter klopfen, ohne Gewalt, die ist garnicht notwendig, und sagen: Geht weg, ihr seid unntig, wir

    brauchen euch nicht, wir knnen es besser als ihr.Das ist eine groe nderung in der Mentalitt. Ich gebe

    gerne zu, es handelt sich nur um einen Bruchteil der Lohn-

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    Robert Kurz

    M it Volldampf in den Kollaps

    Wir leben heute in einer sehr seltsamen Situation; noch niein der Geschichte der Modernisierung also in den letztenzwei- bis dreihundert Jahren hat es eine Situation gegeben,die von einer weltweiten sozialen Krise geprgt wurde, in

    der ein derartiges kologisches Zerstrungspotential aufge-baut worden ist und in der so viel kulturelle Zerstrung undVerwahrlosung um sich gegriffen hat, bis hin zu Tendenzenin Richtung einer neuen Barbarei.

    Und das Seltsame und Paradoxe dabei ist gleichzeitig,da in den letzten dreihundert Jahren die Gesellschaftskritiknoch nie so stark abgerstet hat wie heute. Diese Paradoxiegilt es zu erklren, denn die Welt war noch nie so kritikwr-dig wie heute. Oberflchlich ist der Grund fr diesen Wi-derspruch leicht auszumachen, er lt sich in den Kontextdes Zusammenbruchs des Staatssozialismus im Osten stel-len. In den letzten Jahrzehnten war jene Theorie, welche dasZentrum der Gesellschaftskritik der letzten hundert Jahregebildet hat, nmlich der Marxismus, stark vom Bezug aufdiesen Staatssozialismus eingefrbt. Selbst jene KritikerIn-nen im Westen, welche ein kritisches Verhltnis zur Sowjet-union oder zu China hatten, nahmen, wenn auch untergrn-dig, in ihrer Basisargumentation Bezug auf diesen Staatsso-zialismus. Die Folge ist, da es uns in gewisser Weise allendie Sprache verschlagen hat.

    Das Problem, das hier drinsteckt, lt sich wohl nur l-sen, wenn man den Bezugsrahmen erweitert und nicht nur

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    lismus mit dem Begriff der nachholenden Industrialisie-rung verbunden. Aber diese Reduktion bedeutet, das Pro-blem blo auf der quasi technischen Ebene der Industriali-sierung und ihrer Kosten zu suchen und nicht von den ge-sellschaftlichen Formbestimmungen auszugehen. Nachho-lende Industrialisierung, das konnte nur ein Problem der

    vom modern-kapitalistischen Standpunkt aus relativ rck-stndigen Regionen der Welt sein: Ruland, China, der sp-ter sogenannten Dritten Welt, der postkolonialen Regionen.berall dort stand nicht das Problem an, die westlich-kapi-talistische Gesellschaft zu berwinden was nicht da ist,kann logischerweise auch nicht berwunden werden , imGegenteil: Es wurden auf eine spezifische Art und WeiseFormen wiederholt, wie wir sie im Westen vor hundertfnf-zig oder zweihundert Jahren auch gekannt haben. Ich erin-

    nere nur an die staatskonomischen Systeme des Merkanti-lismus im 17. und 18. Jahrhundert, da fand sich vieles, was esauch im Staatssozialismus gab: Auenhandelsmonopol,staatliche Preisfestsetzung, staatliches Eigentum an denfortgeschrittensten Produktionsmitteln (das waren damalsdie Manufakturen). Das ist alles nichts vllig Neues, nur hatdas im Westen schon viel frher stattgefunden und ist lngstmehr oder weniger in Vergessenheit geraten. In diesem Sinnhat sich die westliche Entwicklung wiederholt, inklusive der

    revolutionren Formen.Von diesem Standpunkt aus gesehen, wre die berhmte

    Oktoberrevolution eine Nachholung der Franzsischen Re-volution im Osten, und auch die spteren nationalen Befrei-ungsbewegungen, die Revolution in China und hnliche Re-

    volutionen wren jeweils sozusagen das Imitat oder dienachholende Einlsung dessen, wofr im Westen die Fran-zsische Revolution steht, inklusive der Fahnen, der Barri-kaden, des bewaffneten Kampfes und allem, was da an My-

    thologie mitschwingt. Das bedeutet natrlich fr die westli-che Linke die bittere Erkenntnis, da man hier gewisser-maen einer optischen Tuschung erlegen ist. Nicht, da

    Mit Volldampf in den Kollaps 39

    die Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg und den soge-nannten Systemkonflikt als Bezugsrahmen nimmt. Den Sy-stemkonflikt hat der Westen gewonnen. Wenn man aberden zeitlichen Rahmen erweitert und sich statt dessen auf

    jene letzten zwei- oder dreihundert Jahre bezieht, knnteman ironisch feststellen, da der Staatssozialismus beinahepnktlich zum zweihundertjhrigen Jubilum der Franzsi-schen Revolution zusammengebrochen ist.

