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Magazin der Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung des Landes Nordrhein-Westfalen Dezember 2013 Faire Arbeit, faire Löhne Bildungsträger im Übergangssystem • Produktionsschulen Gütersloh und Wolgast Make-or- Buy-Ansätze 1.000 neue Außenarbeitsplätze 15 Jahre Jugend in Arbeit Prof. Dr. Dr. h. c. Möller: Ungleichheit NRW-Landesschlichter Generation Praktikum SESAM G.I.B. INFO 4 13

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G.I.B. – Gesellschaft für innovative Beschäftigungs- förderung mbH · Im Blankenfeld 4 · 46238 Bottrop, PVSt. Deutsche Post AG, Entgelt bezahlt

Magazin der Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung des Landes Nordrhein-Westfalen Dezember 2013

Faire Arbeit, faire LöhneBildungsträger im Übergangssystem • Produktionsschulen Gütersloh und Wolgast • Make-or-

Buy-Ansätze • 1.000 neue Außenarbeitsplätze • 15 Jahre Jugend in Arbeit • Prof. Dr. Dr. h. c.

Möller: Ungleichheit • NRW-Landesschlichter • Generation Praktikum • SESAM

G.I.B

.INFO

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13

Die Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH ist eine Einrichtung der Landesregierung NRW.

Sie unterstützt die Arbeitspolitik des Landes. Auch bei der Umsetzung des ESF ist die G.I.B. strategischer Partner des MAIS.

Impressum

Herausgeber: G.I.B. – Gesellschaft für innovative

Beschäftigungsförderung mbH, Im Blankenfeld 4, 46238 Bottrop

Verantwortlicher Redakteur: Manfred Keuler

Redaktionskonferenz: Andrea Bosch, Dr. Friedhelm Keuken, Manfred Keuler,

Julia Mahler, Christiane Siegel, Benedikt Willautzkat

An dieser Ausgabe haben mitgewirkt: Britta Albertz (Verein „Jugend in Arbeit“),

Andrea Becker (ver.di NRW), Uwe Becker (Evangelische Jugendhilfe Iserlohn-Hagen

gGmbH), Karl Feldengut, Thomas Fonck (Landschaftsverband Rheinland), Ruth Girmes

M. A. (Universität Duisburg-Essen), Andrea Greiner-Jean (Produktionsschule Wolgast),

Martina Große Halbuer (Landschaftsverband Westfalen-Lippe), Thomas Heitzer (Netz-

werk Lippe), Bernd Höller (agentur mark GmbH), Ulrike Joschko (Regionalagentur

MEO), Jürgen Kempken, Astrid Kempmann (nomiko e. V.), Dr. Friedhelm Keuken,

Rosemarie Klein (bbb Dortmund), Dr. Andreas Kletzander (Jobcenter Wuppertal), Jürgen

Kockmann (Jobcenter Kreis Steinburt), Niko Köbbe (DGB), Elmar Kotthoff (Caritasver-

band Hagen e. V.), Arnold Kratz, Frank Stefan Krupop, Eva-Maria Kunzig (freie Beraterin),

Stephan Lorenz (Regionalagentur Bonn/Rhein-Sieg), Julia Mahler, Meinolf Melcher

(Kolping Bildungszentren Ruhr gGmbH), Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Möller (IAB), Michael

Nölle (Kreishandwerkerscschaft Düsseldorf), Paul Pantel, Hildegard Pavenstädt-Palsherm

(Kolping-Berufsförderungszentrum Gütersloh), Wilfried Petri (Friseur- und

Kosmetikverband NRW), Bernhard Pollmeyer (MAIS NRW), Dr. Burkhard

Post (Kolping-Berufsförderungszentrum Gütersloh), Dr. Boris Schmidt

(Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin), Dr. Thorsten Schulten (WSI),

Rudolf Stüker (Kolping-Berufsförderungszentrum Gütersloh), Elisabeth

Tadzidilinoff, Sarah Theres Weikamp, Silke Tornede, Michaela Trzecinski

(agentur mark GmbH), Benedikt Willautzkat, Dr. Georg Worthmann

Redaktionsanschrift und Bezugsadresse:

G.I.B. – Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH

Im Blankenfeld 4 | 46238 Bottrop

Tel.: 02041 767-0 | Fax: 02041 767-299

E-Mail: [email protected] | Internet: www.gib.nrw.de

Gestaltung: Andrea Bosch, G.I.B.

Fotos: Arnd Drifte; Joe Kramer; Michel Koczy; kontakt@generation-

praktikum.at; (c) dpa: Karl-Josef Hildenbrand, Daniel Naupold und

Stephanie Pilick; ddpimages: Oliver Lang/Michael Kappeler

Titelfoto: Arno Burgi (c) dpa

Druck: Druckerei Schmidt, Lünen | ZKZ: K31228 | ISSN 1860 – 9384

Bezugspreis: 7,00 EUR, zzgl. 3 EUR für Porto und Verpackung

Erscheint vierteljährlich | Dezember 2013

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VORWORT

So viel vorab

Mindestlohn, Werkverträge, Leihar-beit – Themen, die das Arbeitsministe-rium seit dem Start der Landesinitiati-ve „Faire Arbeit – Fairer Wettbewerb“ besonders intensiv bearbeitet hat – sol-len lt. Koalitionsvertrag von der neuen Bundesregierung angegangen werden. Höchste Zeit, möchte man meinen. Leihbeschäftigung ist überwiegend zweitklassig. Das Werkvertrags-Unwe-sen greift um sich. Der Sozialbericht des Statistischen Bundesamtes 2013 zeigt ein wachsendes Armutsrisiko auf. Die G.I.B. hat ein „Forum Lohnent-wicklung“ organisiert und dazu eine Studie zur Verdienstentwicklung in Auftrag gegeben. In diesem Heft zeich-nen wir die Entwicklung der Löhne und des Niedriglohnsektors auf.

Besonders groß ist der lohnpolitische Handlungsbedarf in der Friseurbran-che. Die Beschäftigten rangieren am Ende der Einkommensskala. Lesen Sie unseren Bericht „Qualität statt Lohndumping im Friseurhandwerk!“

Eher noch schlechter ist die Lage im Wach- und Sicherheitsgewerbe. Hier hat die Gewerkschaft ver.di im April 2013 in einem bundesweit beachte-ten Tarifkonflikt und nach massivem Streik beachtliche Lohnerhöhungen für die Beschäftigten und insbesonde-re für die unteren Lohngruppen durch-gesetzt. Über den Verlauf der Tarifaus-einandersetzungen und die Gründe für den gewerkschaftlichen Erfolg sprachen wir mit Andrea Becker. Die ehemalige Mitarbeiterin einer Arbeitsagentur ist heute Abteilungsleiterin beim Landes-bezirk NRW der Vereinten Dienstleis-tungsgewerkschaft (ver.di).

Eine wichtige Rolle in diesem Tarifkon-flikt spielte Bernhard Pollmeyer. Der Landesschlichter NRW, eine unpar-teiische Institution, die es nur bei uns gibt, stellt im Interview die Bedeutung seiner Institution vor und verdeutlicht zugleich seinen Leitsatz bei der Mode-ration von Tarifauseinandersetzungen: „Kein Wettbewerb über den Lohn!“

Warum etwa das Thema Mindestlohn in Deutschland so kontrovers disku-tiert wird und wie andere europäische Länder das regeln, haben wir mit Dr. Thorsten Schulten vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut in der Hans-Böckler-Stiftung bespro-chen. Schulten ist Referent für Arbeits- und Tarifpolitik in Europa und Mit-glied der Kommission, die das Land beim Thema „Mindestlohn für die öf-fentliche Auftragsvergabe“ berät.

Unser Interview mit Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Möller komplettiert die Arti-kel zum Thema Faire Arbeit in diesem Heft. Der Direktor des Instituts für Ar-beitsmarkt und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg, der Forschungseinrich-tung der Bundesagentur für Arbeit, zeigt eindringlich die gesellschafts-politische Dimension auskömmlicher Löhne und einer gerechten Verteilung von Markteinkommen auf und befin-det: „Sozialvertrauen ist ein hoher so-zialer und ökonomischer Wert.“

Die Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss – Übergang Schule – Beruf in NRW“ erreicht fast alle Poli-tikfelder in NRW. Wichtigstes Hand-lungsfeld der Arbeitsmarktpolitik ist dabei der Übergang von der Schule in

den Beruf. Die Stadt Hagen und der Ennepe-Ruhr-Kreis sind zu Beginn des Jahres gemeinsam in die Umset-zung eingestiegen. Während andere Kommunen noch daran arbeiten, wie sie die regionalen Bildungsträger und Wohlfahrtsverbände in die neu zu ge-staltenden Übergangsstrukturen inte-grieren, zeichnen sich in Hagen und Ennepe-Ruhr schon klare Konturen ab.

Ansonsten in diesem Heft: Das Mo-dellprojekt „Teilhabe an Arbeit“, mit dem 1.000 neue Außenarbeitsplät-ze für Menschen mit Behinderung in NRW geschaffen werden sollen, die arbeitsbezogene Grundbildung an Einfacharbeits plätzen, die „Genera-tion Praktikum“, zwei weitere Bei-spiele von Produktionsschulen, der in Gütersloh und einer in Vorpom-mern-Greifswald, sowie der Trend, dass immer mehr Jobcenter ihre Ein-gliederungsmaßnahmen selbst orga-nisieren. Besonders zu empfehlen an-lässlich des 15-jährigen Jubiläums von „Jugend in Arbeit plus“: unser Round-table zu einem der wirksamsten Förder-angebote nordrhein-westfälischer Ar-beitsmarktpolitik.

Viel Spaß beim Lesen wünscht wieder

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So viel vorab

Jugend und BerufDer lokale Bildungsträgerverbund in Hagen/Ennepe-RuhrProduktionsschule Vorpommern-Greifswald: „Zum Basteln würden die Jugendlichen nicht kommen“Produktionsschule Gütersloh: „Produktionsschulen sind auch eine pädagogische Haltung“ 15 Jahre „Jugend in Arbeit“ – eines der erfolgreichsten Förderangebote in NRW

SGB IISelber machen oder einkaufen? Immer mehr Jobcenter organisieren ihre Eingliederungsmaßnahmen selbst

Wege in ArbeitLandesinitiative fördert 1.000 neue Außenarbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen in NRW

Faire Arbeit, faire LöhneFaire Arbeit, faire Löhne: Qualität statt Lohndumping. Lohnpolitik im FriseurhandwerkZur Entwicklung der Löhne und des Niedriglohnsektors. Datenquellen im VergleichInterview mit Dr. Thorsten Schulten: „Die Gesellschaft muss sich verständigen, was ein angemessener Lohn ist“Interview mit Bernhard Pollmeyer: „Kein Wettbewerb über den Lohn!“Interview mit Andrea Becker: „Die Entschlossenheit der Beschäftigten war enorm“Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Möller: „Sozialvertrauen ist ein hoher sozialer und ökonomischer Wert“

Arbeitsgestaltung und -sicherungGeneration Praktikum. Gut ausgebildet und ausgebeutet?Projekt „SESAM“. Arbeitsbezogene Grundbildung an Einfacharbeitsplätzen

Monitoring und EvaluationJugend in Arbeit plus. Untersuchung des ProgrammsTeilzeitberufsausbildung (TEP). Ergebnisse aus vier Jahren Programmumsetzung

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JUGEND UND BERUF

Die Stadt Hagen und der Ennepe-Ruhr-

Kreis sind zu Beginn des Jahres gemein-

sam in die Umsetzung der Landesiniti-

ative „Kein Abschluss ohne Anschluss

– Übergang Schule – Beruf in NRW“ ein-

gestiegen. Während andere Kommunen

noch eine Form suchen, wie die regio-

nalen Bildungsträger und Wohlfahrts-

verbände in die Steuerungs- und Ar-

beitsstruktur integriert werden können,

ist ihre Rolle in Hagen/Ennepe-Ruhr

schon deutlich konturiert.

Der Ennepe-Ruhr-Kreis und die Stadt Ha-gen mussten Anfang 2013, als das Pro-jekt in der Region startete, nicht bei null beginnen. Im Rahmen der Förderinitia-tive „Regionales Übergangsmanagement (RÜM)“ des Bundesministeriums für Bil-dung und Forschung arbeiteten die Stadt und der Kreis bereits seit 2006 eng zusam-men. Das machte schon deshalb Sinn, weil der Arbeitsagenturbezirk Hagen neben der Stadt Hagen auch den Ennepe-Ruhr-Kreis umfasst und sich die Schulaufsicht ebenfalls über beide Gebietskörperschaf-ten erstreckt.

Kernkompetenzen gebündelt

Die agentur mark1, die mit der operativen Umsetzung der Kommunalen Koordinie-rung in der Region beauftragt ist, und die regionalen Bildungsträger waren 2006 ebenfalls schon mit eingebunden. Die Bil-dungsträger gründeten im Jahr 2012 den „Trägerverbund Berufsorientierung Ha-gEN“ mit dem Ziel, die unterschiedlichen Kernkompetenzen zu bündeln und aufei-nander abzustimmen. Auch zur Nutzung

der verschiedenen Förderprogramme spre-chen sich die Mitglieder ab. 13 anerkannte Träger der Jugendberufshilfe bzw. der Be-rufsorientierung gehören dem Trägerver-bund an. Vertreten sind große kirchliche Träger wie die Caritas, das Kolping-Bil-dungswerk und die Evangelische Jugend-hilfe ebenso wie die VHS, die AWO, das Bildungszentrum des Handels und weitere regionale Bildungseinrichtungen.

„Wenn wir etwas Großes wie das Berufs-orientierungsprogramm oder das neue Übergangssystem schaffen wollen, dann brauchen wir viele im Boot“, das sei der Grundgedanke gewesen, erinnert sich Bernd Höller, Ko-Leiter der Kommunalen Koordinierung bei der agentur mark. Ob-wohl so mancher Kenner der Träger-Sze-

ne einen Zusammenschluss für nicht reali-sierbar hielt, habe sich der Trägerverbund innerhalb von sechs Wochen nach einem ersten Treffen konstituiert. Sehr schnell sei dann auch mit der konzeptionellen Zusam-menarbeit begonnen worden.

Die Zusammenarbeit mit Trägern, die offen-sichtlich Dumpingpreise auf Kosten der ei-genen Mitarbeiter/-innen machen, lehnt der Trägerverbund ab und sieht sich da mit der Kommunalen Koordinierung einig. „Das sind die Träger, die sich offenkundig als unzuverlässig erwiesen haben und die sich nicht in regionale Netzwerke einbringen. Die wollen wir nicht“, sagt Bernd Höller.

Mit dem RÜM-Projekt HagEN nahm der Trägerverbund gemeinsam das Ziel in An-

Tragende Rolle für TrägerDer lokale Bildungsträgerverbund in Hagen/Ennepe-Ruhr

1 Gesellschafter der Agentur Mark sind: die Stadt Hagen, die Südwestfälische Industrie- und Handels-

kammer zu Hagen (SIHK), die Kreishandwerkerschaft Hagen, das Berufsfortbildungswerk-Gemeinnüt-

zige Bildungseinrichtung des DGB GmbH (bfw), die HAGENagentur, Gesellschaft für Wirtschaftsförde-

rung, Stadtmarketing und Tourismus mbh, die Gesellschaft zur Wirtschafts- und Strukturförderung im

Märkischen Kreis mbH (GWS) sowie die Wirtschaftsförderungsagentur Ennepe-Ruhr GmbH

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JUGEND UND BERUF

griff, mehr junge Leute von der Schule in die Ausbildung und in einen Beruf zu füh-ren. Der Trägerverbund stellt sicher, dass ab dem Schuljahr 2013/14 gut 75 Prozent aller Schüler und Schülerinnen von Haupt-, Real-, Gesamt- und Förderschulen – das sind rund 2.400 junge Menschen – in Ha-gen und dem Ennepe-Ruhr-Kreis am Be-rufsorientierungsprogramm (BOP) teil-nehmen können.

Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte BOP wird mit der Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss – Übergang Schule – Beruf in NRW“ verknüpft, in die die Region par-allel einsteigt. In diesem Rahmen sind für die Schüler eine dreitägige Potenzialanaly-se und ein 10-tägiges Modul „Werkstatt-tage“ vorgesehen, für die die Träger ge-schulte Mitarbeiter/-innen bereitstellen.

Die Träger können zum Teil auf eine jahr-zehntelange Zusammenarbeit mit Schulen zurückblicken. Seit über 20 Jahren pflegt zum Beispiel die Evangelische Jugendhil-fe Iserlohn-Hagen hier gute Verbindungen. Angefangen hat man mit einem Angebot von Lebensplanungs- und Berufsorien-tierungsseminaren. Als um 2002 herum in NRW der Kompetenzansatz diskutiert wurde, waren die Träger mit einem Dia-gnostik- und Trainingsprogramm invol-viert. Aus dieser Erfahrung heraus boten die Träger ab ca. 2004 Assessment-Cen-ter-Verfahren für Schulen an, später einen Kompetenz-Check.

Und die Schulen nahmen das Angebot auch gerne an. „Wir waren immer ver-lässliche Partner. Das ist das A und O“, sagt Uwe Becker von der Evangelischen Jugendhilfe Iserlohn-Hagen (ehemals

Diakonisches Werk Ennepe-Ruhr/Ha-gen). So entwickelte sich die Arbeit an den Schulen zu einem Schwerpunkt bei den regionalen Trägern, die sich projekt-bezogen aufeinander abstimmten. Schon dabei verständigte man sich darauf, wel-cher Träger für welche Schule zustän-dig sein sollte, erinnert sich Elmar Kott-hoff vom Caritasverband Hagen: „Wir haben im Rahmen der Arbeitsgemein-schaft in der Jugendberufshilfe (nach § 78 SGB VIII) eine entsprechende Lis-te erstellt, damit es diese Konkurrenzen nicht mehr gab.“ In der Arbeitsgemein-schaft wurden zum Beispiel die Bedarfe an den Förderschulen geklärt und auch entschieden, welche Änderungen in der Berufsorientierung notwendig sind, um mehr Schüler/-innen in Praktika und be-rufliche Ausbildung zu führen.

Meinolf Melcher von den Kolping Bil-dungszentren Ruhr berichtet ebenfalls von „gewachsenen Strukturen“ im En-nepe-Ruhr-Kreis: „Wir haben schon seit 1982 Berufsorientierung an Schulen um-gesetzt, damals schwerpunktmäßig für Ju-gendliche mit Wurzeln im Ausland. Spä-ter gab es Schnuppertage für Jungen und Mädchen, bei denen sie verschiedene Be-rufe kennenlernen konnten.“ Mit Aus-nahme an die Gymnasien verfüge man also über eine gute und gewachsene An-bindung an Schulen. „Schule, Träger und Berufskollegs – das ist ein Kreis, der sich regelmäßig getroffen hat, um die Berufs-orientierung zu verbessern.“ Auch in den Arbeitskreisen der Schulen, zum Beispiel für das Problem Lernbehinderung, saßen neben Schul-, Jugendhilfe- und Arbeits-agenturvertretern stets Vertreter/-innen der Träger. Schon dort versuchte man ge-meinsam, den Übergang von der Schule in Ausbildung und Beruf zu gestalten.

Steuerungsmodell Übergang Schule – Beruf Hagen/Ennepe-Ruhr

Fachausschuss Berufs- und Studienorientierung

Leiter/-innen StuBo- Arbeitskreise*

Schulformsprecher*Trägervertreter*BerufsberatungBildungsbüro*

Vorsitz: Schulaufsicht

Fachausschuss Attraktivität der dualen

AusbildungIHK Bochum

Kreishandwerkerschaften*DGB, WiFö, WJ

Märk. Arbeitgeberverband, AGVEinzelhandel, Pflege, Dehoga

Vorsitz: SIHK

Beirat Schule und BerufVorsitz: Agentur für Arbeit,

Untere SchulaufsichtVertreter aller Schulformen*

Bildungsbüros*Träger Jugendberufshilfe*

DGBFB Jugend+Soziales*

Jobcenter*SIHK, IHK Bochum

Kreishandwerkerschaften*MAV

Kommunale Integrationszentren*agentur mark

AusbildungskonsensVorsitz: SIHK

JobcenterAgentur für Arbeit

KreishandwerkerschaftenHWK Südwestfalen + Dortmund

DGBVertreter Berufskollegs

Träger Jugendberufshilfeagentur mark

Fachausschuss Übergangsangebote

Leiter/-innen Berufskollegs*Trägervertreter*

Jobcenter*Jugendhilfe*

Schulaufsicht BKArbeitgebervertretung*

Vorsitz: Agentur für Arbeit

Team Kommunale Koordinierung

agentur markStadt Hagen, EN-Kreis

Kommunen des EN-Kreises

SteuerkreisSchule Beruf

EN-Kreis + Stadt HagenAgentur für Arbeit

Untere + Obere Schulaufsicht

SIHKJobcenter*

Vorsitz

Vors

itz

Vorsitz

Vorsitz

Vorsitz

Quelle: Folie 3, © agentur mark GmbH

Elmar Kotthoff,

Caritasverband

Hagen e. V.

* Jeweils aus beiden Gebietskörperschaften Hagen und EN

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JUGEND UND BERUF

Mit RÜM kamen neue Elemente hinzu. An der bestehenden Aufteilung der Ar-beitsfelder der regionalen Träger wurde aber nicht gerüttelt. Die agentur mark sieht den Trägerverbund nicht als einen Zusammenschluss von reinen Dienstleis-tungsunternehmen. „Sie sind Partner einer strategischen Entwicklung“, sagt Micha-ela Trzecinski, Ko-Leiterin der Kom-munalen Koordinierung bei der agentur mark. Dazu habe die Gründung des Trä-gerverbundes sehr viel beigetragen. Auch die Kompetenz der Träger in der Arbeit an den Schulen ist unbestritten. Genau die-ser enge Kontakt zu den Schulen sei das, was man in der neuen Landesinitiative haben wolle, sagt Bernd Höller.

Die Träger besitzen auch über ihre Arbeit an den Schulen hinaus die Kernkompetenz im Umgang mit Schülerinnen und Schü-lern mit Förderbedarf. Denn die sozial-pädagogische Arbeit können die Berufs-kollegs bisher kaum leisten. Auch haben sie nicht die Kapazitäten an Werkstätten, die die großen Träger vorhalten. „Für die-se Angebote im Übergangssystem braucht man also die Träger“, so Bernd Höller, „und das sehen auch die Jobcenter in Ha-gen und Ennepe-Ruhr, weil es im Endef-fekt günstiger ist, die vorhandenen Trä-gerkapazitäten zu nutzen, anstatt neue Kapazitäten an anderer Stelle aufzubau-en.“ Dazu kommen die über 100 in der Potenzialanalyse geschulten Mitarbeiter/ -innen der Träger. „Ein richtiges Pfund“, so Uwe Becker. „Da liegen wir als Re gion ganz vorne.“

Träger sitzen in Fachausschüssen

Von daher war es von Anfang an klar, dass man die Bildungsträger bzw. den Träger-verbund in das Steuerungsmodell der neu-

en Landesinitiative in Hagen/Ennepe-Ruhr einbeziehen wollte. Trägervertreter/-innen sitzen in den Fachausschüssen „Berufs- und Studienorientierung“ und „Übergangsan-gebote“. Auch wenn dem Wunsch des Trä-gerverbundes im „Steuerkreis Schule Beruf“ vertreten zu sein, nicht entsprochen wur-de, bewerten die Trägervertreter/-innen die Arbeit in den Fachausschüssen durchaus positiv. „Wichtigstes Thema im Fachaus-schuss Berufs- und Studienorientierung ist die Umsetzung der einzelnen Standardele-mente und deren Qualitätsstandards. Hier können wir konkret unsere Kooperations-vereinbarungen mit den Schulen sowie un-sere fachliche Kompetenz zum Beispiel bei der Durchführung von Werkstatttagen einbringen“, macht Uwe Becker deutlich.

Michaela Trzecinski glaubt, dass man in Hagen und dem Ennepe-Ruhr-Kreis mit einem Steuerungsmodell aus einem relativ kleinen Steuerkreis und den verschiedenen Fachausschüssen gut aufgestellt sei: „Im Steuerkreis sitzen nur die Personen, die über-greifend für das Gesamtsystem Verantwor-tung tragen. Wir haben ihn bewusst klein gehalten, weil dort auch mal schnelle Ent-scheidungen getroffen werden müssen.“ Und je größer ein solcher Kreis sei, des to schwie-riger die Entscheidungsfindung.

Daneben gebe es viele Partner, die für Ein-zelbereiche verantwortlich sind und in die-sen Bereichen Know-how, Entwicklungs-kompetenz usw. mitbringen. Analog zu den Säulen des neuen Übergangssystems „Berufs- und Studienorientierung“, „Über-gangsangebote“ und „Attraktivität der du-alen Ausbildung“ habe man Fachausschüs-se gebildet und die Träger als Vertreter der Jugendhilfe – wie auch die Schulen und die Berufskollegs – in die beiden erstgenann-ten berufen, weil sie genau in diesen Be-

reich ihre Kompetenzen und Verantwor-tungen hätten. Die Fachausschüsse seien dazu da, Entscheidungen vorzubereiten und auch für ihr Fachgebiet Entscheidungen mit Zustimmung des Steuerkreises zu treffen.

„Im Steuerkreis sitzt zum Beispiel die Kreis-direktorin. Die kann sich nicht mit fach-lichen Detailfragen beschäftigen. Sie will eine Vorlage, die die Fachleute beschlos-sen haben, und dann darüber im Steuer-kreis abstimmen, eventuell nachdem sie noch bestimmte Aspekte eingebracht hat, die es aus ihrem Blick für das große Gan-ze zu bedenken gilt“, erläutert Michaela Trzecinski. „Wir brauchen die Fachkom-petenz der Träger, wenn es um inhaltliche Fragen geht, zum Beispiel um die Auswahl-kriterien für die Potenzialanalyse oder um die Organisation der Berufsfelderkundung. Diese Kompetenz haben auch wir als Kom-munale Koordinierung nicht.“

Die Dienstleister, die zum Zuge kommen wollen, müssen neben den Landesvorga-ben auch bestimmte Qualitätskriterien er-füllen, die in einem kommunalen Abstim-mungsprozess festgelegt werden. In diesen Prozess sind in Hagen und Ennepe-Ruhr die Fachausschüsse einbezogen. Die loka-len Träger in diesen Ausschüssen haben Einfluss auf die Diskussion um die Quali-tätskriterien und können so für ihren Trä-gerverbund gute Ausgangsvoraussetzungen bei der Umsetzung der Leistungen schaf-fen. So könnten zum Beispiel eine lokale Verankerung und eine nachweisbare Zu-sammenarbeit mit Schulen zu den Quali-tätskriterien gehören – und die können die lokalen Träger nun wahrlich nachweisen.

Die Verbindung zwischen den Trägern und den Schulen wird in Zukunft über die Kommunale Koordinierung abgewickelt.

Bernd Höller,

Ko-Leiter der Kommunalen

Koordinierung bei der agentur mark

Michaela Trzecinski,

Ko-Leiterin der Kommunalen

Koordinierung bei der agentur mark

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JUGEND UND BERUF

Die Träger reichen ihre Konzepte für die Potenzialanalyse bei der Kommunalen Koordinierung ein. Die prüft diese selbst, lässt sie aber auch beim psychologischen Dienst der Bundesagentur für Arbeit beur-teilen. Alle Träger, die mit ihrem Konzept die festgelegten Kriterien erfüllen, werden in eine Liste aufgenommen, die Ende des Jahres 2013 an die an dem neuen Landes-vorhaben teilnehmenden Schulen weiter-geleitet wird. Außerdem wird es eine In-fo-Veranstaltung für die Schulen geben, auf der sie die Träger mit ihren Konzep-ten kennenlernen können.

Danach kann die Schule dann entschei-den, mit welchem Träger sie zusammen-arbeiten möchte. Die Schulen haben also ein Annahmerecht, das heißt, sie müssen zwar aus dem Pool auswählen, sind aber nicht verpflichtet mit einem Träger zusam-menzuarbeiten, mit dem sie nicht zusam-menarbeiten wollen.

Verunsicherung über Aufgaben-bereiche

So unbestritten die tragende Rolle der Bil-dungsträger in der neuen Landesinitiative in Hagen/Ennepe-Ruhr auch ist, verhindert das nicht, dass es zwischen Trägern und Kommunaler Koordinierung unterschied-liche Auffassungen über ihre zukünftigen Aufgabenbereiche gibt. Man kann daher bei den Trägern eine gewisse Verunsiche-rung feststellen. „Wir waren gut struk-turiert und organisiert und wissen jetzt erst einmal nicht: Wo stehen wir“, sagt Meinolf Melcher. Davon dass die Berufs-kollegs jetzt viele Aufgaben übernehmen und die Betriebe die Praxisphasen sicher-stellen sollten, sei in den Informationsver-anstaltungen die Rede gewesen. Die Rolle der Träger sei dagegen allenfalls unscharf

umrissen worden. Die Vehemenz, mit der die Trägervertreter/-innen dafür plädie-ren, keine Brüche in der Kontinuität der Zusammenarbeit mit den Schulen entste-hen zu lassen, lässt erahnen, dass dieses Gefühl der Unsicherheit bisher nicht ganz gewichen ist. Auch bei den Praktika bzw. Werkstatttagen sieht man beim Trägerver-bund noch Klärungsbedarf. Zurzeit stellt er rund 25.000 Praktikumstage in den eige-nen Betrieben zur Verfügung, in Werkstät-ten, in Sozialeinrichtungen, auch in Büro-berufen. Durch den Trägerverbund haben Schüler/-innen eine große Auswahlmöglich-keit an Berufsfeldern, die sie erkunden kön-nen. Ob Unternehmen diese Funktion über-nehmen können und wollen, sei fraglich.

Die Qualitätsfrage stellt der Trägerver-bund ebenfalls. Für die Potenzialanalyse und die Berufsfelderkundung, für die bis-her in Hagen und Ennepe-Ruhr einmal drei und einmal zehn Tage zur Verfügung standen, sind in der Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss“ nur noch ein plus drei Tage vorgesehen.

Die Potenzialanalyse, die bisher auf drei Tage angesetzt war, soll nach dem neu-en System an einem Tag erfolgen. Für die-se Potenzialanalyse hat der Trägerverbund für ganz Hagen und den Ennepe-Ruhr-Kreis zwei Verfahren durchgesetzt: Hamet und Dia-Train-Potenzialanalyse. Über 100 Mitarbeiter/-innen haben die Träger mittler-weile gemeinsam in diesen beiden Verfahren schulen lassen. Durch die Vereinheitlichung auf zwei Verfahren hat der Trägerverbund die Möglichkeit auch großen Schulen (sechs-zügiger Jahrgang) eine Durchführung inner-halb von einer Woche anzubieten.

Allerdings haben die Verfahren einen Um-fang von zwei bzw. drei Tagen. Man kann

sich in der Trägerrunde zwar – zumindest für das Hamet-Verfahren – vorstellen, dass die Gymnasiasten, die bei der Berufsori-entierung bisher außen vor waren, mögli-cherweise nur einen Tag Berufsorientierung brauchen. Dafür müssten die Haupt- oder Förderschüler aber zwei oder drei Tage bekommen. Sonst könne man Elternge-spräche, die ein wesentlicher Bestandteil der Verfahren seien, nicht mehr anbieten. Den Qualitätsstandard, der vom Land NRW selbst entwickelt worden sei, und den man im Rahmen von BOP in Hagen und im Ennepe-Ruhr-Kreis durchgesetzt habe, wolle man nicht so einfach aufgeben.

Schulen übernehmen

Allerdings sollen bestimmte Aufgaben an den Schulen, die bisher zum Teil die Träger übernommen haben, wie zum Beispiel die Elterngespräche, nach dem neuen Konzept nun verstärkt durch die Schulen selbst er-folgen. Der Qualitätsverlust, den die Trä-ger befürchten, dürfte – unter der Voraus-setzung, dass alles so funktioniert, wie es geplant ist – also eigentlich nicht eintreten.

„Das ist eine Entwicklung, die wir uns in unserer Region schon seit Langem genauso wünschen. Dass nämlich die Schule nicht alle Belange an Träger outsourced, sondern dass Schule diese Dinge selber tut“, erläu-tert Michaela Trzecinski von der agentur mark. Die Schulen hätten mit den Stubos und Schulsozialarbeiterinnen und -arbeitern nun Personal, das den Blick auf die Probleme einzelner Schüler/-innen habe, den früher vor allem die Träger hatten. Das sei genau das, was man schon vor der Umsetzung des neuen Übergangssystems beispielswei-se über das Berufswahlsiegel von den Schu-len gefordert habe. Außerdem überschau-ten Schulen auch die gesamte Entwicklung

„TRÄGERVERBUND BERUFSORIENTIERUNG HAGEN“

• Evangelische Jugendhilfe Iserlohn-Hagen gGmbH, Hagen

• HAZ Arbeit + Zukunft e. V., Hattingen

• Kolping-Bildungswerk e. V., Berufsförderungszentrum Wetter

• Caritasverband Hagen e. V.

• VHS EN-Süd

• VHS Witten Wetter Herdecke

• AWO Ennepe-Ruhr

• AWO Hagen-Märkischer Kreis

• Werkhof gem. GmbH, Hagen

• Lehrbauhof der Baugewerksinnung e. V., Hagen

• Deutsche Edelstahlwerke Karrierewerkstatt GmbH, Witten

• Bildungszentrum des Handels e. V.

• Bildungszentrum des Handels gemeinnützige Service GmbH

TRÄGER SIND VERTRETEN IM:

•   „Arbeitskreis Übergangsangebote“ 

•   „Arbeitskreis Berufs- und Studienorientierung“

•   die in der Jugendberufshilfe tätigen Träger außerdem im: 

Beirat Schule und Beruf

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JUGEND UND BERUF

des Jugendlichen, weil sie den Schüler/die Schülerin während seiner/ihrer gesamten Schullaufbahn begleiten und nicht nur wäh-rend eines kurzen Ausschnitts dieser Lauf-bahn – nämlich der Phase der Berufsorien-tierung. „Daher stimmt es: In Schulen, die gut aufgestellt sind, werden diese Kompe-tenzen von Trägern nicht mehr gefordert“, so Michaela Trzecinski. Sehr wohl gefor-dert sei aber der Blick von außen im Rah-men der Potenzialanalyse – Versuche, auch diesen Part von Schulen selbst erledigen zu lassen, seien gescheitert.

Wenn die Schule also mit den Ergebnis-sen einer Potenzialanalyse selbst weiter-arbeiten kann, so die Kalkulation, dann braucht es auch keine drei Tage für eine Potenzialanalyse durch die Träger, weil die Gespräche mit Schülerinnen, Schülern und Eltern von der Schule selbst durchge-führt werden könnten. „Schule muss die Beratungsleistung, die von Trägern er-bracht wurde, kontinuierlich weiter fort-führen“, sagt Michaela Trzecinski. Dafür sei eine sehr viel deutlichere Verzahnung zwischen Trägern und Schule notwendig, sprich: Träger müssen mit Lehrkräften zukünftig sehr viel enger zusammenar-beiten als bisher, die Ergebnisse von Po-tenzialanalysen müssen an die Schulge-meinschaft transferiert werden, nicht nur an die Schüler/-innen, sondern an Eltern, Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter/-innen. Dafür sei es notwendig, dass die Träger langfristig zur Verfügung stehen. Auch die Kommunale Koordinierung verschweigt al-lerdings nicht, dass auf Schul- bzw. Leh-rerseite für diese neue Aufgabe noch ein erheblicher Qualifizierungsbedarf besteht.

Das ist auch einer der Gründe, warum die Träger nicht glauben, dass sich ihre Bera-tungskompetenz so leicht ersetzen lässt.

„In den Beratungsgesprächen mit Schü-lerinnen und Schülern tauchen mitunter Probleme auf, die mit Schule und Berufs-orientierung nichts zu tun haben. Es kann sein, dass eine Schuldnerberatung mit ins Boot muss oder eine Therapieeinrichtung – dann haben wir die Kompetenz und die kurzen Wege, dorthin zu vermitteln. Wir haben durch die Kooperation mit ande-ren Trägern die Übersicht über entspre-chende Angebote und können entschei-den, was für die bestimmte Familie gut geeignet ist“, erklärt Uwe Becker. Elmar Kotthoff ergänzt, dass man als kirchlicher Wohlfahrtsverband auch schnell mit dem eigenen Leitbild in Konflikt geraten kön-ne, wenn man immer weiter in Richtung einer austauschbaren Dienstleis tung ge-drängt werde. „Wir werden zwar – etwa von den Schulen und auch von der Arbeits-agentur – dafür geschätzt, dass wir nach den Problemen, die ein Schüler/eine Schü-lerin auch zu Hause oder in seinem Umfeld hat, fragen, aber dieser ganzheitliche An-satz wird uns immer weiter beschnitten. Ich würde mir wünschen, dass die Kom-munale Koordinierung diesen Aspekt un-serer Arbeit im Blick behält.“

Außerdem mache eine Kompetenzfest-stellung oder Potenzialanalyse auch nur Sinn, wenn man danach mit den Jugend-lichen weiterarbeite und Kompetenzen entwickle. So biete die Evangelische Ju-gendhilfe zum Beispiel Schlüsselkompe-tenz-Trainings an, mit denen man sehr gute Erfahrungen gemacht habe. Die Einsicht bei Lehrkräften, dass eine För-derung von Schülerinnen und Schülern über den Unterricht hinaus notwendig ist, sei allerdings bisher fast nur an den För-derschulen und einigen Hauptschulen zu beobachten, mit denen die Träger daher gut kooperierten. Schon an den Realschu-

len sieht Uwe Becker da große Probleme und prophezeit, dass das an den Gymna-sien, wo die Berufsorientierung größten-teils Neuland ist, nicht anders sein wird.Andererseits gesteht der Trägerverbund ein, dass gerade an diesen Schulen nur wenige Prozent der Schüler eine solche in-tensive Betreuung brauchen werden. „Das ist eine andere Klientel“, so Meinolf Mel-cher. „Wir kommen aus der Benachteilig-tenförderung und wissen nicht genau, was uns an diesen Schulformen erwartet.“

Neues Rollenverständnis gefordert

Genau an diesem Punkt sieht die agentur mark die Träger zum Teil noch in ihrem al-ten Rollenverständnis verhaftet. „Es geht jetzt nicht mehr vor allem um die ‚Mühse-ligen und Beladenen‘, die die Träger bisher als ihre Klientel hatten, es geht um alle Schü-lerinnen und Schüler aller Schulformen ab der Schulklasse 8“, macht Michaela Trze-cinski deutlich. Träger müssten ihren Blick also auch auf die „guten“ Schüler/-innen richten. Damit würden sich ihre Aufgaben zwangsläufig verändern. Natürlich gebe es aber auch auf den Gymnasien Jugendliche, die besondere Hilfen benötigten.

Das scheint durchaus auch bei den Trägern angekommen zu sein. „Wir müssen sehen, wie wir unsere Pädagogik umstellen“, sagt zum Beispiel Meinolf Melcher mit Blick auf die zukünftige Arbeit an den Gymnasien.

Aber auch die Instrumente, die an den Haupt- und Förderschulen bisher gut funk-tioniert haben, sind wahrscheinlich nicht ohne Modifizierung an die anderen allge-meinbildenden Schulformen übertragbar. „Wir haben schon eine von Realschulen und Gymnasien angestoßene Diskussion in

Meinolf Melcher,

Kolping Bildungszentren Ruhr

9G.I.B.INFO 4 13

JUGEND UND BERUF

der Region darüber, dass die bisherigen Po-tenzialanalysen für diese Schulformen nicht passen“, berichtet Michaela Trzeci nski. Es gebe Träger, die jetzt entsprechende Poten-zialanalysen entwickelten. Das seien aber nicht unbedingt die, die bisher schon im Geschäft waren und sie seien bisher auch noch nicht Mitglied in dem Trägerverbund.

Allerdings geht man in der Kommunalen Koordinierung davon aus, dass mittelfris-tig auch die alteingesessenen Träger ent-sprechende Dienstleistungen anbieten kön-nen. Bernd Höller sieht sie sogar im Vorteil: „Potenzialanalysen für mehrere Hundert Schüler/-innen an einer Schule zu organi-sieren, ist nicht so einfach. Und das haben die Träger des Trägerverbunds bisher sehr gut hinbekommen. Wir sind, auch was die Qualität angeht, zufrieden mit dem Träger-verbund.“ Dennoch möchte die kommunale Koordinierung das Know-how beider Trä-gergruppen nutzen und wünscht sich eine Entwicklungsgemeinschaft für den Bereich der Potenzialanalyse für die neu hinzuge-kommenen Schulformen.

Die Forderung der Träger, dass für För-der- oder Hauptschüler mehr Potenzial-analyse-Tage angesetzt werden sollten als für Gymnasiasten, unterstützt die Kom-munale Koordinierung. „Das sagen auch

die entsprechenden Schulen ganz deutlich“, weiß Michaela Trzecinski. Für Realschu-len, Gymnasien sowie viele Gesamtschu-len gelte das aber nicht. Da müsse man den schmalen Grat zwischen Wünschenswertem und Machbarem finden.

Das Land weist in diesem Zusammenhang immer wieder darauf hin, dass das neue Vorhaben „Kein Abschluss ohne Anschluss – Übergang Schule – Beruf in NRW“ nur Mindeststandards definiert, dass darüber hinausgehende Angebote aber durchaus möglich sein sollen und auch gewünscht sind. Dabei hat die Kommunale Koordi-nierung durchaus Handlungsspielraum, wenn es darum geht, die Rolle der Träger vor Ort zu definieren. Ein Kahlschlag bei den bestehenden vielfältigen Angeboten ist auf keinen Fall beabsichtigt. Natürlich stellt sich dabei immer die Frage der Finanzier-barkeit. Die Umsetzung des neuen Landes-vorhabens steht aber bisher noch am An-fang, seine Etablierung wird mehrere Jahre dauern und möglicherweise auch in die-ser Beziehung neue Optimierungspotenzi-ale aufzeigen.

Neue Betätigungsfelder

Sicher werden Bildungsträger bestimmte Elemente der Berufsorientierung an Schu-

len abgeben müssen, es werden sich durch die neue Landesinitiative aber auch neue Betätigungsfelder für sie auftun. Neben den Gymnasien greifen auch Berufskol-legs, die im Rahmen des neuen Systems mehr Aufgaben übernehmen sollen, mög-licherweise auf die Dienste der Träger zurück. Uwe Becker berichtet, dass sie dies in den gemeinsamen Sitzungen des „Fachausschusses Übergangsangebote“ bereits angedeutet haben. So könnten die Berufskollegs Ausgaben für neues Perso-nal und den Ausbau eigener Werkstät-ten vermeiden. Auch die Jobcenter hät-ten bereits angedeutet, dass sie nicht die Mittel hätten, Angebote für schwächere Schüler/-innen zu organisieren, die nach Schulende nach SGB II versorgt werden müssen.

„Der Trägerverbund ist für die Qualitäts-entwicklung in der Region ein entschei-dender Faktor“, findet Michaela Trze-cinski. Die Rolle der Träger werde sich ändern, aber es ergäben sich auch neue Chancen. „Es ist aber Aufgabe der Trä-ger, ihr Portfolio zu überdenken – und das werden sie zu ihrem eigenen Nutzen auch umsetzen“, ist Bernd Höller über-zeugt. „Ich glaube, letztendlich fahren die Träger besser mit dem neuen Über-gangssystem.“

KONTAKTE

Elmar Kotthoff

Caritasverband Hagen e. V.

Finkenkampstr. 5, 58089 Hagen

Tel.: 02331 988519, E-Mail: [email protected]

Uwe Becker

Evangelische Jugendhilfe Iserlohn-Hagen gGmbH

Frankfurter Str. 30, 58089 Hagen

Tel.: 02331 9228818, E-Mail: [email protected]

Meinolf Melcher

Kolping Bildungszentren Ruhr gGmbH

Sprockhöveler Str. 46, 58452 Witten

Tel.: 02335 96920, E-Mail: [email protected]

Bernd Höller

agentur mark GmbH

Handwerkerstr. 11, 58135 Hagen

Tel.: 02331 800318, E-Mail: [email protected]

Michaela Trzecinski

agentur mark GmbH

Handwerkerstr. 11, 58135 Hagen

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AUTOR

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G.I.B.INFO 4 1310

JUGEND UND BERUF

Ende 2013 sollen mit der Umsetzung der Landesinitiative „Kein Abschluss ohne

Anschluss“ auch in NRW produktionsorientierte Berufsvorbereitungsangebote in

größerer Zahl eingeführt werden. In der letzten Ausgabe des G.I.B.-Infos haben

wir uns deshalb mit Produktionsschulen beschäftigt und die Beispiele Hamburg

Bergedorf und Bielefeld vorgestellt. Weitergehen soll es in dieser Ausgabe mit

einem Praxisbeispiel aus Mecklenburg-Vorpommern und Nord rhein-Westfalen:

der Produktionsschule Vorpommern-Greifswald und Gütersloh.

Der Bedarf an Alternativen wie einer Produktionsschule ist groß in Mecklen-burg-Vorpommern: 14 Prozent aller Ju-gendlichen verlassen hier die Schule ohne Abschluss. Hinzu kommen Altbewerber/-innen ohne Job und Ausbildung, die be-reits sämtliche Maßnahmen der Berufsvor-bereitung ohne Erfolg durchlaufen haben. Entsprechend beträgt das Durchschnitts-alter der Teilnehmenden in der Produk-tionsschule Vorpommern-Greifswald mit den beiden Standorten in Wolgast und Ro-thenklempenow rund 21 Jahre.

„Wir sind für junge Menschen da, die von der Schule auch in neun Jahren nicht zur Berufsreife geführt werden konnten“, stellt Andrea Greiner-Jean klar, Leiterin der Produktionsschule in Trägerschaft des Christlichen Jugenddorfwerks Deutsch-lands e. V. (CJD). „Aber wir wollen nicht nur Reparaturbetrieb sein für die jungen Menschen, für die angeblich nichts mehr geht. Deshalb muss es gelingen, für sie frühzeitig das richtige Angebot zu finden. Alles andere geht auf Kosten der Lebens-zeit der Jugendlichen.“ Schon 2011 habe das Deutsche Jugendinstitut in einer Ver-gleichsstudie zu BVJ, BVB und Produkti-onsschule in allen drei Angeboten Fehl-zuweisungen festgestellt.

„Zuweisungen“, das steht für viele im Widerspruch zur Produktionsschule als „freiwilligem Angebot“. „Auch wir wol-len, dass die Jugendlichen freiwillig zu uns kommen“, relativiert Andrea Greiner-Je-an, „aber wir sprechen auch dann von Frei-willigkeit, wenn sie mit sanftem Druck bei uns ankommen, denn viele junge Men-schen scheuen vor Unbekanntem zurück. Ihre Einstellung ändert sich aber schnell, wenn sie unser Angebot erst mal genauer kennengelernt haben.“ Mit den Beratungs-

„Wir produzieren ernsthaft, zum Basteln

würden die Jugendlichen nicht kommen“Produktionsschule Vorpommern-Greifswald

11G.I.B.INFO 4 13

JUGEND UND BERUF

fachkräften von Jugendamt und Jobcenter hat sie deshalb eine vierwöchige „sankti-onsfreie Probezeit“ vereinbart. „Unser Job ist, in der Zeit herauszufinden, ob es das richtige Angebot ist und zugleich Motiva-tion aufzubauen.“ Das Resultat gibt ihrer Methode recht: Fast alle bleiben!

Drei Bereiche

Wer bleibt, dem stehen in Wolgast oder Rothenklempenow drei Bereiche – Hand-werk, Service und Gartenbau – mit ins-gesamt acht Werkstätten zur Wahl. Zwei Holzwerkstätten und eine Metallwerkstatt im Bereich Handwerk, zwei Küchen, ein Servicebereich Gastronomie mit Zimmer-reinigung und Beherbergung sowie eine Textilwerkstatt im Bereich Hauswirtschaft und im dritten, im landwirtschaftlichen Bereich, eine Kompostieranlage.

Eine ursprünglich eingerichtete Pilzwerk-statt indes wurde schon kurz nach ihrer Gründung wieder abgewickelt: „Die Ar-beit war eintönig, jeden Tag dasselbe. Hier konnten die Jugendlichen nicht viel lernen, das war für sie frustrierend.“ Das Beispiel zeigt, wie flexibel die Produktionsschu-le ist und wie rasch sie auf Bedarfe und Interessen der Teilnehmenden reagiert.

Weitaus beliebter, „eine echte Nische und richtig interessant“, ist die Kompostieran-lage. Hier werden Grünabfälle von Woh-nungsunternehmen, von Baufirmen oder aus Kleingärten geschreddert, gehäckselt und zu Mieten aufgesetzt, wo sie inner-halb von acht Monaten zu feinstem Kom-post verrotten, der dann von Gartenbau-firmen zum Belegen von Grünanlagen und Parks abgeholt wird. Zum Einsatz kommt dabei der professionell ausgerüstete Ma-schinenpark der Werkstatt, bestehend

aus LKW-Radlader, Trecker, Kleinbag-ger und Schredder. Parallel zur Kompos-tierung wird auf der Anlage Gemüse zur Versorgung der Kantine angebaut. Hier erlernen die Jugendlichen Grundlagen des Ackerbaus sowie die Pflege und Ernte von Früchten und Pflanzen – Arbeitsbestand-teile in vielen landwirtschaftlichen Aus-bildungsberufen. Gewünscht ist, dass die Jugendlichen alle eingangs genannten Be-reiche ausprobieren: „Das steigert ihre Be-rufswahlkompetenz.“

Integriertes Arbeiten und Lernen

Arbeiten und Lernen sind unmittelbar verknüpft: „Das Lernen fängt immer mit dem Produkt an“, lautet die Devise. Andrea Greiner-Jean nennt ein Beispiel: „Wenn der Hofladen einer benachbar-ten Straußenfarm unserer Textilwerk-statt den Auftrag erteilt, aus Straußen-leder Portemonnaies oder Brieftaschen herzustellen, lernen die Jugendlichen zu-nächst etwas über die Beschaffenheit des Materials und die Besonderheiten seiner Verarbeitung. Straußenleder ist nämlich ein hochwertiges Material, das man nur einmal nähen kann, wenn etwas schief läuft, kann man es wegwerfen. Das er-fordert eine genaue Planung des gesamt-en Arbeitsprozesses.“

Nur ein geringer Teil der theoretischen Wissensvermittlung indes erfolgt in der Lernwerkstatt, der größere Teil in der Werkstatt selbst. Wenn etwa eine Flei-scherei Verpackungskisten bestellt, wird an einer hier aufgestellten Tafel, „noch be-vor die Jugendlichen Hammer und Säge in die Hand nehmen“ unter Anleitung des Werkstattleiters – so heißt in Wolgast der Werkstattpädagoge –, „gerechnet, gemes-sen und gezeichnet. „Ein Modell steht im-

mer daneben: so können die Jugendlichen schnell erkennen, wie das Produkt am Ende aussehen soll.“ So praxisorientiert und anschaulich spielt sich die Wissens-vermittlung in allen Werkstätten ab.“

Zertifikate oder Qualifizierungsbausteine erwerben die Jugendlichen nur bei Bedarf: „Auf Vorrat qualifizieren wir nicht!“ Den Qualifizierungsbaustein „Herstellen ein-facher Speisen“ aus dem Bereich Haus-wirtschaft etwa nutzen die Jugendlichen als „Türöffner“, um bei der Ausbildungs-platzbewerbung dem Arbeitgeber nachzu-weisen, dass sie geeignet sind, in Küche oder Gastronomie zu arbeiten. Zur Leis-tungsfeststellung erstellen die Jugend-lichen in diesem Gewerk – in Anlehnung an eine bei ihnen beliebte Fernsehserie – „ein perfektes Dinner“. Andrea Greiner-Jean: „Das motiviert!“

Die festgelegte Stundenzahlen für den Erwerb eines Qualifizierungsbausteins ignoriert die Produktionsschulleiterin weitgehend: „Uns interessiert nur, ob die Jugendlichen es können oder nicht. Wenn sie erst nach deutlich mehr als den festge-legten Stunden ihre Fähigkeit nachweisen können – auf unserer Kompetenztafel ist das abgebildet, gibt es keinen Grund, ihnen das bei der Leistungsfeststellung nicht auch zu zertifizieren.“ Was folgt, ist die Vorbe-reitung des Jugendlichen auf die externe Leistungsfeststellung, abgenommen von ex-ternen Prüfern im Auftrag der Kammern.