    Fr den kurzen Zeitraum nach dem Zweiten Weltkriegerscheint es hingegen selbstverstndlich, da mit dem stli-chen Staatssozialismus auch jegliche postkapitalistische Al-ternative am Ende ist. Und so soll es bis in alle Zukunft sein,

    will man der schnen Rede vom Ende der Geschichte desHerrn Fukujama und anderen Glauben schenken. Aus dieserPerspektive kann sich alles, was an Kritik formuliert wird,

    nur noch in den Bezugsrahmen der westlichen marktwirt-schaftsdemokratischen Ordnung stellen.

    Der weitere Bezugsrahmen bringt einen jedoch auf ganzandere Gedanken: Was jetzt in die Krise gekommen ist, sinddie gemeinsamen Grundlagen jener zweihundert oder mehr

    Jahre Modernisierungsgeschichte. Hier handelt es sich umeine gemeinsame Krise von Ost und West, welche nicht imSystemkonflikt und dessen Kriterien aufgeht, sondern vieltiefer reicht. Es mag einerseits fr eineN gestandeneN Ge-

    sellschafts- und KapitalismuskritikerIn trostreich sein, da,obwohl der Kapitalismus zwar briggeblieben ist, er alsnchstes auch in die Krise kommt. Andererseits ist es gleich-zeitig schmerzhaft, heit es doch, da die bisherige Gesell-schaftskritik, der Marxismus zumindest so, wie wir ihn ver-stehen und wie er im theoretischen und ffentlichen Be-

    wutsein existiert , da dieser Marxismus und die mit ihmverbundenen Gesellschaftsformationen selber Teil dieserModernisierungsgeschichte waren und somit Teil dessen,

    was jetzt insgesamt in die Krise kommt.Ich mchte nun versuchen, dieses Problem neu zu defi-

    nieren. Meistens wurde das Problematische am Staatssozia-

    38 Robert Kurz

    Mit V lld f i d K ll 4140 R b t K

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    groen Teilen der Dritten Welt ganze Nationalkonomienzusammengebrochen. Die Misere Afrikas fing damals an, inLateinamerika begann die Epoche der Hyperinflation undder Deindustrialisierung. Das verlorene Jahrzehnt, wie esdann Ende der achtziger Jahre genannt wurde. Man hat esalso erst mal verdrngt und den Zusammenbruch des ver-meintlichen Gegensystems zum Anla genommen, sich et-

    was in die Tasche zu lgen.Damit verknpft wurde die Erwartung, da sich mit der

    ffnung des Ostens wunderbare neue Mrkte auftun wr-den, ein neuer Akkumulationsschub des Kapitals wie nachdem Zweiten Weltkrieg zu erwarten sei und der Westen sei-ne Krise gerade mit dem Zusammenbruch des Ostens lsenknne. Mittlerweile sind wir nahezu eine halbe Dekade wei-ter, und es zeigt sich immer deutlicher, da diese Hoffnun-

    gen Trugbilder sind, die man sich aus dem Kopf schlagenkann. Im Gegenteil: Nicht nur kehrt die Krise in den We-sten zurck (streng genommen war sie ja nie weg), sie wirdauch in ihrem Ausma immer deutlicher erkennbar. DieRckkoppelungsprozesse aus den Zusammenbrchen imOsten ereilen auch uns allmhlich, es kommt also eher Ne-gatives aus diesen Zusammenbruchsregionen auf die westli-che Ordnung zu. Das lt sich in verschiedene Richtungenausleuchten.

    Ein Aspekt dabei ist sicherlich, da die Krise im OstenFlchtlingsstrme, Arbeitsimmigration, neue Formen

    von Massenkriminalitt hervorbringt frher hatten wir dieMafia nur im Sden, jetzt haben wir sie auch im Osten , dieunter anderem Anla fr rassistische Reaktionen in der

    westlichen und gerade auch in der deutschen Bevlkerungsind. Das sind Erscheinungen dieser Krise, die sich mitihrem Andauern fortsetzen werden. Wesentlich ist, da sichdie Hoffnung auf die neuen Mrkte nicht erfllt hat und

    da, so paradox es vom Standpunkt der alten Kapitalismus-kritik auch klingen mag, diese riesigen Massen im Osten frdas westliche Kapital grtenteils nicht ausbeutungsfhig

    Mit Volldampf in den Kollaps 41

    die Geschehnisse unsinnig waren es ist sowieso ein frag-wrdiger Ansatz, geschichtliche Ablufe und Entwicklungennach Gesichtspunkten wie richtig oder falsch oder gar gutund bse beurteilen zu wollen -, es sind epochale Formatio-nen, in denen unter bestimmten Bedingungen Akteure auf-getreten sind, die nicht ber ihren Schatten springen konn-ten, genauso wie wir heute nicht ber unseren Schattenspringen knnen. Doch ist dies ein anderer Schatten, weil

    wir achtzig oder hundert Jahre weiter sind und von heute ausauf diese Geschichte wie auf eine riesige Trmmerlandschaftzurckblicken knnen. So ist es eigentlich die gemeinsame

    Modernisierungsgeschichte, welche diese sogenannten Sy-stemkonflikte hervorgebracht hat, viel mehr durch die histo-rische Ungleichzeitigkeit in den verschiedenen Weltregio-nen als durch andere, postkapitalistische Inhalte bedingt.