Obwohl vom Gesetz her möglich, werden Qualifizierungsbausteine bei einer spä-teren betrieblichen Ausbildung nicht oder nur selten anerkannt. Andrea Greiner- Jean: „Wir wünschen uns schon, dass die Betriebe angemessener darauf reagieren.“ Bedenklich findet sie, dass Jugendlichen

G.I.B.INFO 4 1312

JUGEND UND BERUF

aus BvB und Berufsvorbereitungsjahr oft schon dann Berufsreife bescheinigt wird, wenn sie passable Zensuren und wenig Fehlzeiten vorweisen können. „Wir tun den jungen Menschen keinen Gefallen, ih-nen in der Berufsvorbereitung irgendwel-che Abschlüsse hinterherzuwerfen. Unter-nehmen nehmen sie trotzdem nicht, weil sie den theoretischen, für eine duale Aus-bildung erforderlichen Teil nicht schaffen. Wir merken mit unseren Kompetenzfest-stellungsverfahren schnell und sicher, ob jemand über die erforderliche Berufsrei-fe verfügt.“

Zur Kompetenzfeststellung und -dokumen-tation stehen zwei Instrumente zur Verfü-gung: zur Dokumentation die „Kompe-tenztafel“ und zur Kompetenzanalyse das „Profil AC“, ein vom CJD Offenburg ge-meinsam mit dem renommierten Berufs-bildungswerk in Waiblingen, mittlerweile weiterentwickeltes, von der MTO Psycho-logische Forschung und Beratung GmbH zertifiziertes, standardisiertes und von den Jobcentern und Arbeitsagenturen akzep-tiertes Kompetenzfeststellungsverfahren. Das Testverfahren – „eine Kompetenzfest-stellung und kein Stresstest“, betont An-drea Greiner-Jean – findet an zwei Tagen in den Werkstätten statt. „Wenn die Ju-gendlichen gut vorbereitet sind und wis-sen, dass sie nicht durchfallen können, dass wir wirklich auf das achten wollen, was sie können, dann lassen sie sich darauf ein, haben Spaß dabei und zeigen in den zwei Tagen, was sie wirklich können.“

Auch die Sprache bestimmt das Bewusstsein

Ansprechperson in allen Belangen sind für die Jugendlichen die Werkstattpädagogen, in Wolgast, wie erwähnt, Werkstattleiter

genannt. „Obwohl in den Landesrichtli-nien immer von Werkstattpädagogen die Rede ist, haben wir uns für den Begriff Werkstattleiter entschieden. Auch bei uns arbeiten die Werkstattleiter pädagogisch, so wie auch die meisten Betriebsleiter in der Wirtschaft über pädagogische Bil-dung verfügen, aber trotzdem Betriebs-leiter genannt werden. Wir wollen auch über Sprache und Begriffe Assoziationen zu Schule möglichst fernhalten und spre-chen deswegen auch von Lernwerkstatt und nicht vom Unterrichtsraum, von Pro-duktionsschul- und nicht nur von Schul-vertrag und ich bin auch keine Schulleite-rin, denn die wird vom Kultusministerium berufen, sondern Produktionsschulleite-rin. Den Jugendlichen wird so nicht nur über die Produktion selbst, sondern auch über die Sprache die Nähe ihrer Arbeit zu der in regulären Betrieben bewusst.“

Über die fachliche Arbeit haben die Werkstattleiter nach Ansicht von An-drea Greiner-Jean den besten Zugang zu den Jugendlichen. Sie verfügen über Mehr-fachqualifikationen, haben einen Hand-werksberuf erlernt, sind, je nach Werk-statt, Tischler, Zimmerer oder Köchin, haben die Ausbildereignungsprüfung ab-gelegt und verfügen über oft langjährige Erfahrungen in der Ausbildung Jugend-licher in ihren früheren Firmen oder ha-ben zusätzlich die Fortbildung des Bun-desverbands der Produktionsschulen für Werkstattpädagogen absolviert. „In ers-ter Linie aber sind sie Handwerker und Fachleute in ihrem Metier, die Werkstatt-köchin im Bereich „Service“ ist Köchin und Erzieherin in Personalunion. Nach unserer Erfahrung, und das belegen auch die dänischen Erfahrungen, sind Jugend-liche über die Personengruppe der Hand-werker, der wirklichen Praktiker viel eher

anzusprechen als über Sozialpädagogen, die zuerst den sozialpädagogischen Hilfe-bedarf sehen. Ein Werkstattleiter spricht auch anders als ein Sozialpädagoge, zwar ebenfalls respektvoll und auf Augenhöhe, aber manchmal klarer, deutlicher und au-thentischer und nicht in Form ständiger Therapiegespräche. Wir wollen ernsthaft arbeiten und produzieren. Deswegen kom-men die Jugendlichen ja auch zu uns. Sie würden nicht kommen, wenn wir nur bas-teln würden.“

Neben der fachlichen Anleitung, stellt An-drea Greiner-Jean aber zugleich klar, müs-sen und können Anleiter erkennen, ob und welcher zusätzliche Hilfebedarf besteht. Ihre Aufgabe ist es dann, die Jugendlichen „an die richtige Stelle zu lotsen“. Besteht etwa therapeutischer Bedarf, organisiert die Produktionsschulleiterin professionelle Beratung einer kompetenten Psychologin aus dem CJD-eigenen Netzwerk, zu dem auch Integrationsberater der Kompetenz-agentur gehören.

Andrea Greiner-Jean: „Mehr noch als früher brauchen wir auch die Sozialpä-dagogik, weil sich die Klientel verändert hat. Wir haben es jetzt mit einer Gene-ration zu tun, die erlebt, dass ihre Eltern nie gearbeitet haben. Deshalb ist der so-zialpädagogische und therapeutische Be-darf sehr hoch. Und dennoch: Auch im Betrieb kümmern sich nicht tausend Leu-te um einen Beschäftigten. Unser Argu-ment lautet: Wir brauchen Psychologen, Therapeuten und Sozialpädagogen nicht 40 Stunden in der Woche, aber wir müs-sen sie hinzuziehen können, wenn wir sie brauchen – und das ist mit unserem Netz-werk jederzeit garantiert.“ Auf ihr Kon-zept führt sie auch das geringe Ausmaß an Beschädigungen, Gewalt und ande-

13G.I.B.INFO 4 13

JUGEND UND BERUF

ren Übergriffen in der Produktionsschule Wolgast zurück: „Die Jugendlichen mer-ken: Das ist ihr̀ s!“

Das Produktionsschulgeld in Höhe von fünf Euro täglich zahlt die Produktions-schule übrigens in Abhängigkeit von Leis-tung, Anwesenheit, Pünktlichkeit und Ar-beitsbereitschaft – „Kriterien, die man gut abrechnen kann.“ Körperliche Anwe-senheit indes reicht nicht. „Die Jugend-lichen sollen auch den Zusammenhang zwischen ausgezahltem Geld und ihrer Leistung hier sehen. Wenn andere die Ar-beit für sie mit erledigen müssen, erhalten jene auch mal einen Bonus. Zusätzliches „Urlaubsgeld“ erhalten zum Beispiel der-zeit nur 4 von 40.“

Ist die Summe hoch genug, um zu moti-vieren? „Manche der Jugendlichen sind abgesichert und nicht darauf angewie-sen, aber es kratzt an ihrer Ehre. Wir wünschen uns ein Modell, bei dem das Hartz-IV-Geld an die Teilnahme an ei-ner Produktionsschule und an die Ar-beitsleistung gebunden ist, dann wären die Jugendlichen motivierter. Viele Ju-gendliche und ihre Eltern sind über Jah-re daran gewöhnt, auch ohne Leistung versorgt zu werden. Die Verbindung von Leistung und Einkommen ist manchen Jugendlichen gar nicht präsent. Das ist nicht gut für die Gesellschaft – und auch nicht für die Jugendlichen.“

Strategisches Übergangs-management

Durchschnittlich elf Monate bleiben die Jugendlichen in der Produktionsschule, einzelne aber auch bis zu drei oder vier Jahre. „Ein Junge ist mit 15 zu uns gekom-men und erst jetzt, mit 19 Jahren, gegan-

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Produktionsschule Wolgast

Leeraner Str. 5, 17438 Wolgast

andrea.greiner-jean@

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Internet: www.cjd-zinnowitz.de

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Paul Pantel

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gen. Er ist quasi bei uns groß geworden.“ Trotz aller Qualifizierungen und Zertifi-kate, vom Motorsägeschein über Maschi-nenbedienscheine bis hin zum Erwerb von Grundlagenwissen in Mathematik und Deutsch, galt er als nicht ausbildungsfähig. „Bei ihm hat auch die Sozialagentur-Op-tionskommune erkannt, dass sie ihn auch nach Ablauf der regulären Laufzeit nicht aus der Produktionsschule herausnehmen kann. Er hat einfach so lange gebraucht. Jetzt endlich hat er eine Arbeitsstelle ge-funden.“ Ziel aber ist, die Zeit in der Pro-duktionsschule so kurz wie möglich zu halten. „Aber 18 Monate genügen schon nicht, wenn jemand bei uns – gegenwär-tig ist das ein Drittel aller Jugendlichen – den Schulabschluss nachholen will.“

Flexibilität bei der Laufzeit ist der Pro-duktionsschulleiterin auch in einem an-deren Kontext wichtig: „Wir sind nicht abschlussorientiert, sondern wollen An-schlussperspektiven, am besten einen nahtlosen Anschluss.“ Den aber sieht sie gefährdet, wenn Jugendliche Ende Juni aus der Produktionsschule entlassen werden, obwohl ihre Ausbildung erst im September beginnt. „Diese große zeitliche Lücke ist für viele fatal, sie verlieren in dieser Zeit den Anschluss aus dem Blick. Wir haben deshalb mit den Fallmanagern in den Job-centern vereinbart, diesen Zeitraum auf maximal vier Wochen zu reduzieren.“

Ein Teil der Jugendlichen wechselt in Aus-bildung oder Arbeit. Auf die Frage, bei wel-chen Jugendlichen der Übergang nicht ge-lingt, hat die Produktionsschulleiterin eine gleichermaßen simple wie überzeugende Antwort parat: „Genau bei denen nicht, die in der Produktionsschule fehl platziert waren. Da hat unser Konzept nicht gepasst. Kaum eine Überraschung, denn ein Drittel

der Jugendlichen kommt mit psychischen Erkrankungen, mit Drogen- und Suchtpro-blemen zu uns, aber wir sind keine thera-peutische Einrichtung, irgendwann müssen wir auch mal sagen: Es geht nicht! Wenn es uns aber gelingt, diese Jugendlichen in ein passendes Hilfeangebot zu vermitteln, dann ist das auch ein Erfolg!“

G.I.B.INFO 4 1314

JUGEND UND BERUF

Die Zielgruppen der Gütersloher Pro-

duktionsschule in Trägerschaft des

Kolping-Berufsförderungszentrums

(BFZ) sind klar definiert: Besonders

lern- und leistungsschwache Jugend-

liche ohne Schulabschluss, die nach

Ende der allgemeinbildenden Schule

für eine berufsvorbereitende Bildungs-

maßnahme noch nicht geeignet sind;

junge Erwachsene bis 25 Jahre mit so-

genannten multiplen Vermittlungs-

hemmnissen in Kombination mit feh-

lendem Schulabschluss sowie junge

Migrantinnen und Migranten in schwie-

rigen Lebenslagen, die erst kürzere

Zeit in Deutschland leben und nur über

geringe Deutschkenntnisse verfügen.

Diese nüchterne Klassifikation verschlei-ert den Blick auf die Erfahrungswelt der Jugendlichen, in der nicht selten mate-rielle Armut und psychische Probleme, Straffälligkeit und Drogen, Flucht und häusliche Gewalt eine dominante Rolle spielen. „Die Teilnehmer/-innen kommen mit zum Teil kaum vorstellbaren Not-lagen und traumatisierenden Erlebnis-sen zu uns“, weiß BFZ-Pädagogin Hil-degard Pavenstädt-Palsherm. „Selbst bei intensiver sozialpädagogischer Ar-beit wird häufig nur die Spitze des Eis-bergs sichtbar.“

Um auch ihnen Perspektiven in Richtung Arbeitsmarktintegration zu erschließen, ist nach ihrer Überzeugung eine länger-fristige, intensive und flexibel gestalte-

te individuelle Betreuung erforderlich, „gruppiert um einen produktionsorien-tierten Kern“. Nur eine so organisierte Produktionsschule, scheint es, wird den extrem differenzierten Lebenslagen, Er-fahrungen und Voraussetzungen sowie daraus abgeleiteten Entwicklungsbedar-fen der Jugendlichen gerecht und berück-sichtigt ihre besonderen Interessen. So will Produktionsschülerin Conny, Mut-ter eines Kindes, eine Teilzeit-Ausbildung absolvieren, Dione den Hauptschulab-schluss nachholen und Dimitri Tisch-ler werden. Kabar hat sich noch nicht endgültig festgelegt und Susi strebt eine duale Ausbildung im Krankenhaus an.

Auch Jugendlichen, für die ein Acht-Stunden-Tag eine nicht zu bewältigende

„Produktionsschulen sind auch eine

pädagogische Haltung“Produktionsschule Gütersloh

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JUGEND UND BERUF

Herausforderung ist, bietet die Produk-tionsschule einen individuellen Ausweg: „In solchen Einzelfällen“, sagt Rudolf Stüker, ebenfalls Pädagoge am BFZ, „können wir ihnen in Absprache mit dem zuweisenden Jobcenter anfangs eine Teil-zeit-Teilnahme erlauben eine unkonven-tionelle Lösung, die in standardisierten Maßnahmen nicht zur Verfügung steht.“

Greifen die Angebote der Produktions-schule nicht, droht den Jugendlichen, die durch klassische berufsvorbereiten-de Bildungsmaßnahmen, Werkstattjahr oder Aktivierungshilfen kaum mehr zu erreichen sind, der dauerhafte Ausschluss von Erwerbsarbeit und gesellschaftlicher Partizipation. Deshalb und vor dem Er-fahrungshintergrund der Jugendlichen hat sich das Produktionsschulteam für „kleinteilige Ziele“ bei der Entwicklung personaler und sozialer Kompetenzen entschieden. Dazu zählen pünktliches Erscheinen bei der Arbeit, korrekte Ab-meldung im Krankheitsfall, Kontinuität und Ausdauer bei der Arbeit, sinnvoller Umgang mit den vorhandenen finanzi-ellen Ressourcen, Aufbau und Erhalt tragfähiger sozialer Beziehungen, kon-struktiver Umgang mit neuen beruflichen Anforderungen und mit Kritik. Kurze Schritte angesichts eines langen Weges zur Beschäftigungsfähigkeit, aber für die Produktionsschüler/-innen ein gro-ßer Sprung in Richtung Arbeitsmarkt, unter anderem durch ein betriebliches Praktikum.

Markt- und betriebsorientierte Arbeit

Zwei Produktlinien bilden das Hand-lungsfeld der Jugendlichen in Gütersloh:

Holzbearbeitung und hauswirtschaft-liche Dienstleistungen. In der Holz-werkstatt stellen sie am Markt orien-tierte Produkte her, aus Holz gestaltet und in guter Qualität. Nachgefragt bei Kunden sind vor allem Vogelhäuschen. Auf deren Produktion hatten sich Anlei-ter und Teilnehmende nach ausgiebigem Brainstorming und intensiver „Markt-forschung“ geeinigt: „Sie lassen sich gut verkaufen und sind ein Alleinstellungs-merkmal. Zudem vermeidet die Nischen-Produktion Konkurrenzkonflikte mit den örtlichen Betrieben, die wir als Anbie-ter von Praktikums-, Arbeits- und Aus-bildungsplätzen brauchen.“

Wie der Meister oder Geselle in einem Handwerksbetrieb ist der Werkstattan-leiter den Jugendlichen Vorbild und Iden-tifikationsfigur. Unter seiner fachlichen Anleitung fertigen sie Einzelstücke nach Kundenauftrag oder in kleineren Serien. Der geglückte Verkauf steigert das Ar-beitsethos. Jugendliche erfahren dabei – oft zum ersten Mal in ihrem Leben – An-erkennung. Sie können sich sagen: „Was wir produzieren, ist auf dem Markt ge-fragt!“ Aber sie merken zugleich, dass sich nur gute Qualität verkaufen lässt. Das hat Folgen: „Ein Jugendlicher, der Tischler werden will, macht Druck auf seine Kollegen, damit sie genauso sau-ber arbeiten wie er.“ Die Jugendlichen erkennen: Nur, wenn alle zusammen-arbeiten, lässt sich bis zum festgelegten Liefertermin die nachgefragte Zahl an Vogelhäusern produzieren. Die Pädago-gen sind überzeugt: „Mit dieser Erkennt-nis entwickeln sie ihre Persönlichkeit.“

Bei hinreichendem Interesse – ein erster Versuch war an mangelnder Motivation

der Jugendlichen gescheitert – ist ein er-neuter Anlauf zur Herstellung von Do-It- Yourself-Möbeln geplant: Sessel, Stuhl und Regal mit modularem Aufbau, kre-iert vom Berliner Architekten Le Van Bo. Besonderer Anreiz: Eins der Möbel, der „Kreuzberg 36 Chair“, war in der Kate-gorie „Do It Yourself“ Exponat der vom Goethe Institut Taipeh und dem Inter-nationalen Designzentrum kuratierten Ausstellung „German Shades Of Green“.

Zweiter Geschäftsgegenstand der Pro-duktionsschule sind hauswirtschaftliche Dienstleistungen und hier vor allem die Bewirtschaftung eines Kiosks im Pausen- und Aufenthaltsraum des BFZ. Gemüse und Salate zur Speisenzubereitung be-ziehen die Jugendlichen z. T. aus einem in Projektarbeit selbst angelegten Hoch-beet. Das kundenorientierte Angebot er-fordert minuziöse Auftragserfüllung und damit von den Teilnehmenden Ausdau-er, Zuverlässigkeit und Teamfähigkeit. Der Arbeitserfolg spiegelt sich unmittel-bar in der Zufriedenheit der Kunden - für die Jugendlichen „ein Erfolgserleb-nis, das Selbstwirksamkeit erfahrbar macht und zur weiteren Kompetenzan-eignung motiviert.“

Sie profitieren zudem vom „Lebenswelt-bezug“ des hauswirtschaftlichen Dienst-leistungsangebots, erarbeiten sich die Grundlagen einer ausgewogenen Ernäh-rung und lernen, mit begrenztem Bud-get vollwertige Mahlzeiten zuzubereiten. Das stärkt Eigenverantwortung und Ge-sundheitsbewusstsein der oft an Fastfood gewöhnten Zielgruppe der Produktions-schule – „ein enormer Gewinn.“ Drit-tes, eher marginales, Tätigkeitsfeld der Produktionsschule sind die Herstellung

G.I.B.INFO 4 1316

JUGEND UND BERUF

und der Verkauf von Kaminholz – nach-rangig, aber dennoch von Relevanz, weil es den oft sprunghaften Jugendlichen körperlichen Ausgleich und willkom-mene Abwechslung bietet. In den kleinen Waldgebieten von Rheda-Wiedenbrück und Gütersloh wird mit Genehmigung des Regionalforstamts Westfalen-Lippe „gesägt, gesammelt, gehackt und gesta-pelt“. Jugendliche mit entsprechender Reife können hier den Umgang mit der Motorsäge erlernen. Pädagoge Rudolf Stüker ist ein vehementer Verfechter des Zusatzangebots: „Fachliche Qualifizie-rungen haben viele langweilige Anteile. Niemand weiß das besser als Auszubil-dende in Metallberufen, die tagelang an ein und demselben Stück feilen müssen.

Unsere Jugendlichen sind noch nicht ein-seitig belastbar. Bei Langeweile würden sie fernbleiben, abwechslungsreiche Ar-beiten hingegen motivieren sie.“

Um das Erwerbsdenken zu fördern und zur Suche nach weiteren Erwerbsquellen wie dem Kaminholzverkauf anzuregen, wird ein Teil des erwirtschafteten „Ge-winns“ anteilig an die Teilnehmenden ausgezahlt, unter Berücksichtigung von Anwesenheitszeiten, individueller Pro-duktivität und Arbeitsqualität. „Wer zwei linke Hände hat, aber engagiert bei der Sache ist“, beruhigt Hildegard Paven städt-Palsherm etwaige Kritiker, „wird nicht benachteiligt. Bestrafen wäre pädagogisch kontraproduktiv, aber mit unserem Vorgehen stellen wir Transpa-renz her über das Zustandekommen von Löhnen in Abhängigkeit von der eige-nen Leistung.“

Arbeitsorientierte Qualifizierung

Arbeit und Qualifizierung sind in allen Produktlinien „möglichst betriebsorien-tiert“. Professioneller Qualitätsanspruch und Terminvorgaben gewährleisten ho-hen Realitätsbezug und „Echtcharak-ter“. Vom Einkauf der Materialien über die Herstellung des Produkts bis hin zu Preiskalkulation und Vertrieb sind die Jugendlichen in den Arbeitsprozess in-volviert. Fachliche wie psycho-soziale Unterstützung finden sie jederzeit bei Anleiterinnen und Anleitern und Sozi-alpädagogen und -pädagoginnen. Eine räumliche Trennung beider Professionen ist Tabu: Sozialpädagogen und -pädago-ginnen sind in der Werkstatt präsent, Anleiter/-innen beschränken sich nicht

auf ihr Gewerk. „Fachliche Begleitung ist unverzichtbar“, so Rudolf Stüker, „rein sozialpädagogische Angebote funktionie-ren nicht. Die Jugendlichen wollen ge-fordert werden und suchen die fachliche Rückmeldung.“ Personal zu finden, das zum Produktionsschul-Konzept steht, ergänzt Einrichtungsleiter Rainer Pals-herm, sei jedoch nicht leicht.

Unmittelbar verknüpft mit Produktion und Dienstleistung erfolgt eine arbeits-orientierte Qualifizierung. Die Vermitt-lung von Kenntnissen zur Berechnung von Maßeinheiten oder über die Ei-genschaften verschiedener Materialien erfolgt „on the job“. So erwerben die Teilnehmenden für den Arbeitsmarkt relevante berufliche Grundfertigkeiten und Arbeitstugenden, erkennen im Pro-duktionsprozess Sinn und Notwendig-keit theoretischen Lernens.

Auch wenn kein schriftlich fixiertes Cur-riculum existiert – theoretischen Fach-kundeunterricht gibt es aktuell nur für die Kiosk-Arbeit im Bereich „Hygie-ne“ –, so hält die Produktionsschule doch konkrete Qualifizierungsangebote vor: Bewerbungstraining zum Beispiel, Grundlagen der EDV, allgemeine Grund-lagen in Deutsch und Mathematik, so-ziales Kompetenztraining oder Sprach-förderunterricht für Migrantinnen und Migranten. Eine Jugendliche aus dem Irak zum Beispiel, erzählt Pädagogin Hildegard Paven städt-Palsherm sprach Deutsch nahezu perfekt, ohne es jedoch lesen zu können. Eigens für sie hat die Produktionsschule Lesefördermaterial von der Grundschule angeschafft – mit Erfolg: „Schon nach zwei Monaten konn-te sie so lesen, dass ihr Praktikumsbe-

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JUGEND UND BERUF

trieb deutliche Verbesserungen feststel-len konnte – eine gute Leistung!“ Wer will, und das sind gegenwärtig rund 20 Prozent der Teilnehmenden, kann den Hauptschulabschluss nach dem Wei-terbildungsgesetz nachholen und erhält Förderunterricht. Die Abschlussquoten liegen bei durchschnittlich 80 Prozent.

Im Holzbereich können Teilnehmende Qualifizierungsbausteine erwerben. Denkbar wäre das auch in anderen Ge-werken, aber „das liegt meist nicht im Interesse der Jugendlichen“, sagen die Pädagogen, und wäre nach Ansicht von Rudolf Stüker auch nicht realistisch, da zu umfangreich: „Nach langen 200 Stunden einen Metall-Qualifizierungs-baustein in der Hand halten zu können, würde unsere Jugendlichen nicht motivie-ren. Wir vermitteln Fähigkeiten zur Her-stellung eines Produkts, nicht aber die Inhalte eines Ausbildungsprogramms.“

Praktika und Übergänge

Wichtiger sind Betriebspraktika. Sie dau-ern vier bis acht Wochen. In Absprache mit den Fallmanagerinnen und -mana-gern des Jobcenters können sich Jugend-liche im Einzelfall auch über ein längeres betriebliches Praktikum die Grundla-gen für eine Ausbildung aneignen. Die Akquise von Betrieben, die Vorberei-tung auf die mit dem Praktikum ver-bundenen Anforderungen und Chancen sowie die Begleitung während des Prak-tikums obliegen den Sozialpädagogen. Eine systematische Nachbereitung fin-det gemeinsam mit dem betrieblichen Ansprechpartner im Praktikumsunter-nehmen statt. Ziel ist, mindestens ein Drittel der Teilnehmer/-innen zu integrie-

ren: In duale oder vollzeitschulische Aus-bildungsverhältnisse, in sozialversiche-rungspflichtige Arbeitsverhältnisse oder in berufsvorbereitende Bildungsmaß-nahmen, zur Not auch in Mini-Jobs.

Ein weiteres Drittel soll zumindest In-tegrationsfortschritte verzeichnen. Dazu zählen etwa der Besuch psychosozi-aler Beratungsstellen oder die persön-liche Stabilisierung als nächste Schritte in Richtung Arbeitsmarktintegration. Einem Teil, auch das ist absehbar, wird keine Integration gelingen und auch deut-lich sichtbare Integrationsfortschritte sind nicht zu erwarten. Dr. Burkhard Poste, im BFZ Gütersloh für die Projekt-entwicklung zuständig: „Pädagogische Allmachtsfantasien sind fehl am Platz. Die Wahrheit ist: Manche Jugendliche haben noch kein Gespür für die Konse-quenzen ihres Handelns für das eigene Leben und brauchen einfach mehr Zeit. Damit sind sie auch nicht abgeschrieben, nur: Bei ihnen zieht das Angebot im Mo-ment noch nicht. Manche verschwin-den dann und tauchen zwei Jahre spä-ter als Azubis wieder auf.“ Evaluation sollte deshalb nach Meinung von Rudolf Stüker nicht allein das Kriterium „Ver-mittlungsquote“ ins Auge fassen, son-dern auch die Kompetenzzuwächse der Jugendlichen messen.

Neue Herausforderungen

Am neuen Übergangssystem von der Schule in den Beruf in Nordrhein-West-falen, in dem Produktionsschulen ein Baustein sind, loben die Pädagogen der Produktionsschule Gütersloh vor allem den präventiven, frühzeitigen Ansatz, weisen aber auch auf die Probleme hin,

die die starke Ausrichtung auf duale Be-rufsausbildung und Arbeitsmarktverwer-tung für die Gruppe der benachteiligten Jugendlichen mit sich bringen kann.

Produktionsschule halten sie – auf einen einfachen Nenner gebracht – vorrangig für ein niederschwelliges sozialpädago-gisches Instrument und nicht so sehr für einen Werkstattansatz bei dem schulmü-de Jugendliche Qualifizierungsbausteine absolvieren, einen Hauptschulabschluss nachholen und gleichzeitig produzieren. Dr. Burkhard Poste: „Wer in dänischen Produktionsschulen die Wertschätzung erlebt hat, die Mitarbeitende den Teil-nehmenden entgegenbringen, weiß, dass Produktionsschule auch eine pädago-gische Haltung ist.“

KONTAKTE

Hildegard Pavenstädt-Palsherm

Dr. Burkhard Poste

Rainer Palsherm

Rudolf Stüker

Berufsförderungszentrum Gütersloh

Kolping-Bildungszentren

Ostwestfalen gem. GmbH

Osningstr. 11 – 13

33332 Gütersloh

Tel.: 05241 947888

Internet: www.kolping-bfz-gt.de

AUTOR

Paul Pantel

Tel.: 02324 239466

E-Mail: [email protected]

G.I.B.INFO 4 1318

JUGEND UND BERUF

Seit 15 Jahren ist das Programm „Jugend in Arbeit“ Bestandteil der nordrhein-

westfälischen Arbeitsmarktpolitik – und damit die arbeitsmarktpolitische Ein-

zelmaßnahme mit der längsten Laufzeit. Über „Jugend in Arbeit“ erhalten Ju-

gendliche und junge Erwachsene, die noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet und

einen Unterstützungsbedarf bei der Arbeitssuche haben, Hilfestellungen bei der

Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Die enge Zusam-

menarbeit von Jobcentern und Agenturen für Arbeit, Beratungseinrichtungen und

Kammerverbänden ist Grundlage der Beratung und Begleitung der Teilnehmer

und Teilnehmerinnen im Programm. Trotz diverser Detailänderungen an der Pro-

grammkonzeption seit 1998 ist diese Grundstruktur beibehalten worden.

Wesentliche Änderungen erhielt das Programm im Jahre 2002 durch den Über-

gang von einer reinen Landesinitiative in die ESF-kofinanzierte Arbeitsmarktpo-

litik des Landes NRW. Dieser Umstellung verdankt Jugend in Arbeit den Zusatz

„plus“. 2006 fand für die praktische Umsetzung eine wesentlichere Weiterent-

wicklung statt: Durch die Hartz-Gesetzgebung übernahm die Arbeitsverwaltung

Aufgaben im Bereich der Integrationsplanung, die die bis dahin im Rahmen von

Jugend in Arbeit plus durchgeführte Entwicklungsplanung ersetzen sollte. An-

schließend wurden 2008 die bis dahin über Landes- und ESF-Mittel geförderten

Lohnkostenzuschüsse durch die Eingliederungszuschüsse des Bundes ersetzt.

Seit dem Start des Landesprogramms im Juli 1998 bis Juni 2013 wurden mehr als

76.000 junge Menschen in „Jugend in Arbeit“ beraten. Im selben Zeitraum verlie-

ßen rund 38.000 Jugendliche das Programm in Erwerbstätigkeit. Mit einer Inte-

grationsquote von 50 % ist „Jugend in Arbeit“ damit eines der erfolgreichsten

Förderangebote. Das Jubiläum von „Jugend in Arbeit“ war für uns der Anlass,

Menschen, die dieses Förderprogramm umsetzen, zusammenzubringen und mit

ihnen zurück- und vorauszuschauen.

15 Jahre „Jugend in Arbeit“ – eines der

erfolgreichsten Förderangebote in NRW

G.I.B.: Im Rahmen des Programms „Jugend in Arbeit plus“ (JA plus) – das liest und hört man sehr häufig im Zusammenhang mit die-sem nordrhein-westfälischen Förderansatz – treffen verschiedene Akteure mit unter-schiedlichen Kulturen aufeinander. Wie ha-ben Sie das im Rückblick auf das 15-jährige Bestehen des Programmes erlebt?

Thomas Heitzer, Netzwerk Lippe (IHK): Als ich 1998 die ersten Gespräche mit der Sozialberatung geführt habe, sind tatsäch-lich zwei unterschiedliche Kulturen aufein-andergeprallt. In Gesprächen mit Beratern hieß es dann: Der Teilnehmer ist an zwei Terminen erschienen. Ein toller Erfolg, aber mal sehen, was weiter daraus wird. Wenn man gewohnt ist, aus der Sicht von betrieblichen Abläufen her zu denken, wa-ren das schon sehr verschiedene Welten.

Eva-Maria Kuntzig, freie Beraterin: Es gibt noch heute einen großen Unterschied in den Blickwinkeln. Außerdem habe ich den Eindruck, dass sich in den zehn Jah-ren, in denen ich dabei bin, der soziale und pädagogische Betreuungsaspekt deutlich verstärkt hat. Ich denke, dass die Schwie-rigkeiten, jemanden aus einer prekären Lebenssituation auf den ersten Arbeits-markt zu bringen, größer geworden sind.

Michael Nölle, Kreishandwerkerschaft Düsseldorf: Obwohl von den Vorausset-zungen der Zielgruppe her etwas anderes zu erwarten gewesen wäre: Früher muss-ten die Jugendlichen 12 Monate und län-ger arbeitslos sein und heute reicht rein theoretisch ja schon der Status „von Ar-beitslosigkeit bedroht“, um zugewiesen zu werden. Eigentlich könnte man des-halb annehmen, dass die Jugendlichen heute leichter in den Arbeitsmarkt zu in-tegrieren wären. Dem ist aber nicht so.

19G.I.B.INFO 4 13

JUGEND UND BERUF

Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: Als ich 2009 eingestiegen bin, war man schon aneinander gewöhnt. Mit den Kam-merkoordinatoren funktionierte die Zu-sammenarbeit ganz gut. Die zuweisenden Stellen haben aber doch oft Vorschriften, deren Logik mir nicht so ganz begreiflich ist. Wenn ein Arbeitgeber zum Beispiel den Lebenslauf eines Jugendlichen durchsieht, der Elternzeit oder Zeiten von Arbeitsun-fähigkeit und drei Jahre nach der Schule eine Maßnahme beinhaltet, ist er für ihn seit drei Jahren arbeitslos, für die Agen-tur erst, seitdem er vor zwei Wochen die Maßnahme beendet hat. Ich merke aber in der letzten Zeit, dass die zuweisenden Stellen flexibler werden. Es gibt die Be-reitschaft, auch mal etwas ganz Neues zu versuchen. Ich finde das sehr positiv.

Stephan Lorenz, Regionalagentur Bonn/Rhein-Sieg: Ich bin erst 2008 in das Pro-gramm eingestiegen und das Hauptthema der Runden Tische war damals, für Neu-orientierung zu sorgen. Die Änderung der Förderkonditionen führte zu Irritationen bei den Beteiligten, was den „Neustart“ zunächst schwierig gestaltete. Hierbei war und ist für uns der Runde Tisch immens wichtig, da dieses Gremium die Möglich-keit gibt, dass man über die institutionellen Grenzen hinweg eine Vereinheitlichung des Programmablaufs gewährleisten kann.

G.I.B.: Wo wurde bei den Regionalagen-turen das Aufeinandertreffen der Kul-turen deutlich?

Ulrike Joschko, Regionalagentur Mül-heim-Essen-Oberhausen: Für uns ist es mittlerweile Routine geworden, die Leu-te zusammenzubringen, die zusammenge-hören, und ein Programm zu realisieren. In den zuweisenden Stellen haben aller-

dings häufig personelle Wechsel stattge-funden, sodass man mit jedem neuen Mit-arbeiter und jedem neuen Mitglied am Runden Tisch auch ein Stück weit wie-der von vorn anfangen musste.

Jürgen Kempken, G.I.B.: Ich glaube, es gab in den letzten 15 Jahren, wenn man hier von Kulturen spricht, zwei „Kulturre-volutionen“. Die erste direkt am Anfang, als die wirtschaftsnahen Kammern auf die zielgruppenorientierten Berater und Bera-terinnen gestoßen sind. Die zweite gab es, als die Agenturen und Jobcenter mit reinge-kommen sind. Heute gibt es ein klares „So-wohl-als-auch“. Es gibt Vertreter/-innen, die eine deutlich Abgrenzung zu der anderen Kultur sehen, aber auch einen großen Teil, die den engen Kontakt zu den anderen Kul-turen suchen und gut zusammenarbeiten. In der Regel funktioniert die Zusammenar-beit in den Regionen aber schon sehr gut.

Stephan Lorenz, Regionalagentur Bonn/Rhein-Sieg: Sicher gibt es unterschiedliche Kulturen und unterschiedliche Interessen-ausrichtungen. Was wir aber gemerkt ha-ben, ist, dass die Zusammenarbeit per-sonenabhängig ist. Wenn jemand hinter dem Programm steht, dann läuft es auch! Wir haben am Runden Tisch zudem eine im Vergleich relativ geringe Personal-Fluk-tuation, was ebenfalls ein Grund ist, wa-rum wir mit der Umsetzung ziemlich zu-frieden sein können. Das war bei uns aber nicht immer so. Wir hatten zeitweise so-gar eine externe Person eingeschaltet, um die Kommunikationswege zu „durchleuch-ten“ und um den Sand aus dem Getrie-be zu waschen. Dieser Prozess hat natür-lich die Voraussetzungen nicht verändert, sehr wohl aber das Miteinander, was wir auch tatsächlich an den Zuweisungszahlen merken konnten.

Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: Dass es mit den Personen steht und fällt, haben wir auch gemerkt. Wir haben im-mer darauf geachtet, wenn mal eine Be-raterin gewechselt hat oder einer anderen Stadt zugeteilt wurde, dass wir die Bera-terin persönlich vorgestellt haben. Wir suchen auch regelmäßig das Gespräch, zum Beispiel um Problemfälle zu bespre-chen. So etwas ist wichtig.

Dr. Georg Worthmann, G.I.B.: Die per-sönliche Ebene ist ganz wichtig, aber ge-rade bei den zuweisenden Stellen sind weitere Faktoren zu beachten, die deren Handeln bestimmt, z. B. sind sie an Bud-get-Zwänge gebunden.

G.I.B.: Gibt es heute also gar nicht mehr den „Kultur-Clash“ der sogenannten „Kammerkultur“ mit der „sozialpäda-gogisch orientierten Beraterkultur“, son-dern eher Gegensätze zwischen denjeni-gen, die JA plus für sich als Programm verinner licht haben und denen, denen man das Programm noch nahe bringen muss?

Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: Es gibt Wellenbewegungen. Manchmal müssen bestimmte Maßnahmen mit Ju-gendlichen besetzt werden und deshalb ge-hen dann die Zuweisungen zu „Jugend in Arbeit plus“ zeitweise zurück. Aber glück-licherweise ist ja mittlerweile eine paralle-le Zuweisung möglich. Personen, die von dem Programm überzeugt sind und sei-ne Pluspunkte verinnerlicht haben, wei-sen dann weiterhin zu.

Ulrike Joschko, Regionalagentur Mül-heim-Essen-Oberhausen: Ich finde, das ist ein Indiz dafür, dass wir es nicht ge-schafft haben, die Leute so zusammenzu-bringen, dass das Programm rund läuft.

Thomas Heitzer,

Netzwerk Lippe (IHK)

Eva-Maria Kuntzig,

freie Beraterin

G.I.B.INFO 4 1320

JUGEND UND BERUF

Es braucht nicht nur ein Zugpferd am Runden Tisch, sondern es müssen alle davon überzeugt sein, dass JA plus eine gute Sache ist und eine gute Ergänzung sein kann zu Angeboten, die die zuwei-senden Stellen zunächst im Blick haben.

G.I.B.: Was behindert das Programm da-rüber hinaus noch?

Michael Nölle, Kreishandwerkerschaft Düsseldorf: Manchmal sind es einfach In-formationsdefizite, wichtige Programm-punkte sind nicht verinnerlicht worden. Wir gehen dann dorthin und erklären, wer zugewiesen werden kann. Wir sind auch schon gebeten worden, gemeinsam mit Beratern zu JA plus Stellung zu neh-men. Danach weisen dann selbst Options-kommunen zu, die kein Geld für Lohn-kostenzuschüsse haben.

Eva-Maria Kuntzig, freie Beraterin: Ich merke verstärkt die Personalproblema-tik der zuweisenden Stellen. Denn dort dreht sich nach meiner Erfahrung das Personalkarussell teilweise sehr schnell. Ich habe in meiner Zeit schon so viele Ansprechpartner/-innen gehabt, denen ich das Programm immer wieder neu er-kläre, dass ich mich schon ein wenig in einem Hamsterrad laufen sehe.

Jürgen Kempken, G.I.B.: Man muss ge-stehen, dass es Fluktuation auch bei Bera-terinnen und Beratern, bei Kammern und bei Regionalagenturen gibt. Die Teilnah-me an dem Programm ist dort kontinu-ierlicher, aber jeder Personalwechsel reißt schon ein gewaltiges Loch.

G.I.B.: Gibt es auch Beispiele, wo die Kooperation mit den zuweisenden Stel-len richtig gut läuft? Und wenn ja: Sind

dort institutionelle oder andere Formen der Zusammenarbeit gefunden worden. Was ist das Erfolgsgeheimnis?

Stephan Lorenz, Regionalagentur Bonn/Rhein-Sieg: Im Grunde ist es schon ge-sagt worden: Es liegt an den Personen. Die müssen sich natürlich auch an ihre Vorgaben halten. Aber wenn ich mir un-seren Kreis am Runden Tisch angucke, dann passt das.

G.I.B.: Liegt es wirklich nur an Personen? Wer in den 1970er Jahren studiert hat, hat gelernt dass es eigentlich immer eher an Strukturen liegt.

Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: Eine Stärke in der Struktur des Programms ist die Flexibilität. Wenn das Jobcenter A sagt, wir brauchen es so, die Arbeitsagen-tur B will es so und eine andere Stelle hat noch einen anderen Wunsch, dann können wir sagen: Ja, machen wir. Es gibt für uns keine starren Regeln, die uns behindern. In Einzelfällen spielen die Bezirksregie-rungen oft mit, weil sie einsehen, dass JA plus für bestimmte Jugendliche sinnvoll ist. Und wenn sie in dieser Form handlungsfä-hig bleiben, stärkt das die „Kümmerer“.

Thomas Heitzer, Netzwerk Lippe (IHK): Wir haben es in Lippe geschafft, die Agen-tur für Arbeit als Zuweiser mit ins Boot zu bekommen. Auch da liegt es an einer Person, die JA plus für eine gute Sache hält. Derjenige hat dann Info-Veranstal-tungen mit uns organisiert, und auf ein-mal fängt es an zu laufen.

Dr. Georg Worthmann, G.I.B.: Ein gro-ßer Anteil an Teilnehmenden geht in Ar-beit. Wenn man sagt, dass das etwas mit den Einzelpersonen zu tun hat, ist das si-

cher richtig, aber der Anteil ist im Vergleich zu anderen Maßnahmen höher. Man kann aber wohl nicht sagen, dass in diesen Maß-nahmen nicht so engagierte Personen tä-tig sind. Es sind also die engagierten Per-sonen, aber – damit sind wir wieder bei den Strukturen – auch das Zusammen-wirken vielleicht genau dieser Akteure und die Art und Weise, wie sie miteinan-der arbeiten, muss noch eine entscheidende Rolle spielen.

Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: Es sind auch die verschiedenen Ansichten, Möglichkeiten, auch Wissensstände. Die Kammer hat einen anderen Blick auf ei-nen Teilnehmer/eine Teilnehmerin, eine Arbeitssituation oder einen Arbeitgeber als der Berater/die Beraterin, auch als die zuweisenden Stellen. Es ist also nicht nur der eine, der nach dem immer gleichen Schema F agiert, sondern es gibt immer noch eine alternative Idee.

Jürgen Kempken, G.I.B.: Aber auch das ist eine Besonderheit: Es funktioniert in den einzelnen Region sehr unterschied-lich. Hier sitzen sechs Regionen am Tisch, aber es ist keine wie die andere. Ohne die regionalisierte Umsetzung würde es das Programm nicht mehr geben.

G.I.B.: Hat sich die Zielgruppe im Zeit-raum, den Sie überblicken können, ver-ändert?

Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: Formal auf dem Papier nicht, bis auf die neuen Zuweisungskriterien. Ich habe im-mer noch alle Jugendlichen unter 25, auch die „schwer vermittelbaren“. Es ist nicht im-mer der Schulabschluss, der eine Arbeitsauf-nahme verhindert. Da kommen ganz ande-re Sachen ins Spiel. Die Jugendlichen sind

Michael Nölle,

Kreishandwerkerschaft Düsseldorf

Britta Albertz,

Verein „Jugend in Arbeit“

21G.I.B.INFO 4 13

JUGEND UND BERUF

unselbstständiger und auch demotivierter als noch 2009. Was ich im Jahr 2009 von Jugendlichen noch erwarten konnte – In-formationen selbst beschaffen, Gänge selbst erledigen – wird immer schwieriger.

Eva-Maria Kuntzig, freie Beraterin: Ich glaube, die Problematiken selber haben sich gar nicht so sehr verändert. Wir hat-ten immer schon junge Menschen, mit Drogenproblematik, mit Schuldenpro-blematik, mit anderen Belastungen, mit gesundheitlichen Einschränkungen. Ich habe trotzdem das Gefühl, dass sich vor allem etwas im Bereich gesundheitlicher Einschränkungen verschärft und dass sich das „Schnell-demotiviert-sein“ und das „Sichaufgeben“ durchsetzt.

Ulrike Joschko, Regionalagentur Mül-heim-Essen-Oberhausen: Das ist auch ein Thema, das im Ausbildungskonsens diskutiert wird: das diffuse Gefühl, dass die Jugendlichen immer schwieriger wer-den, dass Mehrfachbelastungen und Han-dicaps zunehmen, die es schwieriger ma-chen, den richtigen Ansatz zu finden. Das ist nicht programmspezifisch, sondern eher eine allgemeine Tendenz.

Thomas Heitzer, Netzwerk Lippe (IHK): Die Zielgruppe ist vielseitiger geworden. Wir haben arbeitsmarktferne Jugendliche, ebenso wie Hochschulabsolventen. Aber ob mit oder ohne Ausbildung: die Frus-trationstoleranz ist niedriger.

G.I.B.: Hat sich der Beratungs- und Ak-tivierungsprozess aufgrund der sich än-dernden Zielgruppe verändert? 2001 schrieb Ute Mankel von der G.I.B. im G.I.B.-Info über die Probleme, die noch zu lösen sind, unter anderem: „Der Beratungs- und Entwicklungsprozess ist zu lang.“

Jürgen Kempken, G.I.B.: Damals war aber die Zeit noch nicht auf neun Monate be-grenzt wie jetzt. Die Begleitzeit wurde he-runtergefahren. Klar, manche brauchen zwei Jahre, aber die meisten gingen vor-her schon raus.

Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: Wenn ich manche Lebensläufe zur Hand nehme und durchgehe, sehe ich: nach der Schule ein paar Maßnahmen, vielleicht ein paar Nebentätigkeiten, in der Regel über einen Zeitraum von drei oder vier Jahren. Das kann verschiedene Gründe haben, muss nicht immer am Teilnehmer selbst liegen. Aber es ist klar, dass ich den nicht an zwei Tagen fit für den Arbeits-markt mache. Dabei ist nicht einmal der Abschluss oder die Ausbildung entschei-dend. Bei solchen langen Phasen der Ori-entierungslosigkeit dauert es immer län-ger, diese Demotivation auszubügeln und die Jugendlichen auf ein Niveau zu brin-gen, auf dem man wieder über Arbeits-aufnahmen nachdenken kann.

Ulrike Joschko, Regionalagentur Mül-heim-Essen-Oberhausen: Ich frage mich, ob die Begrenzung des Beratungsprozesses 2006 die richtige Konsequenz war.

Jürgen Kempken, G.I.B.: Das ist zustande gekommen, weil man auf Grundlage der Zahlen festgestellt hat, dass die meisten Jugendlichen nach neun Monaten vermit-telt waren. Es war eine ganz geringe Zahl, die über die längere Distanz gegangen ist. JA plus ist gut für eine bestimmte Grup-pe von Jugendlichen. Wenn sie noch in-tensiverer Betreuung bedürfen, kann das JA plus nicht mehr regeln.

Michael Nölle, Kreishandwerkerschaft Düsseldorf: Es hängt auch damit zusam-

men, wann derjenige, der vermitteln soll, den Jugendlichen kennenlernt. Wenn er ihn erst nach acht Monaten dieser Laufzeit kennenlernt, wird die Zeit arg knapp …

Britta Albertz, Verein „Jugend in Ar-beit“: … oder wenn der Jugendliche von den neun Monaten der Beratungszeit nur die Hälfte erscheint. Das ist alles verlo-rene Zeit. Neun Monate sind so schnell vorbei und man kann so jemanden nicht mit ruhigem Gewissen empfehlen.

Eva-Maria Kuntzig, freie Beraterin: Man darf auch den wirtschaftlichen Aspekt nicht außer Acht lassen. Wenn ein Träger, über zwei, drei Jahre Teilnehmer/-innen begleitet, immer wieder berät, einlädt und eine Struktur für sie zur Verfügung stellt, die vielleicht letztendlich nie zu einem Er-folg in Form von Vermittlung in ein Ar-beitsverhältnis führt, muss man auch die Frage nach der Finanzierung stellen. Das hat verstärkt in der letzten Zeit auch die Träger belastet.

G.I.B.: Wo gab es Brüche im Lauf der Entwicklung von „Jugend in Arbeit“?

Eva-Maria Kuntzig, freie Beraterin: Ich glaube, der massivste Bruch im Programm, der noch heute einen gewissen „Kater“ hervorruft, ist der Wegfall der Fördermög-lichkeiten des Lohnkostenzuschusses. Wir bieten jetzt einem Arbeitgeber einen Ju-gendlichen unter anderen Bedingungen an als das vor zehn, 15 Jahren möglich war. Heute stehen wir in einem anderen Wett-bewerb, weil es diese finanziellen Unter-stützungen so nicht mehr gibt.

Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: Vielleicht ist es kein Bruch – ich bin erst seit 2009 dabei –, aber das Programm lei-

Stephan Lorenz,

Regionalagentur Bonn/Rhein-Sieg

Ulrike Joschko,

Regionalagentur Mülheim-Essen-Oberhausen

G.I.B.INFO 4 1322

JUGEND UND BERUF

det auch an einem anderen finanziellen Mangel. Wenn jemand, der im Lager ar-beitet einen Staplerschein braucht, eine Verkäuferin ohne Kassenkenntnisse ein Kassentraining oder ein Gärtner einen Führerschein, so ist ein solcher Qualifi-zierungszuschuss nicht möglich.

Thomas Heitzer, Netzwerk Lippe (IHK): Das kann ich nur bestätigen. Das fehlt mir auch. 2008 gab es in NRW die Idee „in der Arbeit für die Arbeit qualifizieren“. Es ging darum, dem Arbeitgeber eine exter-ne Qualifikation für den Jugendlichen an-zubieten. Nicht sofort in den ersten zwei, drei Monaten, sondern erst dann wenn klar war, was er braucht, um damit das Arbeitsverhältnis zu stabilisieren. Jetzt sind wir immer etwas auf Goodwill an-gewiesen. Für mich sind die Regeln, nach denen die Mittel vergeben werden, sehr kryptisch. Dass es keine Lohnsubventi-onen mehr gibt, damit kann ich noch le-ben, finanzielle Unterstützung von Qua-lifizierungen wäre aber äußerst sinnvoll.

G.I.B.: Welche wichtigen Ergebnisse hat die Evaluation zu JA plus erbracht?

Dr. Georg Worthmann, G.I.B.: Wir ha-ben auf drei Ebenen untersucht: Teilneh-merebene, Beratungsebene und regionale Ebene. Auf der Teilnehmerebene haben wir die alte Datenbank ausgewertet, in der auch die Vermittlungshemmnisse miterfasst waren. Wir haben festgestellt, dass fast alle personenbezogenen Teilneh-mermerkmale statistisch signifikant für den Teilnahmeerfolg sind, im Sinne ei-ner Erwerbstätigkeit im Anschluss. Aber es gibt darüber hinaus noch viele andere Faktoren, die ebenfalls wichtig sind. Ich möchte einige wichtige nennen: Auf der Beraterebene ist die Intensität, mit der

man an JA plus arbeitet, entscheidend. Je mehr Stunden eine Beratungsfachkraft an JA plus insgesamt arbeitet, desto höher ist die Integrationswahrscheinlichkeit, je weniger Arbeitszeit insgesamt zur Verfü-gung steht desto ungünstiger für eine Er-werbsintegration. Ein weiteres Merkmal ist die Nähe der Beraterinnen und Bera-ter zum Arbeitsmarkt. Haben sie selber Kenntnis über offene Stellen? Jugendliche, die von entsprechenden Beratenden bera-ten werden, haben eine größere Chance, aus JA plus in Erwerbstätigkeit zu gehen.