    Das ist keine Verurteilung der Geschichte, ich mchtevielmehr den Charakter der heutigen Krise aufzeigen, wel-che eine gemeinsame Krise des jetzigen einheitlichen Welt-systems ist.

    Da auch der Westen in der Krise ist, war schon vor demZusammenbruch des Staatssozialismus nicht gnzlich ausder Welt. Seit Anfang der achtziger Jahre ist das Stichwort

    von der Krise der Arbeitsgesellschaft auch im Westen aufge-taucht. Ich kann mich genau erinnern, wie besorgniserre-

    gend es war, als in Deutschland Anfang der achtziger Jahredie Arbeitslosigkeit erstmals die Millionengrenze ber-schritt. Heute wre das schon wieder eine Erfolgsmeldung;damals hat man sich gefrchtet, es wurden sogar Stimmenlaut, ob der Osten vielleicht doch die bessere Systemalterna-tive sei. Sogar das gab es damals noch. Und dann kam diesergroe Zusammenbruch. Das ganze System im Osten hatsich wie eine Mumie in Staub aufgelst, und in der Folge hatman die eigene Krise erst mal ein bichen verdrngt und

    vergessen, obwohl ja die sozialen Prozesse, die damit ver-bunden waren, die Massenarbeitslosigkeit und neue Armut,immer noch da waren. Schon zehn Jahre vorher sind in

    40 Robert Kurz

    Mit Volldampf in den Kollaps 4342 Robert Kurz

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    klisches Phnomen dar, das mit dem ebenfalls zyklischenkonjunkturellen Aufschwung immer wieder abgebaut wur-de. Marx nannte das die industrielle Reservearmee. Die

    Arbeitslosen wurden nur als Reservearmee fr den nchstenAufschwung betrachtet und damit fr die Reabsorption ih-rer Arbeitskraft in die Verwertungsbewegung des Kapitals

    bereit gehalten. Das scheint nun vorbei zu sein. Denn vonZyklus zu Zyklus, ganz unabhngig von dessen Auf und Ab,hat sich die sogenannte Sockelarbeitslosigkeit erhht. Ichhabe vorhin erwhnt, fr die Bundesrepublik Deutschland

    wre es heute eine Erfolgsmeldung, nur eine Million Ar-beitslose zu haben, mittlerweile sind es ca. vier Millionen.Und dabei ist das gar nicht die reale Zahl, denn in Wirklich-keit ist die Massenarbeitslosigkeit viel grer, wrde mandie ganzen Auffangmanahmen Vorruhestand, ABM (so-

    genannte Arbeitsbeschaffungsmanahmen ) und die stati-stischen Tricks einbeziehen. Dieses Wegretouchieren eines

    Teils der Massenarbeitslosigkeit durch statistische Tricks istin fast allen Lndern heute blich, welche berhaupt nocheine Arbeitslosenstatistik fhren. Fr die Bundesrepublikheit das, da man sich bis vor ein paar Jahren noch auf dieGesamtzahl der ArbeitnehmerInnen bzw. die Lohnabhngi-gen bezogen hat. Inwischen bezieht man sich auf die Ge-samtzahl der sogenannten Erwerbspersonen, inklusive smt-

    licher Selbstndiger und mithelfender Familienangehriger,und wie die statistischen Bezeichnungen lauten, um damitdie Statistik zu schnen. Dies nur als Beispiel; diese Trickssind von Land zu Land verschieden, werden aber ange-

    wandt.Steigende Sockelarbeitslosigkeit ist also unabhngig von

    Zyklen, das ist nicht nur ein deutsches oder mitteleuropi-sches, sondern ein globales Phnomen. Im Frhjahr 1994hat die Internationale Arbeitsorganisation in Genf eine Ana-

    lyse herausgebracht, wonach heute im Weltmastab realdreiig Prozent der arbeitsfhigen Bevlkerung arbeitslossind, de facto arbeitslos. In dieser kritischen Analyse wurden

    Mit Volldampf in den Kollaps 43

    sind. Auf jeden Fall haben die groen Investitionsstrmenach Osten bis jetzt nicht stattgefunden. Es gibt auch keineerkennbaren Tendenzen oder Absichten, diese geffnetenund sozusagen wehrlosen riesigen Regionen in einer ande-ren Weise zu annektieren, sie sich anzueignen, unter denNagel zu reien sie stellen die verbrannte Erde der Markt-

    wirtschaft oder der Modernisierung dar, und der Westenwei eigentlich gar nicht, was er damit anfangen soll. DerOsten jagt ihm wieder Angst ein, vielleicht sogar strker alszu Zeiten der alten Sowjetunion, denn jetzt knnte es ja sein,da diese riesige, waffenstarrende, mit Atombomben vollge-stopfte Region pltzlich vllig unkontrollierbare Gestaltenhervorbringt, die wesentlich weniger berechenbar sind, alses der gute alte Breschnjew war.