Auf der regionalen Ebene, also auf Kreis- und Stadtebene, ist es zum einen ganz stark die Kooperation zwischen Bera-tenden und Kammern, die die Integrati-onswahrscheinlichkeit der Jugendlichen erhöht. Auch die Kooperation mit den zu-weisenden Stellen spielt eine Rolle und da kommen auch die Regionalagenturen und die Runden Tische ins Spiel. Hier findet ein wichtiger Teil der Kooperation statt. Bezogen auf die Kammerfachkräfte ist festzustellen: Je breiter die regionale Zu-ständigkeit angelegt ist, in diesem Fall ge-messen an der Zahl der Kreise, die eine Kammerfachkraft zu betreuen hat, des-to ungünstiger ist dies für die Integrati-onschancen der Teilnehmenden.

Britta Albertz, Verein „Jugend in Ar-beit“: Ich habe mir für 2012 noch ein-mal unsere Verwendungszwecke angese-hen und die Aussage gefunden, dass sich die Erprobung in Form von Praktika aus unserer Sicht als wichtigstes Hilfsinstru-ment zur Vermittlung der Teilnehmer/-in-nen erwiesen hat. Arbeitgeber sind sehr zögerlich, den großen Aufwand der Ar-beitsvertragserstellung auf sich zu neh-men, bevor sie nicht wissen, ob der Ju-gendliche auch am zweiten Tag wieder

zur Arbeit erscheint. Schon kurze Prak-tika von drei, vier Tagen, um festzustel-len, ob der Jugendliche zumindest pünkt-lich und zuverlässig ist und sich mit den Kollegen versteht, heben die Bereitschaft denjenigen einzustellen enorm.

Michael Nölle, Kreishandwerkerschaft Düsseldorf: Wir haben jetzt aktuell eine Region, die schreibt vor: vierwöchiges Praktikum.

Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: Das ist sehr lang. Und es demotiviert na-türlich, wenn danach nichts passiert. Mir ist Flexibilität lieber: Praktikum für drei Tage oder eine Woche, in Einzelfällen ma-chen auch mal zwei Wochen Sinn; dazu dann die entsprechende Flexibilität und schnelle Kommunikation mit den zuwei-senden Stellen.

G.I.B.: Welche Wünsche haben Sie in Be-zug auf eine Weiterentwicklung des Pro-gramms?

Ulrike Joschko, Regionalagentur Mül-heim-Essen-Oberhausen: Ich bin für per-sönliches Engagement – gar keine Frage. Ich finde es super, was die Berater/-innen mit den Jugendlichen anstellen. Aber wir erfahren über dieses individuelle Engage-ment nicht, ob die Maßnahme selbst der Erfolgsfaktor ist oder ob wir nicht etwas ganz anderes machen könnten und damit genauso erfolgreich wären. Mein Wunsch wäre, da mehr Klarheit zu bekommen, weil ich natürlich gern Erfolg auch syste-matisch entwickeln möchte.

Stephan Lorenz, Regionalagentur Bonn/Rhein-Sieg: Das finde ich auch. Gleich-wohl fände ich es ein gutes Signal, wenn unsere Akteure erfahren würden, dass es

Dr. Georg Worthmann,

G.I.B.

Jürgen Kempken,

G.I.B.

23G.I.B.INFO 4 13

JUGEND UND BERUF

weitergeht. Wir haben im Moment eine ziemliche Verunsicherung im Zuge des neuen Übergangssystems. Man fragt: Passt JA plus da noch rein? Wir hätten gern ein klares Signal.

Eva-Maria Kuntzig, freie Beraterin: Ich habe bei einer Präsentation schon einmal gehört: JA plus ist der Dinosaurier der Programme. – Es gibt aber einen wesent-lichen Unterschied: Wir sind noch lange nicht ausgestorben. Und ich hoffe, dass ich das auch nach den nächsten 15 Jah-ren sagen kann – auch wenn wir uns an-passen, uns wandeln, uns auf neue Wege begeben. Ich würde mir wünschen, dass wir das, was wir als erfolgreichen Weg entwickelt haben, fortführen können, mit Menschen, die auch dahinterstehen, dass weiterhin viel Engagement und Herzblut einfließen, was natürlich bitte gewürdigt werden soll – finanziell und emotional, so-dass wir Wertschätzung spüren.

Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“: Ich wünsche mir weiterhin die Flexibili-tät, die für mich eine der Hauptstärken des Programms ist – gerne noch weiter ausgebaut in Richtung der zuweisenden Stellen. Anlässlich der 15 Jahre wünsche ich mir wieder ein bisschen mehr und re-gelmäßigere Öffentlichkeitsarbeit. Meiner Meinung nach wissen viel zu wenige Men-schen von dem erfolgreichen Programm und der guten Arbeit, die wir machen. Das merke ich immer wieder, wenn ich neu-en Mitarbeitenden bei den zuweisenden Stellen erklären muss, was JA plus ist.

Thomas Heitzer, Netzwerk Lippe (IHK): Auch ich würde es gut finden, wenn wir in irgendeiner Form wieder einen Qualifizie-rungszuschuss hätten. Ich halte es für gut, die Leute in der Arbeit für die Arbeit zu

qualifizieren. Außerdem wünsche ich mir, dass man sich wie 1998/99 wieder auf ein klares Ziel mit einer ganz klar beschrie-benen Zielgruppe fokussiert. Ich weiß aus meiner Profession heraus, dass man die Zu-spitzung braucht. Wenn ich genau weiß, wo ich hingehe und wen ich ansprechen soll, dann weiß ich auch, welche Mittel ich zu nehmen habe. Vielleicht sollten wir also wie damals die in den Fokus nehmen, die mehr als ein Jahr arbeitslos sind.

Michael Nölle, Kreishandwerkerschaft Düs-seldorf: Ich würde mir wünschen, dass wir den Lohnkostenzuschuss wieder direkt aus-zahlen können, weil das eine andere Kom-munikation auch mit den Unternehmen zur Folge hat. Von den Zuweisenden wür-de ich mir wünschen, dass man die Spreu vom Weizen ein bisschen trennt. Ich möch-te nicht mehr die haben, die nicht arbeiten wollen, aus welchen Gründen auch immer. Sich mit denen zu beschäftigen, führt zu kei-nem Erfolg. Ich möchte die haben, die eine Tätigkeit aus sich heraus wollen.

Jürgen Kempken, G.I.B.: Was Wünsche angeht: Mit der Hartz-Gesetzgebung 2005 wurde die Aufgabe, die Jugendlichen vor-zubereiten inklusive der Entwicklungs-planung, der Arbeitsverwaltung zuge-schrieben. Davor war das die Aufgabe der Berater/-innen von JA plus. Tatsäch-lich findet aber auch weiterhin eine wei-tere Entwicklung der Jugendlichen zur Beschäftigungsaufnahme statt. Die Ho-norierung ist aber nicht angepasst wor-den. Ich würde mir wünschen, dass sich das endlich verändert.

Dr. Georg Worthmann, G.I.B.: Das Mo-nitoring ist nicht zuletzt für die fachliche Begleitung von JA plus eine wichtige Ba-sis. Es gibt in der Datenbank leider sehr viele Teilnehmer, zu denen die Angaben unvollständig sind. Um zukünftig solche Fragen beantworten zu können, wie viele der Jugendlichen, die in Arbeit gegangen sind, ein Praktikum absolviert haben, wünsche ich mir also eine bessere Pflege der Datenbank.

TEILNEHMER/TEILNEHMERINNEN DES ROUND-TABLE-GESPRÄCHS

Britta Albertz, Verein „Jugend in Arbeit“, Tel.: 02361 49043212

Thomas Heitzer, Netzwerk Lippe (IHK), Tel.: 05231 640371

Ulrike Joschko, Regionalagentur Mülheim-Essen-Oberhausen, Tel.: 0201 1892138

Jürgen Kempken, G.I.B., Tel.: 02041 767154

Eva-Maria Kuntzig, freie Beraterin, Tel.: 02302 878998

Stephan Lorenz, Regionalagentur Bonn/Rhein-Sieg, Tel.: 0228 773919

Michael Nölle, Kreishandwerkerschaft Düsseldorf, Tel.: 0211 36707-61

Dr. Georg Worthmann, G.I.B., Tel.: 02041 767246

MODERATION

Manfred Keuler

Tel.: 02041 767-152

E-Mail: [email protected]

G.I.B.INFO 4 1324

SGB II

In letzter Zeit bieten Jobcenter neben der klassischen Einzelberatung nach Ter-

minvergabe verstärkt selber Maßnahmen für Arbeitslose an, für die sie zuvor

Bildungsträger und Wohlfahrtsverbände beauftragt haben. Sie stellen sich also

öfter der Frage „Make or Buy“: selber machen oder einkaufen? Kann man tat-

sächlich von einen Trend in Richtung Selbermachen sprechen?

Selber machen oder einkaufen? Immer mehr Jobcenter organisieren ihre Eingliederungsmaßnahmen selbst

Auf den ersten Blick scheint das zu stim-men. Die G.I.B. hat wiederholt über Work-First-Ansätze von Jobcentern in verschiedenen Städten in NRW berich-tet, bei denen die eigenen Mitarbeiter/-innen vor allem Neukunden dabei unter-stützen, möglichst kurzfristig nach dem Verlust des Arbeitsplatzes selbst oder in der Gruppe aktiv nach einem Job zu su-chen. Und auch in der Wissenschaft ist das Thema angekommen. Es sei „neu-erdings verstärkt eine Tendenz in Rich-tung Eigenerstellung von Maßnahmen statt Drittvergabe zu beobachten“, ist

in einer im April von Sarah Theres Wei-kamp vorgelegten Masterarbeit zu lesen, die sich mit dem Thema von „Make-or-Buy-Entscheidungen“ bei Eingliederungs-maßnahmen in Jobcentern beschäftigt. Sie ist selbst Mitarbeiterin im Jobcenter des Kreises Borken und schreibt, dass der Ansatz, Eingliederungsmaßnahmen durch das Jobcenter selbst durchzufüh-ren, im Amtsdeutsch „Selbstvornahme“ genannt, immer häufiger in und unter den Jobcentern diskutiert werde und dass sie sich verstärkt der Entscheidung „Make-or-Buy“ (MoB) stellten.

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Dieser Begriff wurde bisher vor allem im produzierenden Gewerbe verwendet. Hier ist es seit Langem üblich, systematisch zu prüfen, ob es wirtschaftlicher und auch strategisch sinnvoller ist, bestimmte Kom-ponenten eines Produkts selbst zu pro-duzieren oder sie von anderen Anbietern einzukaufen. Eine solche systematische Einordnung und Prüfung der „MoB-Fra-ge“ sei seitens der Jobcenter im Bereich der Eingliederungsmaßnahmen bislang aber kaum erfolgt, stellt die Autorin der Masterarbeit fest.

Marktnahe Neukunden bevorzugt

Wie entscheiden sich die Jobcenter nun aber in der Praxis? Machen sie wirklich mehr selber als in der Vergangenheit? Und wenn ja, was und warum?

Besonders um den „marktnahen Neukun-den“ wolle man sich in der Tat verstärkt selbst kümmern. Das sagt Dr. Andre-as Kletzander, Vorstand des Jobcenters Wuppertal, und nennt auch Gründe da-für: „Alle acht Wochen einen Termin mit dem Kunden zu vereinbaren mit dem Auftrag, in der Zwischenzeit fünf Bewer-bungen zu schreiben, reicht nicht. Wenn man ca. zehn Jahre lang mit viel Enga-gement verschiedene Ansätze ausprobiert hat und feststellt, dass man nicht so rich-tig weiterkommt, dann muss man diese Ansätze mal überdenken.“

In Wuppertal hat man das getan und ist zu dem Schluss gekommen, dass nicht alles Althergebrachte über Bord gewor-fen, sondern Alternativen zu den Ein-zelberatungen nach Terminvergabe an-geboten werden sollen. Diese klassische Arbeitsvermittlung sei „sinnvoll und not-wendig“, aber es gebe eine Lücke, wenn

es um bestimmte Zielgruppen gehe, die mehr „Nähe“ benötigten. „Dafür brau-chen wir ein anderes Verwaltungshan-deln“, sagt Dr. Andreas Kletzander, vor allem für Neukunden, teilweise aber auch für Jugendliche in besonderen Lebens-lagen, „damit sie nicht verloren gehen.“ „Wir sind nicht die Experten für sozial-psychologische Unterstützung oder fach-liche Qualifizierung – wohl aber, wenn es darum geht, die Kompetenzen von Men-schen zu erarbeiten und Kontakt zu Ar-beitgebern herzustellen, Gruppenarbeit und Coaching anzubieten“, stellt der Job-center-Vorstand fest.

Anregungen für neue Wege in der Arbeits-vermittlung hat man sich in den Nieder-landen geholt, von wo aus der Work-First-Ansatz nach Deutschland kam. Auch in Wuppertal gibt es mittlerweile zwei stadt-teilbezogene Projekte, die mit Elementen des Work-First-Prinzips arbeiten. Zum einen das Projekt „arriba“, bei dem vor allem Jugendliche in einem Mix aus Ein-zelberatung, Coaching, Gruppen- und Pro-jektarbeit bei der Suche nach einem Aus-bildungsplatz oder einem Job unterstützt werden. Hier sind neben Mitarbeitenden des Jobcenters auch Bildungsträger ak-tiv. Es handelt sich also um eine Misch-form zwischen Selbstvornahme und Ver-gabe. „Ein sehr flexibler Ansatz, den wir bewusst als Abwandlung dessen gewählt haben, was wir in Oberbarmen anbieten“, sagt Dr. Andreas Kletzander. Dieses Coa-ching-Center in Oberbarmen arbeitet aus-schließlich in Eigenregie des Jobcenters.

39 der bisher 65 Teilnehmer konnten in Arbeit vermittelt werden – „eine sehr gute Quote“, so der Jobcenter-Vorstand. Wichtig für eine erfolgreiche Eingliede-rung sei immer die Nähe zu den Arbeit-

gebern. Entweder würden Unternehmen zu den Maßnahmen eingeladen oder mit den Gruppen besucht.

Das Aktivierungsteam in Wuppertal kon-zentriert sich derzeit auf marktnahe Neu-kunden, eine Ausdehnung auf andere Kun-dengruppen wie Alleinerziehende oder die Zielgruppe 50+ ist aber geplant. Dabei soll nicht nur der Work-First-Ansatz zum Zuge kommen. Dr. Andreas Kletzander sieht die Eigenprojekte nicht ausschließ-lich als ein Instrument für „leichte Fälle“: „Ich denke, dass gerade bei arbeitsmarkt-fernen Menschen die enge Anbindung an das Jobcenter eine Chance sein kann.“ Er-fahrungen mit dieser Zielgruppe gibt es freilich noch nicht. „Man muss es aus-probieren, darf auch mal danebenliegen – dafür ist es Modellprojekt.“

Das Ding muss wirksam sein

Die Entscheidung, Maßnahmen selber durchzuführen, wird in Wuppertal ein-mal auf der Grundlage der bei den eige-nen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vorhandenen Kompetenzen getroffen und natürlich auch auf der Basis der Fi-nanzierbarkeit. Weiterhin muss der Kon-sens in der Region und in der Politik für derartige Projekte vorhanden sein. Aber auch die Integrationsquoten müssen stim-men. „Das Ding muss wirksam sein“, so die knappe Formel von Dr. Andreas Klet-zander. Natürlich steht bei eigenen Maß-nahmen aber auch die Wirtschaftlichkeit auf dem Prüfstand. Zu dem neuen Kon-zept gehören zum Beispiel neue Räumlich-keiten und flexible, einladende Raumkon-zepte. Die müssen auch ausgelastet sein.

Jürgen Kockmann vom Steinfurter Jobcen-ter ist sich nicht sicher, ob man wirklich

Foto: Das Jobcenter Köln ist mit „befit4job“, einem am „Work- First-Ansatz“ orientierten

Programm für arbeitslose Jugendliche zwischen 18 und 24 Jahren, äußerst erfolgreich. In eigener

Regie und mit eigenem Personal erzielt das Jobcenter Vermittlungsquoten von bis zu 88 Prozent.

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SGB II

von einem Trend zu mehr Eigenmaßnah-men sprechen kann. Zwar habe die Bun-desagentur für Arbeit sich dieses Themas angenommen und der Kreis Steinfurt führt als ein „zugelassener kommunaler Träger“, der die SGB II-Trägerschaft in Eigenverant-wortung wahrnimmt, durch das Jobcen-ter ebenfalls seit Ende 2011 Work-First-Maßnahmen in Eigenregie durch, „aber das haben wir seit Mitte der 1990er Jah-re im Rahmen von BSHG auch schon ge-macht – wir haben das damals Job-Club genannt“, berichtet Jürgen Kockmann.

Als der Kreis Steinfurt dann 2005 zur Op-tionskommune wurde, habe man dieses Modell mit einer neu gegründeten Kreis-gGmbH fortgesetzt. „Damals wie heute ha-ben wir mit dem Modell gute Erfolge er-zielt. Damit, die Selbstvornahme über den Work-First-Ansatz hinaus auch auf ande-re Bereiche zu übertragen, wäre ich aber im Augenblick etwas zurückhaltend.“ Be-sonders wenn es darum geht, Maßnahmen für konkrete Zielgruppen durchzuführen, zum Beispiel längerfris tig für „schwierige“ Personen, kann sich Jürgen Kockmann eine Eigenregie kaum vorstellen. Und auch im Bereich Ü 50 und U 25 werde man weiter-hin Maßnahmen ausschreiben.

Er glaubt nicht, dass das Jobcenter Antrag-steller/-innen unbedingt besser aktivieren kann als ein Träger; der Vorteil liege aber in den strafferen Abläufen. Auch verstün-den namentlich die Neuantragsteller/-in-nen den Umweg über einen Träger nicht: „Dann gibt es die Zuweisungsphase, die Aufnahmephase, die Kennenlernphase – der Leistungsberechtigte fragt sich: Was soll ich jetzt hier, eigentlich bin ich beim Jobcenter und die sollen mich doch in Ar-beit vermitteln“, beschreibt Jürgen Kock-

mann die Gedanken seiner Leistungsbe-rechtigten. Die direkte Aktivierung von Antragstellenden falle also deutlich leich-ter, wenn man sie selber in der Hand habe und nicht mit einem Maßnahmenträger arbeiten müsse.

Nun ist der Neuantragsteller im Kreis Steinfurt nach sieben Tagen beim Arbeits-vermittler, nach spätestens weiteren sie-ben Tagen in der „Jobakademie“, so wird die Work-First-Maßnahme des Jobcenters genannt. Acht Wochen wird dort inten-siv mit ihm daran gearbeitet, einen neuen Job zu finden. „Wenn es gut läuft, ist er innerhalb dieser Zeit schon auf dem Ar-beitsmarkt, wenn nicht, stellt sich natür-lich die Frage, was weiter passiert. Und dann kann es gut sein, dass in der Fol-ge eine Maßnahme bei einem Träger an-steht“, schildert Jürgen Kockmann das Verfahren. Stabilisierung, Qualifizierung, Schulung von Grundtugenden, Herstellen der Arbeitsfähigkeit – das seien Themen, die sicher auch in Zukunft bei Maßnah-menträgern angesiedelt blieben.

Um Maßnahmen selbst umzusetzen, müs-sen die Jobcenter personelle und sachliche Ressourcen bereitstellen und auch orga-nisatorische Änderungen vornehmen. So musste das Steinfurter Jobcenter zusätz-liches Personal rekrutieren und zusätz-lichen Räume schaffen. 24 Städte und Ge-meinden gehören zum Kreis. Bisher wurden für das Eigenprojekt am Standort Rheine sieben Stellen neu eingerichtet, am Stand-ort Ibbenbüren fünf. Am Standort Stein-furt ist eine weitere Jobakademie geplant. Zum Teil haben die neuen Mitarbeiter/-in-nen zuvor bei Bildungsträgern gearbeitet. Die Kosten der Eigenmaßnahmen gegen-über der Vergabe an Dritte sind nach Aus-

kunft des Steinfurter Jobcenter-Leiters un-gefähr gleich. Das sei in Steinfurt auch ein Entscheidungskriterium für die Selbstvor-nahme gewesen: Sie durfte nicht teurer sein als die Vergabe der gleichen Maßnahme.

Früh nachgesteuert

Das wurde nach einem Jahr kontrolliert. Dass das Ergebnis positiv war, lag auch daran, dass man beim Steinfurter Work-First-Projekt früh nachgesteuert hat. „Wir hatten anfangs zu wenige Teilnehmede“, sagt Jürgen Kockmann, „und haben dann die Zahl der Plätze erhöht und Teilneh-mende, bei denen in den ersten Wochen persönliche Probleme offenkundig wur-den, aus der Maßnahme rausgenommen und durch neue Teilnehmende ersetzt.“

Außerdem wurden nach anfänglichen Ver-suchen mit „Bestandsfällen“ nach drei bis vier Monaten nur noch Neuantragsteller/-innen in die Maßnahme aufgenommen. Eine Altersgrenze gebe es dabei nicht. Das alles seien Korrekturen, die bei einer Ver-gabe an einen Träger nicht so leicht hätten durchgeführt werden können. „Die Trä-ger haben dann ein Recht darauf, dass ein Projekt so durchgezogen wird, wie sie es angeboten haben. Da ist man, wenn man es selber macht, natürlich wesentlich fle-xibler“, stellt Jürgen Kockmann fest.

Die direkte räumliche Anbindung an das Jobcenter sieht er als einen weiteren Vor-teil: „Für uns ist wichtig, dass wir die Ei-genmaßnahme in den Räumen des Jobcen-ters durchführen, damit da keine weiteren Brüche entstehen. Der Vermittler sitzt auf dem einen Flur, die Jobakademie liegt auf dem nächsten. Auch das Bewerbungscen-ter ist dort untergebracht. Die kurzen

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SGB II

Wege sind entscheidend, nicht nur für die Teilnehmeden, auch für unsere Fach-leute, die sich so kurzschließen können.“

Schneller, besser, günstiger?

Es kann für eine „Make-Entscheidung“ also durchaus gute Gründe geben. Schnel-lere Reaktionsmöglichkeiten, wie in Stein-furt praktiziert, können für eine solche Entscheidung sprechen. Normalerweise sind bei der Jahresplanung der Jobcenter kurzfristige, flexible Einkäufe oder An-passungen laufender Verträge durch die vergaberechtlichen Vorschriften nur sehr begrenzt möglich. Vorteile liegen mögli-cherweise auch in einer besseren Quali-tät und in Kosteneinsparungen.

Die tatsächlichen Kosten von Eingliede-rungsmaßnahmen sind aber gar nicht so leicht zu ermitteln. Die Autorin der Mas-terarbeit weist darauf hin, dass neben den Maßnahmekosten auch die sog. Transak-tionskosten berücksichtigt werden müs-sen. Das sind Kosten, die sowohl bei der Selbstvornahme als auch der Vergabe für die Koordination und Kommunikation anfallen. So ist der Aufwand bei der An-gebotsauswertung, für Information, Ver-handlung, Vereinbarung, Kontrolle, Do-kumentation usw. im Normalfall schon hoch. Wenn es zu Missverständnissen oder Konflikten mit dem Auftragnehmer kommt, steigt er nochmal rapide und es entstehen zusätzliche Kosten.

Allerdings ist die Frage, wann sich die Selbstvornahme gegenüber einer Verga-be lohnt, nicht einfach mit einem Ver-weis auf die konkreten Kosten zu beant-worten. Eine Befragung im Rahmen der Masterarbeit zeigte sogar, dass die Maß-

nahmen in Eigenregie mit einer Ausnah-me teurer waren als vergleichbare durch Träger durchgeführte Projekte.

Neben der betriebswirtschaftlichen Be-trachtung muss der Blick immer auch auf die Integrationschancen der Teilneh-menden von Maßnahmen gerichtet wer-den. Dabei zählt nicht nur, ob jemand nach einer Eingliederungsmaßnahme eine Beschäftigung aufnimmt, sondern auch, ob er dies nachhaltig tut. Haben die Teilnehmer/-innen also in zwei Jahren im-mer noch einen Job oder melden sie sich schon nach kurzer Zeit wieder im Jobcen-ter? Zwar ist hier und da zu hören, dass die Projekte in Eigenregie Vorteile eben bei dieser Nachhaltigkeit haben könnten, die Untersuchung im Rahmen der Masterar-beit konnte das aber nicht untermauern.

Demnach schnitten die Jobcenter mit ih-ren eigenen Maßnahmen „in Bezug auf die Schnelligkeit und Nachhaltigkeit der Vermittlung … nur marginal besser ab.“ Auch Jürgen Kockmann, Leiter des Job-centers des Kreises Steinfurt, ist sich nicht sicher, ob man Vorteile in der Nachhaltig-keit bei jobcentereigenen Projekten konsta-tieren kann. „Ich glaube auch nicht, dass Träger bewusst in Stellen vermitteln, von denen sie von vornherein wissen, dass die Nachhaltigkeit nicht gegeben ist.“

Man ahnt, dass ein Vergleich von „Make“ und „Buy“ schwierig ist. Eine exakte Mes-sung der Transaktionskosten ist nahezu unmöglich – und ob die Eigen- oder die vergebenen Maßnahmen eine nachhal-tigere Wirkung zeigen, ist von vielen Fak-toren wie zum Beispiel der Auswahl der Teilnehmenden abhängig und lässt sich nur langfristig feststellen.

Zertifizierung notwendig

Um nicht selbst auf den Kosten für Eigen-maßnahmen sitzenzubleiben, müssen die Jobcenter außerdem zunächst einen ge-wissen Aufwand betreiben. Damit eine hundertprozentige Finanzierung der Ei-genmaßnahmen mit Bundesmitteln aus dem „Eingliederungstitel“ möglich ist, ist seit Anfang 2013 eine Zertifizierung ge-mäß der Zulassungsverordnung Arbeits-förderung (AZAV) vorgeschrieben. Das gilt für Jobcenter genau wie für Bildungs-träger. Ohne eine Zertifizierung wäre die Finanzierung von eigenen Maßnahmen nur aus dem „Verwaltungstitel“ der Job-center möglich, der zu knapp 85 Prozent aus Bundes- und zu gut 15 Prozent aus Mitteln der Kommune finanziert wird.