    Was nun die gemeinsame Krise angeht, geisterte bei uns

    ein schnes Stichwort im Hinblick auf die deutsche Vereini-gung durch die Zeitungen: statt Aufschwung Ost Ab-schwung West. Das bezog sich eher auf die Konjunktur unddie Rezession der letzten beiden Jahre. Jetzt macht man sich

    wieder Hoffnungen auf Konjunkturbelebungen, aber es istselbst in den offiziellen Kommentaren sprbar, da dieser

    Aufschwung wohl auf sich warten lassen wird zumindest istein skularer Boom, der die jetzige Krise beheben knnte,nicht absehbar.

    Das hat etwas damit zu tun, da wir es nicht mehr mit ei-ner rein zyklischen Bewegung zu tun haben. Der sozusagennormale Zyklus der kapitalistischen Bewegung wird berla-gert von einem anderen Problem, oft strukturelle Krise ge-nannt. Deswegen spricht man mittlerweile von struktureller

    Massenarbeitslosigkeit und nicht mehr blo von zyklischer.Das bedeutet, da die Arbeitslosigkeit im sogenannten zykli-schen Aufschwung der Konjunktur nicht mehr zurckgeht,sich statt dessen sogar eher noch ausdehnt.

    Das hat es in der Geschichte der Modernisierung nochnie gegeben. Die Massenarbeitslosigkeit (sofern es sie gab,vor allem whrend der Weltwirtschaftskrise) stellte ein zy-

    42 Robert Kurz

    Mit Volldampf in den Kollaps 4544 Robert Kurz

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    ist ja anscheinend berhaupt nicht in der Krise, nur die Ar-beit. Das ist insofern paradox, als diese beiden MomentePole ein- und desselben Verhltnisses sind. So wie es un-mglich ist, da sich dieses Abstraktum der Moderne, die

    Arbeit, vom Kapital emanzipieren und fr sich alleine wei-terarbeiten kann, wie das die Staatsreligion im Osten war

    oder auch die Grundauffassung des Marxismus darstellt,ebensowenig ist es mglich, da die Arbeit fr sich alleine indie Krise kommt und das Kapital munter weiterakkumuliert dann wrde ich eher an die katholische Transsubstantiati-onslehre oder an die unbefleckte Empfngnis glauben alsdaran, da ein Kapital sich ohne eine entsprechende Hhean Vernutzung von abstrakter Arbeitskraft, rein als Geldver-mehrung, weiterverwerten kann. Hier scheint etwas nicht zustimmen. Und darauf will ich jetzt nher eingehen. Ich

    mchte die Analyse dieser gemeinsamen Krise mit vierStichworten kurz umreien: 1. Rationalisierung, 2. Globali-sierung, 3. Tertiarisierung, 4. Fiktionalisierung.

    1. Rat ionalisierung

    Was die Krise im Kern auszumachen scheint, ist im weitestenSinne die Rationalisierung. Dazu gehrt die Automatisierung

    von Produktionsprozessen, die Ausdnnung von organisato-rischen Linien, jene organisatorische Rationalisierung also,

    durch welche Arbeitskraft im flchendeckenden Mastab sostark wegrationalisiert wird, da sie ein Ansteigen der Pro-duktivitt in einem Mae bewirkt, das ber die Absorptions-fhigkeit des Kapitals hinausgeht, lebendige Arbeit in be-triebswirtschaftlichen Produktionsprozessen zu verwerten.Diese Aussage stt bei den konomInnen aller Schattie-rungen auf Kritik. Steigerung der Produktivitt, das heiedoch Erweiterung der Mrkte und damit frher oder spterdie berwindung der Krise, folglich neue Prosperitt und ir-

    gendwann auch wieder Abbau der Massenarbeitslosigkeit.Nun, ich denke, da auch diese Argumentation auf eineroptischen Tuschung beruht. Sie hat nur die Rationalisie-

    Mit Volldampf in den Kollaps 45

    einige der erwhnten Tricks durchleuchtet; diese Zahlkommt der Wahrheit nher als die offiziellen Statistiken, siebersteigt die Arbeitslosenrate der Weltwirtschaftskrise von1929/33. Vor allem hatte die damalige Weltwirtschaftskrise,trotz ihres Namens, nicht so globale Auswirkungen wie dieheutige strukturelle Massenarbeitslosigkeit. Man kann also

    in der Tat von einer veritablen Krise der Arbeitsgesellschaftsprechen. Dabei gibt es zwei Merkwrdigkeiten: Die eineist, da smtliche Modernisierungsideologien, Marxismusund Liberalismus eingeschlossen, Arbeit als eine ontologi-sche oder anthropologische Grundgegebenheit verstehen.