Wird eine Maßnahme wie die Jobakade-mie in der Optionskommune Kreis Stein-furt komplett aus dem Eingliederungsti-tel finanziert, spart der so jährlich rund 45.000 Euro. In Wuppertal wie im Kreis Steinfurt ist die Zertifizierung gerade im Gang und wird voraussichtlich Ende des Jahres 2013 abgeschlossen.

„Wir haben im Rahmen des Zertifizie-rungsprozesses festgestellt, dass wir schon gut aufgestellt sind, haben aber auch ei-nige Schwachstellen aufgedeckt“, gibt Dr. Andreas Kletzander zu. Für die Or-ganisation der Arbeit, aber auch für As-pekte wie Stellenbeschreibungen, die Personalentwicklung oder das Verände-rungs- oder Qualitätsmanagement sei die Zertifizierung ein wichtiger Innovations-impuls nach innen gewesen. Und das nicht nur für die in die Selbstvornahme einge-spannten Abteilungen, sondern für das gesamte Haus.

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SGB II

Von der Entwicklung der Beratungskom-petenz der Mitarbeiter/-innen in den Eigen-projekten können zudem alle Berater/-innen in der klassischen Vermittlung profitieren, weil sie die Möglichkeit erhalten, in den Projekten zu hospitieren.

So richtig überzeugt indes schien die Wup-pertaler Jobcenter-Belegschaft anfangs von dem neuen Modell nicht zu sein: Von 170 Mitarbeitenden, die für die Eigenpro-jekte infrage kamen, bewarben sich nur vier dafür. „Man muss intern dafür wer-ben“, sagt Dr. Andreas Kletzander. Bei 550 Mitarbeitenden könnten nicht alle den Aufstieg in Führungspositionen schaffen. Die Eigenprojekte böten aber die Chan-ce, mal etwas anderes in seinem Job ma-chen zu können.

Auch im Kreis Steinfurt hatte man mit Vor-behalten der Mitarbeiter/-innen zu kämp-fen: „Als wir mit der Idee kamen, hieß es: was sollen wir denn noch alles machen“, berichtet Jürgen Kockmann. Bei der Ent-wicklung des Projekts hätten die invol-vierten Mitarbeiter/-innen aber immer mehr erkannt, welche Chancen das Modell bietet. „Heute will es keiner mehr missen – im Gegenteil: Die Jobcenter-Standorte im Kreis warten darauf, wann sie endlich dran sind“, erzählt Jürgen Kockmann.

Impulse für die gesamte Arbeit

Zwar ist der Umfang der Selbstvornahme-Projekte im Vergleich zu dem Gesamtvo-lumen der von den Jobcentern finanzierten Maßnahmen zurzeit sehr gering, doch ein über das Organisatorische hinausge-hende Ausstrahlen des „neuen Verwal-tungshandelns“ auf die anderen Bereiche ist zumindest in Wuppertal durchaus er-

wünscht. „Gruppenarbeit, gemeinsame Aktionen mit Arbeitgebern, Unterneh-men besuchen, Jobbörsen veranstalten – das sind Elemente, die neben die klas-sische Einzelberatung treten sollen“, er-läutert Dr. Andreas Kletzander. Erste Schritte in diese Richtung habe man be-reits unternommen.

Arbeitsverhältnisse entstehen können“, berichtet Jürgen Kockmann.

Anfang 2014 werden in Wuppertal insge-samt 15 Mitarbeiter/-innen in den unter Eigenregie realisierten Maßnahmen arbei-ten. Das sind dann rund drei Prozent der Belegschaft. Im Kreis Steinfurt werden

Entscheidungsbaum zur Make-or-Buy-Frage

Ist die Maßnahme von strategischer Bedeutung?

(Kernkompetenzen?)

Sind die benötigtenRessourcen für Selbstvornahme

vorhanden?

Kann die Maßnahme/ Leistung hinreichend

bestimmt werden?

Ist die Selbstvornahme

wettbewerbsfähig?

Lohnen sichInvestitionen und

besteht ausreichend Zeit?

Gibt es einen Markt bzw. genügend

Anbieter?

Make Make Buy Buy Make/Buy

ja nein

ja

neinja

nein

neinjaja

ja nein

Quelle: Sarah Theres Weikamp: Make-or-Buy-Entscheidungen bei Eingliederungsmaßnahmen nach dem SGB II in Jobcentern/Optionskommunen, Master-Arbeit, S. 17

Damit will man nicht zuletzt auch das eigene Image verbessern. Bei Teilneh-menden an den Work-First-Projekten ge-lingt das heute schon. „Die Leute sind überrascht, dass sie ohne Wartezeit sofort in eine Maßnahme gehen“, sagt Dr. An-dreas Kletzander. „Unsere Kunden neh-men das Jobcenter anders wahr und tra-gen das auch nach außen.“ Auch der enge Kontakt, den die Jobcenter im Rahmen der Work-First-Projekte zu Unternehmen herstellen, trägt zu diesem anderen Image bei. „Zum Beispiel bieten Arbeitgeber, die sich in der Jobakademie vorstellen, schon mal Praktikumsplätze an, woraus dann

derzeit unter zehn Prozent der für Einglie-derungsmaßnahmen zur Verfügung ste-henden Mittel für die Eigenprojekte aus-gegeben. Das relativiert nach Ansicht des Wuppertaler Jobcenter-Vorstands auch die Befürchtungen einiger Bildungsträ-ger, ausgebootet zu werden. „Die Träger sind in Zukunft nicht ohne Arbeit“, ver-sichert Dr. Andreas Kletzander. Ziel sei es „sinnvolle Maßnahmenketten“ unter Beteiligung der Träger zu installieren. Es gehe also nicht um „Make or Buy“, son-dern um „Make and Buy“, wobei lokale Bildungsträger bei der Vergabe von Auf-trägen bevorzugt werden sollen.

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SGB II

Jürgen Kockmann sagt, dass die Träger im Kreis Steinfurt über die neue Entwicklung zwar nicht gejubelt, aber schon mit Ver-ständnis reagiert hätten. Andererseits hat auch er Verständnis für deren Ängste: „Es ist durch die Reduzierung des Eingliede-rungsbudgets um fast die Hälfte, die Zer-tifizierungspflicht, die Inanspruchnahme von Gutscheinen für die Teilnehmenden und jetzt die Tendenz zur Selbstvornahme schon schwierig geworden.“ Zum Teil hät-ten die Träger auch bereits mit dem Abbau von Personal reagiert. Allerdings sei es bis-her den regionalen Trägern bei der Verga-be von Maßnahmen trotz der Pflicht zur bundesweiten Ausschreibung seitens des Jobcenters immer gelungen, zum Zuge zu kommen.

Dass man auf Bildungsträger im Rahmen der Eingliederung in den Arbeitsmarkt ganz verzichten kann, glaubt niemand. Das zeigt auch die Befragung in Jobcen-tern vier weiterer Optionskommunen (Kreise Coesfeld, Düren und Steinfurt so-wie der Städte Hamm und Mülheim) im Rahmen der Masterarbeit von Sarah The-res Weikamp. Selbstvornahme kommt aus Sicht der befragten Jobcenter vor allem bei Maßnahmen in Betracht:• „die vermittlungsorientiert oder -nah

ausgerichtet sind,• die wenig oder begrenzt spezifische

Ressourcen (wie Werkstätten, Fach-qualifikationen) und damit Investiti-onen erfordern,

• die sich unmittelbar in die Kernpro-zesse integrieren lassen,

• die von ihrer Größe überschaubar bleiben,• die sich von Trägerangeboten in der

Umsetzung abgrenzen,• die als Pilotprojekte zum Ausprobieren

neuer Ideen genutzt werden.“

ABSTRACT

Viele Jobcenter bieten neuerdings selbst Maßnahmen für Arbeitssuchende an, nachdem sie 

lange Zeit nur Bildungsträger und Wohlfahrtsverbände damit beauftragt hatten. Das „Selber-

machen“ scheint besonders für Neuantragsteller/-innen, die mit dem Work-First-Ansatz mög-

lichst schnell wieder in Arbeit gebracht werden sollen, eine gute Lösung zu sein. Das bestäti-

gen die Beispiele der Jobcenter in Wuppertal und im Kreis Steinfurt. Die Beweggründe von

Jobcentern und die Vor- und Nachteile des Make or Buy, also der Selbstvornahme bzw. der

Vergabe, sind jetzt im Rahmen einer Masterarbeit wissenschaftlich untersucht worden.

LITERATUR

Sarah Theres Weikamp: Make-or-Buy-Entscheidungen bei Eingliederungsmaßnahmen nach 

dem SGB II in Jobcentern/Optionskommunen, Masterarbeit vorgelegt an der Universität Kassel

am 04.04.2013

KONTAKTE

Dr. Andreas Kletzander

Jobcenter Wuppertal

Bachstr. 2, 42275 Wuppertal

Tel.: 0202 74763802

[email protected]

Jürgen Kockmann

Jobcenter Kreis Steinfurt

Tecklenburger Str. 10, 48565 Steinfurt

Tel.: 02551 695205

[email protected]

Sarah Theres Weikamp

Lavendelweg 10

46395 Bocholt

Tel.: 02871 2941221

[email protected]

AUTOR

Frank Stefan Krupop

Tel.: 02306 741093

[email protected]

Um künftig eine systematische Entschei-dungsfindung beim Make or Buy zu un-terstützen, hat Sarah Theres Weikamp in ihrer Masterarbeit daher einen Entschei-dungsbaum entwickelt, der hier weiter-helfen könnte.

Bleibt festzuhalten, dass sich in den Job-centern in NRW insgesamt tatsächlich ein Trend zu mehr Maßnahmen in Eigenregie feststellen lässt. Einhellige Meinung der Jobcenter-Vertreter/-innen ist aber, dass

diese aktuelle Entwicklung die Drittver-gabe nicht ablösen, sondern im Umfang von Standort zu Standort unterschied-lich ergänzen wird. Es geht also nicht um „Make or Buy“, sondern um „Make and Buy“, wobei sich die Jobcenter bisher vor allem verstärkt um die arbeitsmarknahen Neuantragsteller/-innen selbst kümmern wollen. Das schließt allerdings nicht aus, dass es testweise auch für sogenannte „schwierige“ Kunden das ein oder ande-re Pilotprojekt in Eigenregie geben wird.

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WEGE IN ARBEIT

Werkstätten für behinderte Menschen

sollen ihre Beschäftigten auf den Ar-

beitsmarkt vorbereiten. Doch für viele

ist der direkte Übergang in einen regu-

lären Job ein zu großer Schritt. Eine

gute Brücke sind Außenarbeitsplätze:

Menschen mit Behinderungen arbeiten

dabei in ganz normalen Betrieben und

können sich im Arbeitsleben bewei-

sen, bleiben aber weiterhin Beschäf-

tigte der Werkstatt und haben dadurch

Rückhalt. Mit einem Modellprojekt för-

dert das Land NRW jetzt 1.000 neue Au-

ßenarbeitsplätze, um mehr Menschen

mit Behinderung einen Zugang zum re-

gulären Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Der Blick in die Statistik zeigt: Bislang haben Unternehmen Außenarbeitsplätze eher zögerlich eingerichtet. Von den rund 72.0000 Werkstattplätzen für behinderte Menschen in NRW sind gerade mal 3.400 ausgelagerte Arbeitsplätze in Betrieben und öffentlichen Einrichtungen. Das soll sich ändern, so das erklärte Ziel der rot-grünen Landesregierung. Im Koalitions-vertrag haben beide Parteien festgelegt, mehr „alternative, inklusive Arbeitsmög-lichkeiten außerhalb von Werkstätten für behinderte Menschen“ sowie zusätzliche Außenarbeitsplätze zu schaffen. Sonder-einrichtungen sollen möglichst vermieden werden, stattdessen sollen Menschen mit Behinderung so arbeiten können, wie je-der andere auch. Das Ziel ist ein „inklu-siver Arbeitsmarkt.“

Die Landesregierung folgt damit der UN-Behindertenrechtskonvention und dem

darin verankerten Grundgedanken der Inklusion: Menschen mit und ohne Be-hinderung sollen in allen gesellschaft-lichen Bereichen gleichberechtigt und selbstbestimmt miteinander leben, so das Ziel. 2009 hat Deutschland die Konven-tion unterzeichnet, jetzt heißt es, diesen Anspruch schrittweise in der Praxis um-zusetzen, gerade auch im Bereich Arbeit, wo viele Menschen mit körperlichen, geis-tigen oder seelischen Einschränkungen eben keine Gleichberechtigung erfahren, sondern schlechtere Chancen haben und ausgegrenzt werden.

Doch wie lässt sich Inklusion in der Ar-beitswelt steuern? Arbeitgeber können kaum verpflichtet werden, behinderte Men-schen einzustellen, gibt Andreas Trümper, Leiter der Caritaswerkstätten in Gladbeck zu bedenken. „Hier geht es nur mit Über-zeugung.“ Ein Argument für Chefs ist die

Arbeitsentlastung durch zusätzliche Kräfte, aber auch soziale Pluspunkte zählen, sagt Trümper. Behinderte Mitarbeiter/-innen können die Unternehmenskultur positiv beeinflussen, Betriebe werden „mensch-licher“, vielleicht sogar ein Stück norma-ler, wenn behinderte und nicht behinderte Menschen zusammen schaffen.

Die Initiative „Teilhabe an Arbeit – 1.000 Arbeitsplätze für Menschen mit Behinde-rungen“ bietet zudem einen finanziellen Anreiz, neue Außenarbeitsplätze einzu-richten. Arbeitgeber erhalten zwölf Mo-nate lang einen Zuschuss in Höhe von 50 Prozent des vereinbarten Entgelts für den Beschäftigten, maximal werden 350 Euro pro Monat gefördert. Finanziert wird das Programm mit Mitteln des Landes NRW, des Europäischen Sozialfonds und der bei-den Landschaftsverbände Westfalen-Lip-pe (LWL) und Rheinland (LVR).

Arbeitsmarkt inklusive Landesinitiative fördert 1.000 neue Außenarbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen 

in Nordrhein-Westfalen

Manuel Schang arbeitet seit rund fünf Jahren auf einem ausgelagerten Arbeitsplatz auf einem gro-

ßen Reiterhof in Bielefeld. Er erledigt dort einfache Helfertätigkeiten, kümmert sich zum Beispiel um

das Auffüllen des Futterwagens oder das Fegen mit dem Motorbesen. (Foto: Bethel proWerk)

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WEGE IN ARBEIT

Bis zum 1. Oktober sind bereits 120 neue Außenarbeitsplätze in Westfalen-Lippe und 126 im Rheinland entstanden, je 500 sollen es werden, dafür werben Martina Große Halbuer beim LWL und ihr Kol-lege Thomas Fonck im Rheinland. „Wir sind überzeugt, das ist ein gutes Konzept von dem beide Seiten profitieren. Arbeit-geber bekommen hoch motivierte Mitar-beitende, die Aufgaben in einem Betrieb gut übernehmen können“, sagt Martina Große Halbuer. „Und das weiterhin mit der Unterstützung des Fachpersonals der Werkstatt“, ergänzt Thomas Fonck. Denn die Werkstätten bleiben für die Mitarbei-ter verantwortlich, übernehmen Arbeitge-berpflichten wie Sozialversicherungsbei-träge und sind Ansprechpartner, wenn es Fragen und Probleme gibt.

Gesellschaftliche Verantwortung und Vorbildfunktion

Ein Beispiel: Vor drei Jahren richtete die Kita „Rappelkiste“ in Bottrop einen ers-ten Außenarbeitsplatz für einen jungen Mann ein, der sich um den Garten und leichte handwerkliche Tätigkeiten küm-mern soll. „Zu Anfang gab es schon Be-denken“, erinnert sich Cornelia Kaver-mann vom Kita-Trägerverein AG Soziale Brennpunkte (AGSB). Wie belastbar ist der neue Mitarbeiter? Klappt das Mitei-nander im Arbeitsalltag, fragte sich das Team. Die Geschäftsführerin sah damals aber auch die gesellschaftliche Verantwor-tung und Vorbildfunktion als Arbeitgebe-rin. In die Kita gehen behinderte und nicht behinderte Kinder, sie werden gemeinsam betreut und spielen zusammen. „Wir ver-suchen, Inklusion zu leben. Das heißt für mich dann auch, dass wir Menschen ent-sprechend ihrer Fähigkeiten ins Arbeitsle-ben einbinden.“ Ihre Entscheidung hat Cor-

nelia Kavermann nicht bereut. Der junge Mann ist zuverlässig und die Erfahrungen mit ihm sind so positiv, dass die Kita An-fang 2013 eine zweite Mitarbeiterin mit Behinderung einstellte, diesmal zur Unter-stützung in der Hauswirtschaft.

Geschirr abwaschen, Tische eindecken, fe-gen, wischen und die Waschmaschine mit einer Ladung Handtücher anstellen – von 10 bis 16 Uhr geht Nicole Breitschuh jetzt der Köchin in der Kita „Rappelkiste“ zur Hand und übernimmt kleine Aufgaben, die sonst die Erzieherinnen nebenbei er-ledigen müssten. „Die Kolleginnen loben mich“, sagt die 28-Jährige stolz und geht gerne zur Arbeit. Zuvor war die junge Frau in verschiedenen Behindertenwerkstätten beschäftigt, fühlte sich aber immer fehl am Platz. „Das war nichts für mich. Ich war völlig unterfordert und konnte mit nie-mandem richtig reden.“ Ihr großer Traum ist, einen „richtigen“ Arbeitsplatz zu ha-ben und zu zeigen, dass sie mehr kann als Teile zusammenstecken. Zielstrebig ver-folgte sie diesen Wunsch, erkundigte sich in ihrer Werkstatt, den Bottroper Werkstät-ten, nach Möglichkeiten und überlegte mit ihrer Übergangsassistentin, wo ihre Stär-ken liegen. Ein halbes Jahr lang wurde sie auf die Arbeit in der Kita vorbereitet, in-zwischen hat sie sich gut eingewöhnt und fühlt sich wohl. „Jetzt arbeite ich mit nor-malen Menschen zusammen. Und man hat nicht so diesen Stempel.“ Anerkannt und akzeptiert zu werden, das ist der 28-Jäh-rigen wichtig.

Auch die Kita „Rappelkiste“ profitiert von dem Modell. Cornelia Kavermann hatte schon lange eine Unterstützung für die Kü-che gesucht. Rund 60 Essen bereitet die Köchin täglich für die Kita und Hortgrup-pe frisch zu. Die Einrichtung legt großen

Wert auf gesundes Essen, muss aber auch spitz rechnen. Der geförderte Außenar-beitsplatz sei da ein „guter und kreativer Weg“, das Personal zu entlasten.

Ein unschätzbarer Vorteil ist, dass Nicole Breitschuh weiterhin von der Werkstatt begleitet wird. Egal ob es um organisato-rische Fragen wie die Urlaubsplanung oder Konflikte mit Kolleginnen geht, um all das kümmert sich Übergangsassistentin Marti-na Thiele von den Bottroper Werkstätten. Das entlastet den Arbeitgeber und stärkt die Beschäftigten. Auch zu erkennen, dass jemand noch nicht den richtigen Platz ge-funden hat und Alternativen zu suchen, gehört zum Job der Assis tenten. Nicole Breitschuh hatte zum Beispiel in einem ers-ten Anlauf eine Stelle im Einzelhandel an-genommen, aber das Zusammenspiel im Team funktionierte einfach nicht. Mithil-fe ihrer Assistentin schaffte sie den Wech-sel in die Kita. „Hier wird sie voll akzep-tiert“, freut sich Martina Thiele. „Es ist ganz wichtig, dass es menschlich passt.“

Übergangsassistenten unterstützen Beschäftigte undArbeitgeber

„Ein Außenarbeitsplatz muss sehr gut vor-bereitet und unterstützt werden. Selbst Kleinigkeiten können alles zum Schei-tern bringen“, bestätigt Arnd J. Schreiner, Prokurist der Bottroper Werkstätten. Seit 2001 bemüht sich die diakonische Ein-richtung verstärkt darum, den Beschäf-tigten Wege in den ersten Arbeitsmarkt zu eröffnen. Etwa 30 von insgesamt 550 Werkstatt-Beschäftigten arbeiten mitt-lerweile auf einem Außenarbeitsplatz. Dass das Thema mit viel Mühe und Auf-wand verbunden ist, verschweigt Schrei-ner nicht. Stellenakquise, Qualifizierung

Thomas Fonck,

Landschaftsverband Rheinland

Martina Große Halbuer,

Landschaftsverband Westfalen-Lippe

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WEGE IN ARBEIT

und Begleitung der Mitarbeiter/-innen, all das ist zeitintensiv. Oft muss das Aufga-benprofil eines Außenarbeitsplatzes ganz neu zugeschnitten und entwickelt werden. Werkstatt und Arbeitgeber überlegen dann gemeinsam, wie die Arbeit in einem Be-trieb umverteilt wird und was der neue Mitarbeitende übernehmen kann. In ei-ner Senio reneinrichtung könnte eine zu-sätzliche Kraft zum Beispiel unterstüt-zende Tätigkeiten wie Essensausgabe und Bettenbeziehen übernehmen. Die exami-nierten Altenpflegerinnen haben mehr Zeit für Pflege und Fachaufgaben, Per-sonalressourcen können verschoben und besser genutzt werden.

Parallel dazu wird die Bewerberin oder der Bewerber schon in der Werkstatt auf den neuen Arbeitsplatz vorbereitet. Schlüs-selqualifikationen wie pünktliches Er-scheinen und Zuverlässigkeit sind dabei ebenso wichtig wie die Vermittlung von fachlichem Know-how. In einem Prakti-

kum können sich beide Seiten dann ken-nenlernen. Eine zentrale Funktion haben die Übergangsassistenten. Während der ganzen Zeit sind sie Coach, Krisenmana-ger, Ansprechpartner, kurz: Mädchen für alles. „Zu Anfang betreuen wir die Be-schäftigten auf dem neuen Außenarbeits-platz ganz intensiv. In der ersten Woche sind wir rund 20 Stunden dabei. Dann wird es ausschleichend immer weniger“, erzählt Michael Kahnert, der 2001 als ers-ter Übergangsassistent bei den Bottroper Werkstätten anfing. Inzwischen arbeiten sie zu dritt, die Aufgaben sind vielfältig: „Heute habe ich eine Frau auf einem Rei-terhof begleitet, morgen bin ich in einem Betrieb in der IT-Branche“, verdeutlicht Martina Thiele die Spannbreite.

Die Übergangsassistentin übt mit den Be-schäftigten die Busfahrt zur Arbeit genau-so wie Verhaltensregeln im Job. „Auch unangenehme Themen sprechen wir an“, ergänzt Michael Kahnert. Ist eine Mit-

arbeiterin oder ein Mitarbeiter zum Bei-spiel nicht angemessen gekleidet oder mel-det sich immer wieder krank, kommt das auf den Tisch. Zu große Motivation kann ebenfalls ein Problem sein. Michael Kah-nert erlebt oft, dass sich die Neuen mit großem Elan in die Arbeit stürzen, über ihre Grenzen gehen, auf Pausen verzich-ten, um zu beweisen, dass sie ihren Job gut und gleichwertig machen. „Hier müssen wir den Mitarbeitenden helfen, die eige-nen Kräfte einzuteilen und eine Routine zu entwickeln, um dauerhaft die Arbeit schaffen zu können.“

Manchmal sind auch Kreativität und klei-ne Tricks gefragt. Piktogramme oder Ar-beitslisten sind zum Beispiel einfache, aber effektive Hilfen, damit ein Mensch mit Handicap eine Aufgabe besser bewälti-gen kann. Gerne erzählt Michael Kah-nert auch die Geschichte der Spülhilfe in einer Großküche. Aufgrund einer moto-rischen Störung konnte die Mitarbeiterin das Spülmittel nicht genau dosieren. Jedes Mal drückte sie zu viel aus der Flasche he-raus und sorgte für ein Schaumbad in der Spülmaschine. Michael Kahnert hatte dann die Idee mit der Dosierhilfe: Er maß genau ab, wie viel Spülmittel für einen Spülgang ausreicht. Diese Menge zog die Frau dann jeden Tag vor der Arbeit in bereitgestellte Spritzen auf und konnte nun die richtige Menge zugeben. Inzwischen nutzen alle Mitarbeiter die Dosierhilfe, weil sie damit viel Reinigungsmittel sparen.

Mehr Außenarbeitsplätze im öffentlichen Dienst schaffen

Großküchen, Kantinen, Kindertagesein-richtungen oder Altenhilfe sind Arbeits-felder, in denen sich Außenarbeitsplät-

Kay Jarentowski arbeitet schon seit längerer Zeit im Jugendgästehaus in

Bielefeld. Die Fotos zeigen ihn beim Einsatz in der Spülküche.

(Foto: Bethel proWerk)

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WEGE IN ARBEIT

ze bewährt haben. Auch in gewerblichen Betrieben gibt es gute Einsatzmöglich-keiten, zum Beispiel in der Montage, im Bereich Lager und Verkauf oder in der Garten- und Landschaftspflege. Mit dem Modellprojekt sollen zudem öffent-liche Verwaltungen motiviert werden, Außenarbeitsplätze zu schaffen. Neben Einzelplätzen können auch Gruppenar-beitsplätze eingerichtet werden, weist Thomas Fonck auf eine Variante hin. In diesem Fall wird eine spezielle Aufgabe in einer Firma von einer ganzen Grup-pe von Werkstattmitarbeitenden über-nommen. „Der Charme dabei ist, dass so auch Menschen mit stärkeren Beein-trächtigungen eine Chance bekommen, außerhalb der Werkstatt zu arbeiten, und nicht nur die Leistungsstärkeren.“

Die geförderten Plätze können nach einem Jahr in dauerhafte Außenarbeitsplätze oder eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung münden. „Unser Ziel ist, dass die Beschäftigten weiter im Betrieb bleiben und nicht nach einem Jahr wie-der in die Werkstatt zurückkehren“, sagt Martina Große Halbuer. Nach neun Mo-naten berät der Integrationsfachdienst da-rum auch Arbeitgeber und Beschäftigte über Anschlussperspektiven und weitere Fördermöglichkeiten. Richtet ein Arbeit-geber eine sozialversicherungspflichtige Stelle ein, kann er zum Beispiel deutliche Lohnkostenzuschüsse erhalten. „Selbst wenn der Beschäftigte nur einen Teil der Leistung erbringt, rechnet sich das meis-tens für den Arbeitgeber“, betont Fonck.