    Man geht davon aus, da die Menschen, seit es sie gibt, ge-arbeitet haben, und Arbeit erscheint als etwas, das auer-halb der Geschichte liegt. Wenn man nun von der Krise der

    Arbeitsgesellschaft redet, widerspricht man der eigenen Ba-

    sisideologie, wonach die Arbeit etwas sei, was den Menschenvom Tier unterscheide. Und dann kann natrlich die Arbeitals solche nie in die Krise kommen.

    Der Widerspruch zeigt sich darin, da hier ein Zusam-menhang in die Krise kommt, der bisher nicht als histori-scher, das heit als gewordener und wieder vergehender, be-trachtet worden ist, sondern als menschlicher Grundsach-

    verhalt schlechthin. Es handelt sich nicht um das, was Marxals Stoffwechselproze mit der Natur bezeichnet hat, der ist

    unaufhebbar, solange es Menschen gibt. Heute scheint viel-mehr der Begriff des Verwandlungsprozesses von Arbeit inGeld in die Krise zu kommen, was Marx die abstrakte Arbeitnennt, nmlich die Verausgabung von Nerv, Muskel undHirn in die gesellschaftliche Geldform und damit die Repro-duktion des Menschen im Kontext von Arbeit, Geld und

    Warenkonsum diese Verknpfung von Arbeit mit Geld isthistorisch und keineswegs berhistorisch.

    Das zweite, was paradox erscheint, ist, da wenn man

    frher von der mglichen Krise oder zuknftigen Krise desKapitalismus sprach, meinte man die Krise der Geldverwer-tung, und das scheint heute mega-out zu sein. Das Kapital

    44 Robert Kurz

    Mit Volldampf in den Kollaps 4746 Robert Kurz

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    wendet, wie es Charlie Chaplin in seinem Film Modern Ti-mes so wunderschn karikiert.

    Was hat Henry Ford damit erreicht? Man kann es in ei-ner simplen Zahl ausdrcken. Bis kurz vor dem Ersten Welt-krieg hat eine Automobilfabrik im Durchschnitt sechs- biszehntausend Autos im Jahr hergestellt. Das ging zwar schon

    in groen Fabrikhallen vor sich, aber noch auf eine sehrhandwerkliche, nicht rationalisierte Art und Weise. Was warFords Rationalisierungsgewinn mit seinen neuen Metho-den? Diese Zahl ist nun wirklich ein Hammer, es war damalsein Hammer und ist es auch heute noch. Er hat im Ge-schftsjahr 1914 die USA waren damals noch nicht in denKrieg eingetreten sage und schreibe 248 000 Automobileproduziert. Und das schlug ein wie eine Bombe ein Er-schrecken ging um die ganze Welt, die Figur Henry Ford

    wurde deswegen so berhmt, und berall sprachen verschie-dene TheoretikerInnen und AnalytikerInnen innert Krze

    vom Fordismus. Das war die neue Welle, nicht blo eineModeerscheinung, sondern die Zukunft des Kapitalismus,der Marktwirtschaft und der industriellen Produktion ber-haupt.

    Kein Geringerer als Lenin interessierte sich brennendfr die fordistischen Methoden und lie verlauten: Diesenletzten Schrei der westlichen Wissenschaft, Technologie

    und Rationalisierung mssen wir bernehmen. Warum hatnun diese Rationalisierung als solche nicht in die Krise, son-dern langfristig (wenn wir den Boom nach dem Zweiten

    Weltkrieg miteinbeziehen) zum Gegenteil gefhrt? Fr dieProduktion des einzelnen Automobils bedeutete sie einemassive Zeitersparnis. Trotzdem wurde die menschliche Ar-beitskraft auf diese Weise nicht wegrationalisiert, vielmehr

    wurde sie sozusagen in ihrem Vollzug selbst rationalisiert.Charlie Chaplin hat diese roboterhaften Handbewegungen

    des Fliebandarbeiters auf den bildlichen Begriff gebracht.Und der riesige Produktivittssprung, den die Rationalisie-rung ermglichte, brachte eine so starke Ausweitung der

    Mit Volldampf in den Kollaps 47

    rung bis an die Schwelle der mikroelektronischen Revoluti-on im Auge und nimmt an, da alles in der alten Weise wei-tergehen wird. Fr die Epoche, die man als die fordistischebezeichnet hat, das heit ungefhr vom Ersten Weltkrieg biszum Ende der siebziger Jahre, war es in der Tat so, da Ra-tionalisierung und das ist erst in dieser Zeit berhaupt ein

    Stichwort geworden tatschlich zumindest mittel- bis ln-gerfristig zur Erweiterung der Mrkte und zur Absorptionder Arbeitsmrkte gefhrt hat. Warum? Man kann es sehreinfach an der Person von Mister Henry Ford selbst darstel-len. Ford hat bekanntlich die Rationalisierungsmethodender neuen Arbeitswissenschaft angewandt, welche in diesemZeitraum von dem Ingenieur Frederic Taylor erfunden wur-den. Diese sind brigens inzwischen weiter verfeinert undentwickelt worden, etwa unter der Bezeichnung REFA, es

    gibt in Deutschland seit den zwanziger Jahren ein Rationali-sierungskuratorium der deutschen Wirtschaft, das sich mitdiesen Prozessen befat. Ford hat als erster Unternehmer

    Taylors Rationalisierungsmethoden bernommen und somitetwas angefangen, was das kapitalistische Management bisdahin auer acht gelassen hatte. Die UnternehmerInnenentdeckten, da es in ihren Fabriken einen Rationalisie-rungsspielraum gibt, da man mit wissenschaftlichen Me-thoden die Leerlufe ausschalten und somit Zeit und Geld

    sparen kann time is money.Anstatt die Gestaltung des Arbeitsprozesses wie bisher

    den Meistern und Vorarbeitern zu berlassen, griff man zurberhmten Stoppuhr und analysierte jeden Ablauf bis insDetail wissenschaftlich.

    Das war die eine Innovation, die andere war bekanntlichdas Flieband. Diese Erfindung stammt allerdings nicht vonFord, sondern wurde bezeichnenderweise aus den Schlacht-hfen von Chicago bernommen. Nach dem Schlachten

    wurden die Teile der Rinder und Schweine auf die Fliebn-der verteilt, und dieser Ablauf (das Flieband, nicht dasSchlachten) wurde auf die menschliche Arbeitskraft ange-

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    preiswerten und robusten Traktor entwickelt, der fast so er-folgreich war wie seine Automobile.

    All das brachte eine tiefgreifende Umwlzung mit sich.Nicht nur die fordistische Lebensweise fand allgemeine Ver-breitung, sondern erstmals wurden riesige Massen menschli-cher Arbeitskraft berhaupt in das Rentabilittskalkl dieser

    marktwirtschaftlichen Verwertungsprozesse hineingezogen.Es gert oft in Vergessenheit, da bis zur Mitte des 20. Jahr-hunderts das kapitalistische System noch durchsetzt war vonzahlreichen hauswirtschaftlichen, landwirtschaftlichen,nichtkapitalistischen kleinen warenproduzierenden Sekto-ren. Erst mit der Rationalisierung wurde diese Logik derBetriebswirtschaft mit der abstrakten Vernutzung von

    Mensch und Natur berhaupt flchendeckend und hattediese gewaltige Absorptionsfhigkeit zur Folge. Der

    Mnchner Soziologe Burkart Lutz hat ausgerechnet, dadies allein in der alten Bundesrepublik Deutschland einenzustzlichen Arbeitsplatzgewinn von acht bis zehn Millionenbedeutet hat. Damit konnten nicht nur die Flchtlingsstr-me aus dem Osten nach dem Zweiten Weltkrieg mehr oder

    weniger reibungslos in den Arbeitsproze integriert werden,man war in den sechziger Jahren auch auf die sogenanntenGastarbeiter aus dem Sden angewiesen.

    Warum ist die heutige Rationalisierung das genaue Ge-

    genteil? Das lt sich ganz einfach erklren. Mit Hilfe derneuen mikroelektronischen Technologie wird die Lcke,

    welche der oder die menschliche ArbeiterIn im hochrationa-lisierten System des Fordismus noch ausfllte, in der er odersie gewissermaen die Aufgabe eines chaplinesken Robotersbernahm, diese Lcke wird ausgefllt mit neuen Steue-rungs- und Automatisierungspotentialen. Nicht nur das: Be-kanntlich hat unter dem Stichwort lean production (schlan-ke Produktion) eine neue Stufe der organisatorischen Ratio-

    nalisierung stattgefunden. Bei der lean production werdencomputergesttzt, also indirekt auch mit Hilfe der Mikro-elektronik, sehr viele Ebenen wegrationalisiert. Der ganze

    p p

    Produktion, da man nicht weniger, sondern insgesamt so-gar mehr ArbeiterInnen brauchte. Das wre nicht mglichgewesen, wenn das Automobil auf diese Weise nicht gleich-zeitig viel billiger geworden wre. Das war Henry Fordsstrkster Trumpf er ermglichte seinen ArbeiterInnen, ein

    Auto zu besitzen; zu dieser Zeit erschien das als geradezu re-

    volutionr, denn bis dahin stellte das Automobil quasi einenLuxusgegenstand fr Playboys dar. Mit Henry Fords Her-stellungsmethode wurde es durch diese extreme Verbilli-gung zu einem Artikel des Massenkonsums.

    Damals war das sensationell, heute wissen wir, da dasPrinzip von abstrakter Arbeit und Marktwirtschaft in seinerfordistischen Form auch zu katastrophalen Entwicklungengefhrt hat, mit den entsprechenden Folgeerscheinungen

    von destruktivem Massenkonsum und Massentourismus.