Die Landschaftsverbände fördern außer-dem Qualifizierungen und zahlen eine Ein-stellungsprämie. Mitarbeiter/-innen haben zudem das Recht, in die Werkstatt zurück-

zukehren, falls es nicht funktioniert. Unter dem Stichwort „Budget für Arbeit“ sind die unterschiedlichen Fördermaßnahmen zur beruflichen Integration zusammenge-fasst und im Internet abrufbar.

Trotz der Bemühungen schaffen bundes-weit bislang weniger als ein Prozent den Übergang von der Werkstatt in den all-gemeinen Arbeitsmarkt. Das liegt nicht allein an den Arbeitgebern, die zu wenig Jobs zur Verfügung stellen. Auch für die Betroffenen ist der Schritt mit Unsicher-heiten und Risiken verbunden. Eine Werk-statt bietet schließlich auch Vorteile und

ABSTRACT

Mit dem Modellprojekt „Teilhabe an Arbeit“ sollen 1.000 neue Außenarbeitsplätze für Menschen 

mit Behinderungen in NRW geschaffen werden. Arbeitgeber, die einen Außenarbeitsplatz ein-

richten, erhalten ein Jahr lang 50 Prozent des vereinbarten Entgeltes, maximal 350 Euro monat-

lich. Um an dem Programm teilzunehmen, muss der Außenarbeitsplatz bis spätestens zum 1. 

Juni 2014 eingerichtet werden. Finanziert wird das Angebot mit Mitteln des Landes NRW, des

Europäischen Sozialfonds und der Landschaftsverbände Westfalen-Lippe und Rheinland.

ANSPRECHPARTNER IN DER G.I.B.

Benedikt Willautzkat

Tel.: 02041 767204

E-Mail: [email protected]

LINKS

www.lwl-budget-fuer-arbeit.de

www.budget-fuer-arbeit.lvr.de

AUTORIN

Silke Tornede

E-Mail: [email protected]

viele Annehmlichkeiten, von geregelten Arbeitszeiten bis zum Fahrdienst. Nicht zuletzt heißt es für die Werkstätten selbst, dass sie gute Mitarbeiter/-innen ziehen lassen müssen und die Produktivität da-durch vielleicht sinkt. Das Ablösen von der Werkstatt bedeutete für alle Beteilig-ten Veränderung, aber es lohne sich, um-zudenken und den Weg Richtung „inklu-siver Arbeitsmarkt“ weiter zu gehen, sagt Thomas Fonck. „Eigenes Geld verdienen, auf eigenen Füßen stehen, das ist ein gro-ßer Wert.“ Und Außenarbeitsplätze sind dabei eine wichtige Etappe, um gleichbe-rechtigt im Berufsleben anzukommen.

KONTAKTE

Martina Große Halbuer

Landschaftsverband Westfalen-Lippe

Tel.: 0251 591-6439

E-Mail: [email protected]

Thomas Fonck

Landschaftsverband Rheinland

Tel.: 0221 8097220

E-Mail: [email protected]

Michael Kahnert,

Übergangsassistent Bottroper Werkstätten

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FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE

Warum eigentlich zählt „Friseurin“ immer noch zu den beliebtesten Ausbildungs-

berufen von Mädchen? Weil sie mit der Tätigkeit Mode, Kosmetik und gutes Aus-

sehen assoziieren? Vermutlich. An der Vergütung jedenfalls kann es nicht liegen,

denn laut Statistischem Bundesamt verdienen Friseure durchschnittlich 1.315

Euro brutto im Monat, wohingegen der durchschnittliche Bruttolohn aller Berufe

3.093 Euro beträgt. Damit liegen Friseurinnen und Friseure am untersten Ende

der Einkommensskala.

Faire Arbeit, faire Löhne:

Qualität statt LohndumpingLohnpolitik im Friseurhandwerk

Dabei ist die Ausbildung keineswegs an-spruchslos, sagt Wilfried Petri, Geschäfts-führer des Friseur- und Kosmetikverbands NRW mit Sitz in Dortmund: „Auszubilden-de brauchen Chemiekenntnisse und ana-tomisches Hintergrundwissen. Niemand, außer Arzt oder Pfleger, kommt so nah an Kunden heran wie Friseure. Sie müssen kontaktfreudig sein und kommunikativ, müssen sich vernünftig artikulieren kön-nen und sie brauchen Empathie. Ohne ei-nen guten Hauptschulabschluss würden sie insbesondere den theoretischen Teil der Prüfung wohl kaum schaffen.“

Gut bezahlt wird die Leistung nach be-standener Prüfung dennoch nicht. Schuld daran geben Kritiker den Arbeitgeberver-bänden, den Friseurinnungen, den Friseur-Verbänden und dem Zentralverband. Sie werfen ihnen vor, das Lohnproblem jahr-zehntelang ignoriert zu haben. „Entwe-der wurden einfach keine neuen Tarifver-träge mehr abgeschlossen“, schrieb etwa vor kurzem „Die Welt“ in einem gro ßen „Billigfriseur-Report“, „oder es wurden mit neuen, bewusst niedrig gehaltenen Tarifabschlüssen den Billiglöhnen der Weg bereitet.“

„Da ist was dran“, gibt Wilfried Petri un-umwunden zu. „Doch das ist zum einen regional sehr unterschiedlich, zum anderen kann man es nicht einseitig den Arbeitge-bern vorwerfen. Die Gewerkschaften hät-ten mehr Druck aufbauen müssen.“ Vor einigen Monaten hat der Innungschef in ei-ner Fernseh-Talk-Runde ein Streitgespräch verfolgt: „Ein Gewerkschaftsvertreter aus einem östlichen Bundesland fragte einen Friseur-Großfilialisten vorwurfsvoll: ,Wa-rum zahlen Sie so wenig?‘ und der Großfi-lialist antwortete ganz nüchtern: ,Ich zah-le nach Tarif!‘, und das stimmt auch. Die Gewerkschaften sollten nicht wie ein Ka-ninchen vor der Schlange sitzen, sondern etwas tun und verhandeln!“

Leichter gesagt als getan, denn die Gewerk-schaften sind in der Friseurbranche weit-gehend machtlos: Betriebsräte sind in den Kleinstunternehmen der Branche nicht zu finden und der gewerkschaftliche Organi-sationsgrad der Beschäftigten im Friseur-handwerk liegt nach Angaben von Andrea Becker von der Gewerkschaft ver.di bei ge-rade mal 2,4 Prozent.

Fatale Folgen

Das niedrige Lohnniveau im Friseurhand-werk – bis vor Kurzem besonders extrem in Thüringen und Sachsen mit 3 Euro 50 brutto pro Stunde – hat nicht nur viele Be-schäftigte zur zusätzlichen Inanspruchnah-me von Hartz IV gezwungen, sondern war auch Einfallstor für Billiganbieter, für Dis-counter. „Aufgrund idealer Niedrigtarif-Bedingungen“, heißt es im „Welt-Report“, entdeckten Billigketten bereits vor circa acht Jahren die systematische Ausbeutung von Friseuren. Auf ihrem Rücken konn-

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FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE

ten extrem niedrige Preise mit maxima-len Gewinnen kombiniert werden. Heute ist beinahe an jeder Ecke eine dieser um-strittenen Ketten zu finden.“

Wie aber sind Preise pro Haarschnitt für „10 Euro all inklusive“ überhaupt mög-lich? Bei solchen Werbeaussagen empfiehlt Wilfried Petri genauer hinzusehen. „Ist tat-sächlich alles inbegriffen? Eine Dauerwel-le für elf Euro ist praktisch gar nicht mög-lich. Oft müssen eingesetzte Materialien und Produkte zusätzlich gezahlt werden, sodass der endgültige Preis doch deutlich höher liegt. Aber es gibt auch sogenannte Konzeptsalons, meist Franchiser oder klei-ne Ketten, die sehr günstig einkaufen und anschließend mit niedrigen Preisen kalku-lieren. Entsprechend hoch ist der Zulauf an Kunden, sodass solche Betriebe trotz niedriger Preise oft einen ähnlich hohen Umsatz haben wie Betriebe mit höheren Preisen, aber weniger Kunden.“

Verbreitet in der Branche ist nach seinen Erfahrungen die sogenannte Schaufens-terkalkulation: „Dabei orientieren sich Betriebsinhaber/-innen an den Preisen ih-rer Konkurrenten um die Ecke. Mit be-triebswirtschaftlich fundierter Kalkula-tion hat das nichts zu tun. Da muss man auch manchmal fragen, wie solche Betriebe zurechtkommen. Doch eins ist klar: Wenn ich Mitarbeiter/-innen unter Tarif bezah-le, kann ich natürlich auch niedrigere Prei-se nehmen.“

Dass Beschäftigte das Dreifache ihres Lohns umsetzen müssen, ist laut Petri „die übliche betriebswirtschaftliche Kalkulation in der Branche.“ Eine gute Regelung sind in seinen Augen Leistungslöhne, wobei Ar-

beitgeber beim Erreichen bestimmter Um-satzgrößen ein Gehalt über dem Tariflohn zahlen. „Aber es gibt auch schwarze Scha-fe“, räumt er ein, „die ihren Angestellten sagen: Du musst zwanzig Haarschnitte am Tag schaffen und wenn nicht, Deinen Ur-laub opfern oder bekommst weniger Geld und rutschst unter den Tarif oder es ist ein Kündigungsgrund. Das ist natürlich nicht akzeptabel. Wenn sie erwischt werden, sind sie dran – zu Recht. Der allgemeinverbind-liche Tarif muss immer Basis sein.“

Neben dem Niedriglohn sind unbezahl-te Überstunden ein gängiges Problem der Branche. Wilfried Petri: „Teilzeit ist bei Friseurinnen sehr beliebt, aber bei einem Teilzeit-Job ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Arbeitszeit überschritten wird. Große Betriebe bieten ihren Beschäf-tigten Arbeitszeitkonten, in kleineren ist es ein Aushandlungsprozess zwischen Arbeit-geber und Arbeitnehmer.“ Angesichts be-stehender Machtverhältnisse, kann auch er sich vorstellen, dass Mitarbeiter/-innen klein beigeben: „Insbesondere diejenigen, die nicht so qualifiziert sind und unbedingt ihren Arbeitsplatz behalten wollen.“

Eine Aussage, die verdi-Mitarbeiterin An-drea Becker nur bestätigen kann: „Eine Be-schäftigte wird sich dreimal überlegen, ob sie sich beim Betriebsinhaber über schlech-te Arbeitsbedingungen oder zu niedrige Be-zahlung beschweren soll. Wer sich doch dazu durchringt, bekommt meist zu hö-ren: Du kannst ja den Betrieb wechseln, ich habe genug Interessentinnen, die hier arbeiten wollen.“ Über das Ausmaß an Überstunden jedenfalls und darüber, ob sie bezahlt werden oder nicht, gibt es kei-ne Statistik.

Inflation an (Mikro-)Friseur-betrieben

Tatsächlich flüchten viele schlecht entlohnte Friseure in die Selbstständigkeit und grün-den Mikro- oder Einpersonenbetriebe. Das weiß auch Wilfried Petri: „Es gibt viele jun-ge Friseurinnen und Friseure, die nach der Gesellenprüfung keine Stelle finden oder ihre Vergütung für zu gering halten und sa-gen: Dann mach ich doch gleich den Meis ter und mich selbstständig, wobei das Meis ter-Bafög ein zusätzlicher Anreiz ist. Die Ver-selbstständigung ist in keiner Branche so einfach und monetär so leicht umzusetzen wie im Friseurbereich.“

Der Eindruck beim Gang durch die Städ-te, dass immer mehr Friseursalons eröff-nen, täuscht also nicht. Das bestätigt auch der „Betriebsvergleich im Friseurhand-werk“ der Landes-Gewerbeförderungs-stelle des nordrhein-westfälischen Hand-werks (LGH). Demnach stieg innerhalb der letzten zehn Jahre der Betriebsbestand um 2.500 Einheiten beziehungsweise 18,7 Pro-zent, obwohl die Zahl der Einwohner/-in-nen des Landes um 1,2 Prozent abnahm. Damit ist die Zahl der Einwohner/-innen je Friseursalon in Nordrhein-Westfalen von 1.338 auf 1.114 gesunken. Fazit der LGH: „Im Friseurhandwerk sind bei sinkender Einwohnerzahl und steigendem Betriebs-bestand die Wettbewerbsbedingungen au-ßerordentlich hart.“

Die Inflation neu eröffneter Friseurbe-triebe hat nach Ansicht von Wilfried Pe-tri aber auch einen politischen Hinter-grund: Zwar besteht im Friseurhandwerk als Voraussetzung für die Selbstständig-keit noch die Meis terpflicht, doch seit der

Wilfried Petri,

Friseur- und Kosmetikverband NRW

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FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE

Novellierung der Handwerksordnung im Jahr 2004 gibt es viele Ausnahmetatbe-stände. So erhalten in der Branche täti-ge Personen, die 45 Jahre alt sind und die Gesellenprüfung abgelegt haben, automa-tisch eine Ausnahmegenehmigung. „Be-schränkte Ausnahmen bestehen darüber hinaus für das Herrenfach, die sehr viele unserer türkischen Kollegen, überwiegend Herrenfriseure, in Anspruch nehmen. Es geistert immer der Begriff des ,türkischen Meisterbriefs‘ im Raum, aber den gibt es nicht. All das aber trägt zusätzlich zur Erhöhung der Betriebszahl im Friseur-handwerk bei.“

Deren rasanter Anstieg hat Konsequenzen für den durchschnittlichen Jahresumsatz pro Betrieb. Der ist, wie die LGH fest-stellte, in den vier Jahren 2008 bis 2011 von 108.320 Euro auf 103.143 Euro ge-fallen, womit sich ein Realumsatzverlust von 2,1 Prozent ergibt. Um die Kosten im verträglichen Rahmen zu halten, so die LGH, haben die Unternehmen unter anderem versucht, durch Absenkung der Zahl der Vollzeitbeschäftigten und einen verstärkten Einsatz von Teilzeit- und Aus-bildungskräften ihre Personalkosten zu senken. Nach der Handwerksauszählung 2009 waren 57.983 sozialversicherungs-pflichtige Personen im nordrhein-westfä-lischen Friseurhandwerk tätig, darunter 12.023, also gut 20 Prozent, als gering-fügig entlohnte Beschäftigte. Dabei ist die durchschnittliche Betriebsgröße immer weiter zurückgegangen und liegt inzwi-schen – umgerechnet auf Vollzeitäquiva-lente – unter drei Beschäftigten je Salon.

Ein Dorn im Auge ist Wilfried Petri auch die bestehende Mehrwertsteuergrenze. Sie liegt bei 17.500 Euro Jahresumsatz. Laut

einer bundesweiten Erhebung des Zentral-verbands des Deutschen Friseurhandwerks liegen 25.000 der rund 80.000 Friseur-betriebe unterhalb der Mehrwertsteuer-grenze. Petri: „Das sind im besten Falle Einzelunternehmer, wobei ich mich fra-ge, was dabei unter dem Strich als Ge-winn herauskommt und wie so ein Betrieb funktionieren soll. Material, Miete, Ge-meinkosten und bei manchen fallen auch Personalkosten an. Wovon lebt der Ge-schäftsinhaber dann eigentlich?“

Kein Wunder, dass Zweifel an den Angaben der Betriebe laut werden. Zur Aufklärung arbeitet der Friseurverband in engem Kon-takt mit den Sozialbehörden: „Die Kran-ken- und Rentenversicherungsträger sind auch dahinter her, insbesondere, wenn die-se Betriebe auch noch Mitarbeiter/-innen beschäftigen.“ Die 17.500-Euro-Grenze sähe Petri gerne abgeschafft, denn dass hier mitunter Schwarzarbeit stattfindet, ist für ihn alles andere als ausgeschlossen. Doch mit jedem schwarz bedienten Kun-den, weiß er, sinkt der Umsatz der ande-ren Salons, die ihre Mitarbeiterinnen nach Tarif bezahlen. Besserung hinsichtlich der Kontrollen solcher Betriebe verspricht erst das am 1. Januar 2017 in Kraft tretende Gesetz für die Einzelaufzeichnungspflicht der Betriebe.

Allgemeinverbindlicher Mindestlohn

Verkehrte Welt: Weil durch die Dum-pinglöhne im Friseurhandwerk qualita-tiv hochwertige, besser zahlende Betriebe immer stärker unter Druck gerieten und einige von ihnen infolge preislicher Kon-kurrenzunfähigkeit ihre Läden schlie-ßen mussten, ergriffen Verbandsvertre-

ter die Initiative, um das Lohngefüge neu zu ordnen. Wilfried Petri: „Stundenlöh-ne unter vier Euro wie teilweise in Ost-deutschland wurden – zu Unrecht – der gesamten Branche unterstellt. Wunsch und Wille nach einem allgemeinverbind-lichen Mindestlohn waren deshalb in den meisten Betrieben vorhanden, um aus der Schmuddelecke herauszukommen.“ Dazu Gewerkschafterin Andrea Becker: „Weil der freie Fall der Löhne die guten Betriebe in Schwierigkeiten brachte, wollte der In-nungsverband dem Lohndumping einen Riegel vorschieben. Doch das gelingt nur durch allgemeinverbindliche Tarifverträge und dazu waren sie auf uns angewiesen.“

Mittlerweile haben sich die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), die Tarifgemeinschaft des Zentralverbands des Deutschen Friseurhandwerks und die Landesverbände über einen branchenwei-ten Mindestlohn für das Friseurhandwerk geeinigt. Demnach werden seit dem 1. Au-gust 2013 für Friseure im Westen 7,50 Euro, im Osten 6,50 Euro Mindestlohn gezahlt. Nach einer weiteren Erhöhung zum 1. Au-gust 2014 soll schließlich bis zum 1. August 2015 ein einheitlicher Mindestlohn für West und Ost von 8,50 Euro gezahlt werden. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat bereits signalisiert, den Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären.

Vorreiter war Nordrhein-Westfalen. Hier haben ver.di und Friseurverband einen ei-genen Tarifvertrag abgeschlossen. Der Un-terschied zum Bund: In den ersten beiden Jahren ist der NRW-Tarifvertrag für die Be-schäftigten günstiger, denn hier gelten seit dem 1. Oktober 2012 8,13 Euro und ab 1. Oktober 2014 8,32 Euro als Mindestlohn. Andrea Becker: „Ab 1. Oktober 2015 haben

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FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE

wir dann 8,51 Euro, aber über den bundes-weiten Tarifvertrag erreichen wir die 8,50 Euro schon ab 1. August 2015 und der gilt dann auch für NRW.“

Mit dem Mindestlohn aber gerät das Ta-rifgefüge im Friseurhandwerk durcheinan-der, denn der neue Tarifvertrag hebt die un-tersten Lohngruppen stark an, während die anderen etwa auf gleichem Stand verharren. Werden sich dann nicht die besser Qualifi-zierten beschweren? „Die Frage ist berech-tigt“, meint Wilfried Petri. „Als Arbeitge-bervertreter werden wir deshalb bei den nächsten Tarifverhandlungen wohl sagen: Wenn der Mindestlohn bei 8,50 Euro liegt und ein gut qualifizierter Geselle bei 8,70 Euro, dann müssen wir bei Letzterem jetzt mal am meisten tun, so dass im Zeitverlauf wieder eine stärkere Differenzierung herge-stellt wird.“ Das heißt, die Verbesserungen durch den Mindestlohn schlagen auf mitt-lere Sicht auch auf die höheren Lohngrup-pen durch? „Ja, das wird wohl so kommen, denn als gut Qualifizierter würde ich mich auch dagegen wehren, fast das gleiche Geld zu bekommen wie jemand, der fast gar nicht qualifiziert ist.“

Andrea Becker wiegelt ab: „So weit sind wir noch nicht, da ist noch nicht das letz-te Wort gesprochen. Ich bin ausdrücklich dafür, dass wir die Löhne im Bereich der qualifiziert Beschäftigten deutlich anhe-ben, aber nicht zulasten der unteren Lohn-gruppen.“ Sie lenkt den Blick vor allem auf die Tatsache, „dass wir erstmalig An- und Ungelernte in den Tarifvertrag aufgenom-men haben. Damit ist dem Lohndumping im Bereich der Helferinnen und Helfer endlich ein Ende gesetzt!“ Das heißt zu-gleich: Betriebe, die acht Euro pro Stun-de an Lohn zahlen müssen, können für

einen Haarschnitt nicht länger nur zehn Euro verlangen. Sie müssen die Preise er-höhen und – wenn die Kunden ausbleiben – das Geschäft schließen. Bedauern wür-den das weder Verbandschef Petri noch Gewerkschafterin Becker: „Wer keine ordentlichen Löhne zahlt, hat auf dem Markt nichts zu suchen!“

Strategien zur Imageverbesserung

Mit dem neuen Tarifvertrag erwartet der Verbands-Geschäftsführer einen Image-gewinn für das Friseurhandwerk. Doch damit allein ist es in seinen Augen nicht getan. Notwendig ist eine Marketingkam-pagne: „Viele mittelständische Friseur-Un-ternehmen stört es nicht, wenn neben ihnen ein Billiganbieter sein Geschäft eröffnet, weil sie sich sagen: Meine Kunden gehen da nicht hin, denn die wollen keine Fließ-bandabfertigung, sondern erwarten über den Haarschnitt hinaus auch einen Ser-vice, eine Zeitung hier, ein Schwätzchen dort. Die Friseurinnen und Friseure beherr-schen ja nicht einfach nur ihr Handwerk, ihre Technik. Vielmehr sind die Mitarbei-terinnen oft Ansprechpartnerinnen auch in anderen Belangen. Viele Kundinnen und Kunden entscheiden sich für einen be-stimmten Salon, speziell deshalb, weil da ihre Friseurin arbeitet. Da entstehen Ver-trauensverhältnisse und persönliche Bezie-hungen. Betriebsinhaber/-innen leiden da-runter, wenn eine tolle Kraft weggeht und in der Regel ihre Kunden mitzieht. Will sa-gen: Eine hochwertige Leistung inklusive Service kann man nicht für fünf Euro er-bringen, aber diesen Service müssen die Betriebe auch kommunizieren. Marke-ting wird deshalb eine immer wichtigere Rolle spielen.“

Dazu hat sich etwa in Düsseldorf „Der faire Salon“ konstituiert, eine Initiative für das Friseurhandwerk. In dieser Wer-tegemeinschaft, heißt es in deren Selbst-darstellung, „haben sich aktuell 454 Fri-seurunternehmen aus ganz Deutschland zusammengeschlossen und stellen im Sinne einer neuen Wirtschaftsethik den Menschen in den Mittelpunkt ihres Schaf-fens. Sie folgen damit dem Kodex für Fri-seure in Europa, der unter Mitwirkung der EU erarbeitet wurde – für ein besse-res Miteinander zwischen Unternehmen, Mitarbeitenden und Kundinnen und Kun-den. Sie verpflichten sich bestimmte Krite-rien einzuhalten: Fairness zu Kunden und Mitarbeitern, ausreichende Behandlungs-zeit, ehrliche Beratung, ständige Weiter-bildung und lebenslanges Lernen zuguns-ten besserer Qualität, die ausschließliche Verwendung ökologisch und dermatolo-gisch geprüfter Produkte und – mit Blick auf das Allgemeinwohl: Steuerehrlichkeit und faire Löhne.“

Darüber hinaus gibt es – „aus Image-gründen“ – schon heute Initiativen ein-zelner Innungen, die gemeinsam mit den örtlichen Arbeitsagenturen „Tage der of-fenen Tür“ als Benefizveranstaltungen für arbeitslose Personen organisieren, die sich nicht so leicht einen schicken Haar-schnitt leisten können. Sie erhalten dann kostenlos eine modische Frisur. Mit dabei ist immer ein Fotograf, der den Arbeits-losen von den Veranstaltern finanzierte professionelle Fotos liefert – für ihre Be-werbungsschreiben. „Vielleicht“, so Ver-bandschef Wilfried Petri, „bewirbt sich ja aufgrund der neuen, attraktiveren Min-destlöhne die eine oder der andere von ih-nen auch im Friseurhandwerk!“

AUTOREN

Paul Pantel, Tel.: 02324 239466, E-Mail: [email protected]

Manfred Keuler, Tel.: 02041 767-152, E-Mail: [email protected]

KONTAKTE

Wilfried Petri

Friseur- und Kosmetikverband NRW

Deggingstraße 16, 44141 Dortmund

Tel.: 0231 527615

E-Mail: [email protected]

Andrea Becker

ver.di NRW

Besondere Dienstleistungen

Karlstraße 123 – 127, 40210 Düsseldorf

Tel.: 0211 61824-390

E-Mail: [email protected]

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Trotz Wirtschaftswachstum und Abbau der Arbeitslosigkeit – seit 2005 von fast

5 Mio. auf heute unter 3 Mio. – stagnieren die Reallöhne bzw. sind in manchen Be-

reichen sogar rückläufig. Die Lohnspreizung zwischen den Branchen nimmt zu

und Niedriglöhne halten sich hartnäckig bzw. breiten sich sogar aus – vor allem

im Dienstleistungsbereich. Die G.I.B. hat am 25. April 2013 in Düsseldorf im Rah-

men der Landesinitiative „Faire Arbeit – Fairer Wettbewerb“ ein „Forum Lohn-

entwicklung“ organisiert und das Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Uni-

versität Duisburg-Essen beauftragt, eine Studie zur Verdienstentwicklung in

Deutschland zu erstellen. Die folgenden Ausführungen stützen sich sowohl auf

die IAQ-Studie als auch auf weitere Veröffentlichungen.