    Dieser gewaltige Schub, den die Rationalisierung dermenschlichen Arbeitskraft in ihrem Vollzug und mit der un-geheuren Ausdehnung der Produktion und Verbilligung derProdukte bewirkte, fand in verschiedenen Wellen statt,konnte aber die Weltwirtschaftskrise noch nicht verhindern,dazu waren die meisten Lnder noch nicht weit genug.Doch er war Ausgangspunkt einer neuen ra, die in denUSA bereits vor dem Zweiten Weltkrieg begann. Mansprach von einer neuen Lebensweise, Ford nannte es eine

    heute klingt das zynisch rationalisierte Lebensweise.Das betraf nicht nur die Automobilindustrie, innert Kr-

    ze machten sich auch andere Industrien diese neuen Metho-den zu eigen, die Haushaltsgerte- und Unterhaltungselek-tronikindustrie, die Nahrungsmittelindustrie und die Nah-rungsmittel- und Bedarfsgegenstandsdistribution, was die

    Verdrngung der Tante-Emma-Lden durch die heute ber-all bekannten Supermrkte zur Folge hatte. Auch die Me-chanisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft

    wurde auf diese Weise rasant vorangetrieben: Nicht nur dieAutos wurden viel billiger, sondern auch mechanische Ger-te wie der Traktor. Henry Ford hat brigens auch einen

    Mit Volldampf in den Kollaps 5150 Robert Kurz

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    wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, bedeutet das, dadiese strukturelle Massenarbeitslosigkeit nie mehr durch ei-nen neuen Boom la Fordismus abgelst werden kann, son-dern sich unaufhaltsam weiter ausdehnen wird. Hier ber-schreitet man irgendwann eine kritische Grenze, die sozia-len Netze werden reien. Womit sollen sie denn noch finan-

    ziert werden, wenn die Abschpfungsmglichkeiten, die derStaat jetzt noch hat, nicht mehr vorhanden sind? Und dann

    wird dieser Zusammenhang Arbeit-Geldeinkommen-Wa-renkonsum schlicht fragwrdig. Ganz abgesehen davon, daer auch aus anderen Grnden, zum Beispiel kologischen,gelinde gesagt fragwrdig geworden ist.

    2. Globalisierung

    Dieses Stichwort steht fr die Globalisierung der Mrkte

    und die Herstellung eines unmittelbaren Weltkapitals. DieseEntwicklung ist ebenfalls neu, sie beruht auf den neuen Pro-duktivkrften der Mikroelektronik, welche es ermglichen,sich per Satellitenkommunikation und neuen Steuerungs-und Kommunikationspotentialen weltweit die Mrkte zu su-chen. Das sind nicht nur Mrkte im Sinne bisheriger Auen-beziehungen, von Import-Export zwischen den in sichkohrenten Nationalkonomien. Diese neuen Potentiale er-mglichen es, den kapitalistischen Produktionsproze quer

    zu den bisherigen Nationalkonomien verlaufen zu lassen;die bisherige nationalkonomische Kohrenz wird aufge-sprengt. Ich mchte das anhand eines einfachen kleinen Bei-spiels erlutern, welches man fr die zentralen industriellenund Dienstleistungssektoren hochrechnen kann. Ein Schrift-steller aus Ost-Berlin hat mir von einer kleinen Kultur- oder

    Theaterzeitschrift erzhlt, welche von der Treuhandanstaltwie blich abgewickelt werden sollte, weil sie, mit einemAbonnentInnenstamm von ein paar tausend Leuten, nicht

    rentabel zu sein schien. Nun fand sich ein englischer Verle-ger dafr, und zwar fr denselben AbonnentInnenstamm.Sein Rentabilittsrezept sah folgendermaen aus: Er lie die

    Ablauf wird als einheitlicher Gesamtkomplex gesehen beider Konstruktion wird schon der Vertrieb mitgeplant, dasergibt einen Durchlauf, bei dem sich viele bis dahin unbesei-tigbare Reibungsflchen eliminieren lassen. Das bedeutetunter anderem auch, da Teile des Managements selber

    wegrationalisiert werden. Allein in der deutschen Automo-

    bilindustrie sind aus den mittleren Fhrungsebenen in denletzten zwei Jahren ca. 40 000 Leute auf die Strae gesetzt

    worden.Es tut sich hier eine absolute Grenze auf. Denn dieser

    Proze geht weiter, und wir stehen heute erst am Anfang.Nachdem also fnf Millionen wegrationalisiert wurden,startet man alle paar Jahre wieder eine dieser Kampagnender Mensch im Mittelpunkt, schafft wieder 30 000 neue

    Arbeitspltze und behauptet, die seien hochqualifiziert und

    besonders menschlich. Dann kommt die nchste Rationali-sierungswelle. Die ist brigens jetzt schon vor der Tr man braucht nur aufmerksam die Wirtschaftspresse und dieentsprechenden Analysen zu verfolgen. Schon jetzt gibt esneue Potentiale der Miniaturisierung, welche bisher nichtfr mglich gehaltene Rationalisierungsmglichkeiten bein-halten. Bei den KybernetikerInnen oder InformatikerInnen

    wird es z.B. der Griff in die Kiste genannt. Man mu demRoboter nicht mehr die Arbeitsgerte fein suberlich hinle-

    gen, er kann so programmiert werden, da er idealerweise ineine Kiste mit wild angehuften Teilen greift und das richti-ge rausholt. Diese Entwicklung beschrnkt sich nicht nurauf die Industrie, sondern weitet sich auf die anderen Sekto-ren aus: auf die Dienstleistungssektoren zum Beispiel, aufdas Geld- und Versicherungsgewerbe. Das hat unter ande-rem zur Folge, da sich die Kundschaft zunehmend selbstbedienen mu. Bei unserer Sparkasse zum Beispiel erhltman die Kontoauszge nicht mehr zugeschickt, statt dessen

    mu man den Kontostand per Karte an einem Automatenselber erfragen. Das alles war vor ein paar Jahren noch nichtmglich, da muten es noch Menschen bearbeiten. Aber

    Mit Volldampf in den Kollaps 5352 Robert Kurz

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    ment, die politische Klasse oder jedenfalls die Fhrungs-mannschaften noch eine gemeinsame Strategie htten laErster Weltkrieg, ist auf dem Holzweg. Das ist ein Anachro-nismus geworden, jedoch auf eine ungute Weise: Der kapi-talistische Proze selber wchst blind ber die nationalko-nomischen Grenzen hinaus. So verschrft sich mit der Inter-

    nationalisierung der Arbeitsmrkte die Krise der Arbeitsge-sellschaft. Die Internationalisierung ist aber nur dem Kapitalmglich: Das kann dorthin gehen, wo die Arbeitskraft ambilligsten ist, und kann seine Zelte auch sehr schnell wiederabbrechen wie es zum Beispiel bei der deutschen Textilin-dustrie der Fall ist. Die produktiven Arbeitspltze wurdenalle nach Sdostasien oder nach Sdeuropa ausgelagert, und

    jetzt hat man die Rationalisierungsstufe erreicht, bei der essich lohnt, die Produktion wieder zurckzuverlagern. Jetzt

    kommen aber nicht die Arbeitspltze zurck, sondern die in-zwischen hochautomatisierte Produktion.

    Diese Prozesse gehen stndig weiter, es gibt hier keineSicherheit mehr. Das Management versucht, mittels globaloutsourcing alles dorthin zu verlagern, wo es von den

    Mrkten, den Krediten, der Arbeitskraft, den Steuern undwas es alles an Rentabilittsgesichtspunkten noch gibt, wo esin der Welt am gnstigsten ist. So wird die nationalkono-mische Loyalitt, auch gegenber den sozialen Prozessen,

    aufgekndigt.Es gibt Leute, die versuchen das mit dem Begriff derEinebnung zu erklren, welche die bisherige nationalkono-mische Aufteilung in reiche und arme Lnder aufhebt. DieErste, Zweite und Dritte Welt existieren zwar noch als eine

    Art Schattenri, im groen und ganzen wird diese Auftei-lung aber allmhlich eingeebnet, die Erste und die Dritte

    Welt schlielich ist berall. In Gelsenkirchen liegt die Drit-te Welt gleich neben der Ersten Welt, Bulgarien und Indien

    verfgen ber konkurrenzfhige Softwareproduzenten, Bra-silien exportiert erfolgreich Dsenjger und chemische Pro-dukte ganz zu schweigen von Sdostasien , gleich neben-

    Zeitschrift in Singapur drucken und ber die Karibik auslie-fern, weil dort die Postgebhren so billig sind. Das heit, esist nach wie vor eine deutsche Kulturzeitschrift fr einenkleinen ostdeutschen AbonnentInnenstamm, wird aber voneinem englischen Verleger in Singapur gedruckt und berdie Karibik ausgeliefert, und das lohnt sich auch noch.

    Jetzt kann man sich vorstellen, wie sich das erst bei denAutomobil- und den Elektronikteilezulieferern usw. lohnt.Und genau das findet statt. In den letzten zehn bis fnfzehn

    Jahren hat sich der Welthandel strker ausgedehnt, als dieProduktion angestiegen ist. Ein auf den ersten Bick verblf-fendes Phnomen, das sich genau durch diese Globalisie-rung erklren lt. Denn sehr vieles, was rein formal als Ex-port und Import irgendwelcher Nationen erscheint, ist in

    Wirklichkeit lngst Teil einer internationalen Arbeitsteilung

    in der Produktion selber. Das bedeutet, da diese internatio-nalisierte Produktion ber den nationalkonomischen Rah-men hinauswchst. Das zeigt sich auch auf dem Sektor derFinanzmrkte, die Nationalbanken haben scho