Zur Entwicklung der Löhne und

des NiedriglohnsektorsDatenquellen im Vergleich

Die Niedriglohnschwelle wird meist nach von der Organisation für Wirtschaft-liche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) international angewendeten Krite-rien errechnet. Demnach gilt das Bruttomo-natsentgelt von sozialversicherungspflich-tig Vollzeitbeschäftigten als Niedriglohn, wenn es weniger als zwei Drittel des Me-dians aller erfassten Bruttomonatsent-

gelte von Vollzeitbeschäftigten beträgt. Der Median für die Monatsverdienste in Westdeutschland für 2011 wurde jüngst auf 2.835 Euro beziffert und damit eine (West-) Niedriglohnschwelle auf 1.890 Euro (Quelle: Bundesagentur für Arbeit). Für NRW ergeben sich daraus 893.000 sozialversicherungspflichtige Vollzeitbe-schäftigte unter der Niedriglohnschwelle.

Das Institut Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen beziffert mit der von ihm gewählten Berechnungs-methode die auf eine Arbeitsstunde bezo-genen Niedrig-Stundenlohnschwellen 2010 auf 9,54 Euro West, 7,04 Euro Ost und 9,15 Euro Deutschland gesamt. Angaben aus ver-schiedenen aktuellen Studien zum Niedrig-lohnsektor aus den Jahren 2011 und 2012 wurden vom IAQ verglichen (IAQ: Daten-quellen im Vergleich Mai 2013). Im Ergeb-nis zeigte sich ein Niedriglohnanteil zwi-schen 20,6 % und gut 23 %.

Das obige Ergebnis korrespondiert auch mit Zahlen, die im Dezember 2012 von Eurostat vorgelegt wurden. Danach weist Deutschland mit 22,2 % einen im europä-ischen Vergleich hohen Niedriglohnanteil auf (EU-Durchschnitt 17 %). Es wurden Betriebe mit 10 und mehr Beschäftigten einbezogen. In Ländern mit hoher Tarif-bindung wie Dänemark, Finnland und Schweden sind prozentual weitaus weni-ger Menschen unter Niedriglohnbedin-gungen beschäftigt.

Die OECD-Niedriglohnschwelle (2/3 des Medians) ist in der international verglei-chenden Diskussion ein gut eingeführtes Modell und ein wichtiger Indikator für Verteilungsgerechtigkeit – nicht mehr und nicht weniger.

Die Grenze ihrer Aussagekraft kann aber an folgender Überlegung verdeutlicht wer-den: Würden alle Löhne in einem Land ver-doppelt, bliebe die Niedriglohnquote, der Prozentsatz der Niedriglöhner, gleich. Die Einführung eines gesetzlichen Mindest-lohns von 8,50 Euro in Deutschland wür-de weder die Niedriglohnschwelle noch die Niedriglohnquote verändern.

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FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE

Aus diesem Grund müssen in der aktu-ellen politischen Debatte in Deutschland um angemessene Mindestlöhne und Auf-stockungsbedarfe auch andere Schwellen-werte betrachtet werden. Hier geht es um die besonders problematischen, oft auch bei Vollzeiterwerbstätigkeit nach SGB II aufstockungsbedürftigen Entgelte unter 5 Euro, unter 6 Euro, unter 7 Euro und un-ter 8,50 Euro. Eine wichtige Frage ist, wie viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter diesen Schwellen liegen und demzu-folge von einem gesetzlichen Mindestlohn von z. B. 8,50 Euro profitieren würden.

Tarifverdienste: Dynamik lässt nach

Die erste Unterscheidung muss zwischen den Tarif- und den Effektivverdiensten erfolgen. Die Tarifverdienste sind außer-ordentlich transparent. Sowohl das WSI-Tarifarchiv als auch die Tarifregister des Bundes und der Länder registrieren sämt-liche in Deutschland geschlossenen Tarif-verträge („Haustarifverträge“ zwischen Gewerkschaften und einem Unternehmen und „Flächentarifverträge“ zwischen Ge-werkschaften und Unternehmerverbänden) und werten diese aus. Das Tarifregister des NRW-Arbeitsministeriums hat die Tarif-lohnentwicklung der 22 Jahre von 1990 bis 2012 in 50 Branchen des Landes un-tersucht. Was dabei auffällt, ist eine deut-liche Verschlechterung im Zeitraum 2000 bis 2012.

In den Jahren 1990 bis 2000 war der Zuwachs bei den preisbereinigten Tarif-verdiensten noch zufriedenstellend. Es gab nirgendwo Reallohnverluste und die Beschäftigten konnten in den meisten Bereichen am wachsenden Wohlstand

teilhaben. Die realen (preisbereinigten) Steigerungsraten lagen in jenen Jahren zwischen 37,0 Prozent (Einzelhandel) und 2,8 Prozent (Elektrohandwerk).

Im darauf folgenden Zeitraum von 2000 bis 2012 stiegen die preisbereinigten Ta-rifverdienste in NRW insgesamt nur um bescheidene 4,9 %. Zum Vergleich: Nach Angaben des WSI-Tarifarchivs (Quelle: Böckler-Impuls 02/2013) lagen die preis-bereinigten Tarifverdienste 2012 bundes-weit um 6,9 % höher als 2000. NRW hat gegenüber dem Bundesdurchschnitt Bo-den verloren. Nur wenige Branchen wei-sen in NRW nennenswerte Steigerungen aus. Spitzenreiter ist die Metall- und Elek-troindustrie mit einem realen Plus von 20,1 %. Es folgt die Nährmittelindustrie mit insgesamt plus 13,9 % vor der Che-mischen Industrie mit plus 13,5 %. Ne-gativer Spitzenreiter ist das Augenoptiker-handwerk mit einem Minus von 11,4 %, gefolgt vom Fleischerhandwerk mit einem Minus von 9,3 %.

Effektivverdienste

Von den Tarifverdiensten kann nicht auf alle tatsächlich gezahlten Löhne geschlos-sen werden. Dies liegt in erster Linie da-ran, dass die „Tarifbindung“, das heißt, der Anteil der Beschäftigten, die in Be-trieben mit einem Branchentarif arbeiten, auf 53 % West und 36 % Ost gesunken ist (Quelle: Peter Ellguth, Susanne Ko-haut, Tarifbindung und betriebliche In-teressenvertretung. Ergebnisse aus dem IAB-Betriebspanel 2012. WSI-Mittei-lungen 4/2013). Nicht tariflich gebun-dene Betriebe zahlen in aller Regel we-niger als tariflich vereinbart. Aber wie viel weniger?

Informationen zu den Effektivverdiensten liefern:

• die Entgeltstatistik der Bundesagentur für Arbeit als Vollerhebung aller sozi-alversicherungspflichtigen Entgelte. Die gewonnenen Informationen sind überaus präzise. Da den Meldungen der Betriebe aber keine Arbeitszeitinformationen zu-geordnet sind, können keine Stundenlöh-ne ermittelt werden. Die Erfassung der Entgelte wird der Höhe nach auf dem Niveau der Beitragsbemessungsgrenze zur Rentenversicherung abgeschnitten, derzeit 5.800 € pro Monat.

• die vierteljährlichen Verdiensterhe-bungen (VVE) und die in 4-jährigen Abständen durchgeführten Verdienst-strukturerhebungen (VSE) der amtlichen Statistik (Statistisches Bundesamt und statistische Landesämter). Dabei han-delt es sich um Stichproben, bei denen eine große, repräsentative Zahl von Be-trieben die gesetzliche Verpflichtung er-füllt, Informationen über Verdienste und Arbeitszeiten zu liefern. Bei der Zahl von 40.000 (VVE) bzw. knapp 30.000 (VSE) teilnehmenden Betrieben sind die Ergebnisse ebenfalls sehr genau. Ihre Aussagekraft im unteren Stundenlohn-bereich leidet aber unter der Einschrän-kung, dass Betriebe mit weniger als 10 Beschäftigten, bei denen im Allgemei-nen stark unterdurchschnittlich bezahlt wird, in den Stichproben nicht enthalten sind. Dadurch wird der Niedriglohnbe-reich unterschätzt.

• die volkswirtschaftliche Gesamtrech-nung des Bundes (VGR). Die Daten der VGR werden ihrerseits aus einer Vielzahl von Daten zusammengefügt, vorrangig

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auch aus der VVR und der VSE. Somit ist die VGR keine eigene Erhebung, wird aber häufig in der wissenschaftlichen Diskussion herangezogen. Die VGR-De-finition der Bruttolöhne und -gehälter ist sehr umfassend; sie enthält u. a. alle Arten von Zuschlägen, vermögenswirk-samen Leistungen, Fahrtkostenzuschüs-sen sowie Sachleistungen wie Dienst-wagen. Da die VGR auch Angaben zur Entwicklung der Arbeitsproduktivität enthält, wird sie häufig herangezogen, wenn es um die Gegenüberstellung von Arbeitsproduktivität und Löhnen geht.

• das sozioökonomische Panel (SOEP), eine jährlich durchgeführte Befragung einer repräsentativen Auswahl von ca. 12.000 Haushalten mit ca. 21.000 Per-sonen. Die Haushaltsmitglieder werden nach einer Vielzahl von Tatbeständen be-fragt, die ihre Erwerbstätigkeit betreffen – etwa danach, ob sie in Vollzeit, Teil-zeit oder geringfügig beschäftigt sind, in welchem Wirtschaftszweig sie tätig sind oder wie viele Mitarbeiter/-innen ihr Betrieb hat. Erfragt werden auch die Wochenstunden sowie das monatliche Erwerbseinkommen. Aus diesen beiden Informationen werden die Stundenlöh-ne berechnet (Quelle: Karl Brenke und Karl-Uwe Müller, Gesetzlicher Min-destlohn – kein verteilungspolitisches Allheilmittel, DIW-Wochenbericht Nr. 39.2013, S. 5). Das SOEP ist als Daten-basis für Analysen der Lohnentwicklung und insbesondere des Niedriglohnsek-tors gut eingeführt und unumstritten. Bei tiefer gegliederten Auswertungen, etwa nach einzelnen Bundesländern, ein-zelnen Branchen oder bestimmten Be-schäftigtengruppen können die vorhan-denen Fallzahlen eine kritische Schwelle unterschreiten.

Wie haben sich die Effektivver-dienste entwickelt?

Während bei den Tarifverdiensten immer-hin ein leichtes Plus zu verzeichnen war, gibt die Entwicklung der Effektivverdienste Anlass zu großer Besorgnis. Der Reallohn-index (preisbereinigte Bruttomonatsver-dienste je Arbeitnehmer/-in – vor Steuern und Sozialabgaben) ist im Zeitraum von 2000 bis 2012 gesunken: Bundesweit be-trug der Rückgang in diesem 12-Jahres-zeitraum 0,4 %, in NRW sogar 1,8 %.

Betrachtet man den Zeitraum von gut 20 Jahren zwischen 1991 und 2012, so ergibt sich bundesweit immerhin noch ein be-scheidener Zuwachs von 3,1 %, der aber allein auf die noch etwas günstigere Ent-wicklung in der ersten Dekade zurückzu-führen ist (Quelle: Statistisches Bundesamt, Verdienste und Arbeitskosten, Reallohn-index und Nominallohnindex, Wiesba-den, 4.7.2013).

Zum Vergleich: Im Zeitraum von 1991 – 2011 stieg die Arbeitsproduktivität je Er-werbstätigen um 22,7 % (Quelle: Statisti-sches Bundesamt, Pressemeldung Nr. 149 vom 30.4.2012). Von 2000 bis 2012 stieg die Stundenproduktivität der Arbeitnehmer dreimal so stark an wie die preisbereinigten Bruttostundenlöhne (Quelle. Brenke und Müller, DIW-Wochenbericht 39.2013).

Niedrige Stundenlöhne in NRW nach der amtlichen Statistik (VVE)

Während bisher SOEP die einzige Da-tenbasis darstellte, die eine Auswertung von Niedriglöhnen auf Stundenlohnba-sis ermöglichte, wurden auf dem „Forum Lohnentwicklung“ von IT.NRW erstmals

Zahlen für Stundenlöhne in NRW aus der vierteljährlichen Verdiensterhebung vorge-legt. Danach sind die untersten vier Stun-denlohnstufen (<5, <6, <7 und <8 Euro) um den Faktor 2 bis 5 schwächer besetzt als nach SOEP. Unter 8,50 Euro liegen nach SOEP 18,4 % (siehe Tab. 1) und nach VVE 11,5 % der Beschäftigten. Als vorläufige Erklärung soll hier Folgendes zur Diskus-sion gestellt werden:

Während die im Rahmen von SOEP be-fragten Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer ihre tatsächliche Arbeitszeit angeben, darunter auch die eventuell unentgeltlich geleistete, wird im Rahmen der VVE die tarifvertragliche oder arbeitsvertragliche Arbeitszeit übermittelt. Dieser Unterschied wirkt sich unmittelbar bei der Ermittlung des Stundenlohns aus. Dass die vertraglich vereinbarte und bezahlte Arbeitszeit unter der tatsächlich anfallenden Arbeitszeit lie-gen kann, ist durch eine Vielzahl von Berich-ten aus dem Einzelhandel, dem Hotel- und Gaststättengewerbe und der Gebäudereini-gung bekannt. Bei Teilzeitbeschäftigten im Einzelhandel fällt z. B. der Faktor „Vor- und Nacharbeit“ besonders ins Gewicht. Bei der Zimmer- und Flächenreinigung sind Berichte über mengenmäßige Vorgaben bekannt geworden, die innerhalb der ver-einbarten und bezahlten Arbeitszeit nicht erfüllt werden können. Zusätzlich muss be-rücksichtigt werden, dass die VVE-Daten Betriebe unter 10 Beschäftigten ausklam-mern und damit der Niedriglohnsektor un-zureichend erfasst wird.

Niedriglohnbeschäftigung nach effektiven Stundenlöhnen im Zeitverlauf

Bei der Betrachtung der Niedriglohnbe-schäftigung im Zeitverlauf müsste man ver-

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muten, dass die Beschäftigten mit der allge-meinen Nominallohnentwicklung aus den untersten Stundenlohnstufen „herauswach-sen“. Dies wird von den Daten des sozioö-konomischen Panel (SOEP) so nicht bestä-tigt. Der SOEP-Datensatz weist aus, dass sich im Zeitverlauf am Anteil der Beschäf-tigten in den einzelnen Stundenlohnstufen wenig geändert hat. Offenbar konnten die Beschäftigten im untersten Einkommens-bereich noch nicht einmal nominale Lohn-steigerungen verzeichnen. Sie haben heute real um über 20 % geringere Verdienste als noch Mitte der 1990er Jahre.

Geringfügige Beschäftigung als Schwerpunkt des Niedriglohnbe-reichs unter 8,50 Euro pro Stunde

Bundesweit gibt es rund sieben Millionen geringfügig Beschäftigte, in NRW 1,7 Mil-lionen. Gestützt auf Zahlen aus der VSE 2006 haben Bosch und Weinkopf gezeigt (Quelle: WSI-Mitteilungen 9/2011), dass die „atypischen“ Beschäftigungsverhält-nisse (Teilzeit, befristete und geringfügige Beschäftigung) ein viermal so hohes Nied-riglohnrisiko (unter 9,85 Euro pro Stunde) tragen als das Normalarbeitsverhältnis.

Wertet man die aktuellen vierteljährlichen Verdiensterhebungen (VVE) für NRW aus und legt die Schwelle bei 8,50 Euro pro Stunde an, so ist das Ergebnis noch ex-tremer: Während nur 4,2 % der Vollzeit-beschäftigten weniger als 8,50 Euro ver-dienen, sind es 64,2 % der geringfügig Beschäftigten in NRW, die unter dieser Schwelle liegen (siehe Tab. 2).

Bei rechtskonformer Gestaltung von Mini-jobs, vor allem bei Beachtung des Prinzips „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, wäre diese Arbeitsvertragsform für den Arbeit-geber teurer als sozialversicherungspflich-tige Arbeit. Es rechnet sich nur, wenn die Vergütung drastisch abgesenkt wird – mit allen negativen Konsequenzen für das be-triebliche Lohngefüge.

Derzeit ist absehbar, dass in der gegenwär-tigen 18. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags ein gesetzlicher Mindestlohn in der einen oder anderen Form eingeführt wird. Von dessen Höhe, Differenzierung, und vielleicht stufenweiser Einführung wird es abhängen, wie schnell und nach-haltig die Fehlentwicklungen im unteren Lohnbereich abgemildert werden. Die Lö-sung des Problems ist davon nicht zu er-warten. Dazu bedarf es weiterer Re-Regu-lierung, wie zum Beispiel bei den Minijobs, der Leiharbeit und den Werkverträgen.

1996 – 1999 2000 – 2003 2007 2008 – 2011 2011

Unter 5€ 5,2 % 5,5 % 4,2 % 4,9 % 4,6 %

Unter 6€ 8,2 % 7,9 % 6,3 % 8,2 % 7,7 %

Unter 7€ 11,0 % 11,3 % 9,0 % 12,0 % 12,5 %

Unter 8€ 15,2 % 15,7 % 12,7 % 16,3 % 18,1 %

Unter 8,50€ 17,5 % 18,1 % 18,4 % 20,4 %

Unter Niedriglohnschwelle 19,1 % 23,2 % 25,4 %

Quelle: IAQ Dezember 2008 und Februar 2013

Tabelle 1: Anteil der Beschäftigten mit niedrigen Stundenlöhnen im Zeitverlauf (abhängig Beschäftigte, inkl. Teilzeit und Minijobs, in %), NRW

Personengruppen Anteil an allen in %

Anteil an allen mit < 8,50 in %

< 8,50 Anteil in Gruppe in %

Vollzeit 69,3 25,1 4,2

davon Frauen 20,0 10,7 6,1

Männer 49,3 14,4 3,4

Teilzeit 20,6 18,4 10,2

davon Frauen 17,4 13,0 8,5

Männer 3,2 5,4 19,3

Geringfügig Beschäftigte 10,1 65,5 64,2

davon Frauen 6,4 36,5 65,6

Männer 3,7 20,0 61,8

Quelle: VVE; Präsentation Lars Stegenwaller, Forum Lohnentwicklung 25.4.2013Lesehilfe: Geringfügig Beschäftigte machen 10,1 % der Gesamtzahl der Beschäftigten aus, aber 65,5 % aller Beschäftigten mit weniger als 8,50 Euro pro Stunde. 64,2 % der geringfügig Beschäftigten verdienen weniger als 8,50 Euro pro Stunde.

Tabelle 2: Niedriglohn nach Arbeitsvertragsform in NRW

AUTOR

Karl Feldengut

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Tel.: 0211 4229025

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Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns war bei den Koalitionsverhandlungen eine der strittigsten Fragen. Zum 1. Januar 2015 wird nun ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro brut-to je Zeitstunde für das ganze Bundesgebiet eingeführt. Es wird Ausnahmen geben, auch Übergangsfristen. Aber spätestens zum Januar 2017 gilt das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau uneingeschränkt. Wa-rum das Thema in Deutschland so kontrovers diskutiert wurde und wie andere europäische Länder den Min-destlohn regeln, darüber sprach die G.I.B. mit dem Tarifexperten Dr. Thorsten Schulten vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut in der Hans-Böckler-Stiftung. Schulten ist Referent für Arbeits- und Tarifpolitik in Europa und Mitglied der Kommission, die die NRW-Landesregierung beim Mindestlohn für die öffentliche Auftragsvergabe berät.

zeigen deutlich: Je niedriger das Einkommen, desto unwahrscheinlicher ist es, dass für die Beschäftigten ein Tarifvertrag gilt.

In Europa reichen die Tarifbindungsraten von 95 Pro-zent in Österreich bis hin zu unter 20 Prozent in eini-gen osteuropäischen Ländern. Deutschland liegt da-mit unter 60 Prozent etwa in der Mitte. Wenn man aber Osteuropa außer Acht lässt und sich nur Westeu-ropa und die alte EU anschaut, befindet sich Deutsch-land ganz unten auf der Skala und wird nur noch von Großbritannien untertroffen. Dort ist die Tarifbindung schon in den 1980er Jahren unter Margret Thatcher in den Keller gegangen. Ganze Flächentarifverträge sind zerschlagen worden und Tarife werden fast nur noch dezentral verhandelt. Also abgesehen vom Son-derfall Großbritannien und eben Deutschland haben die meisten westeuropäischen Länder zumindest bis zum Ausbruch der Krise 2008/2009 relativ stabile Systeme und eine hohe Tarifbindung um die 80 bis 90 Prozent. Warum ist das so?

In Skandinavien liegt das an einem sehr hohen ge-werkschaftlichen Organisationsgrad. In anderen Ländern wie den Niederlanden oder Frankreich, wo der Organisationsgrad ähnlich niedrig wie in Deutschland oder sogar niedriger ist, greifen staat-liche Formen der Unterstützung, insbesondere über das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung, kurz AVE. In den Niederlanden wird zum Beispiel so gut wie jeder relevante Branchentarifvertrag für allgemein verbindlich erklärt, und zwar nicht nur für die untersten Lohngruppen, sondern für die ge-samte Lohntabelle. Auch die Arbeitgeber unterstüt-

„Die Gesellschaft muss sich verständigen,

was ein angemessener Lohn ist“

G.I.B.: Von 28 EU-Staaten haben 21 einen gesetz-lichen Mindestlohn. Deutschland gehörte bis vor Kurzem noch nicht dazu. Können Sie die Situation der Mindestlohnsicherung im europäischen Kontext für uns einordnen? Dr. Thorsten Schulten: Die sieben EU-Staaten ohne allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn sind die skan-dinavischen Länder, Österreich, Italien und Zypern – und eben Deutschland. Diese Länder haben zumeist ein relativ gut entwickeltes Tarifvertragssystem, zwi-

schen 80 und 90 Prozent der Beschäftigten unter-liegen hier Tarifverträgen und die Mindestlohnsi-cherung funktioniert dementsprechend weitgehend über die Tarifverträge. In Deutschland sind hinge-gen die einst hohen Tarifbindungsraten seit Anfang der 1990er Jahre kontinuierlich zurückgegangen. Das Tarifsystem erodiert in vielen Branchen, mit dem Er-gebnis, dass es immer weniger Tarifverträge gibt oder diese nicht mehr erneuert werden. Das ist der Hin-tergrund der Mindestlohndebatte in Deutschland. Mittlerweile werden weniger als 60 Prozent der Be-schäftigten in Deutschland durch einen Tarifvertrag erfasst. Das heißt, ein großer Teil fällt durch das Sys-tem, und zwar vor allem in den Branchen, die zum klassischen Niedriglohnsektor gehören. Die Daten

Das Tarifsystem erodiert in vielen Branchen,

mit dem Ergebnis, dass es immer weniger

Tarifverträge gibt oder diese nicht mehr

erneuert werden.

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FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE

G.I.B.INFO 4 13

zen diese Form der Tariffestlegung, weil AVE eine verlässliche Wettbewerbsordnung schaffen und ga-rantieren, dass Konkurrenten die gleichen Lohnsät-ze zahlen müssen. Irrationale Formen der Konkur-renz, wo die Lohnspirale immer weiter nach unten geht, werden so effektiv verhindert.

G.I.B.: Wie kommt es, dass sich Arbeitgeber in den Niederlanden beim Thema AVE so anders verhalten als in Deutschland? Dr. Thorsten Schulten: Es sind eher die deutschen Ar-beitgeber, die in Europa die Ausnahme bilden. Insbe-sondere der Dachverband, die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), hat eine sehr starre ideologische Position und lässt die AVE nur als absolutes Ausnahmeinstrument gelten, obwohl es ja durchaus Branchen gibt, die dem weniger reserviert gegenüberstehen. Erklären lässt sich das auch dadurch, dass die BDA sehr stark von exportorientierten Bran-chen dominiert ist. Für binnenorientierte Branchen hat die AVE natürlich eine viel wichtigere Ordnungs-funktion als für Unternehmen, die sich um den glo-balen Wettbewerb kümmern müssen.

G.I.B.: Eine zentrale Frage bei der Einführung eines Mindestlohns ist die Höhe. Was können wir da von den europäischen Nachbarn lernen? Dr. Thorsten Schulten: Die Höhe des Mindestlohns ist in Europa sehr unterschiedlich und spiegelt das allge-meine Lohn- und wirtschaftliche Entwicklungsniveau der Länder wider. Eine Orientierung bieten Länder, die vom Niveau vergleichbar mit Deutschland sind, also etwa Frankreich und die Beneluxstaaten. Dort liegen die Mindestlöhne derzeit bei 9 bis 9,50 Euro. Warum sollte das nicht auch in Deutschland möglich sein? An-dere Länder haben ein deutlich niedrigeres Niveau. In Südeuropa bewegt sich der Mindestlohn zwischen 3 und 4,50 Euro, in Osteuropa zwischen 1 und 2 Euro, aber das ist ja nicht mit Deutschland vergleichbar.

G.I.B.: Was sind für Sie Kriterien, um eine angemes-sene Lohnuntergrenze festzulegen?Dr. Thorsten Schulten: Ein Mindestlohn muss aus mei-ner Sicht die Existenzsicherung für einen Arbeitneh-

mer gewährleisten. Weitere Aufstockungsleistungen sollten nicht mehr notwendig sein. Natürlich gibt es da regionale Unterschiede, weil auch die Kosten für die Unterkunft regional verschieden sind. Für Düs-seldorf haben wir einen Stundenlohn von 9,40 Euro ausgerechnet. Das ist für mich eine adäquate Unter-grenze. Das Kriterium der Existenzsicherung lässt sich natürlich auch auf die Rente ausweiten: Was müsste jemand verdienen, um nach 45 Jahren eine

Rente oberhalb der Grundsicherung zu erhalten? Da liegen wir dann schon bei einem Mindestlohn ober-halb von 10 Euro. Nimmt man die Europäische So-zialcharta, die in Artikel 4 ein Recht auf ein faires Entgelt garantiert, wäre man sogar bei 12 Euro. Die Gewerkschaften fordern 8,50 Euro. Das ist als Ein-stieg denkbar, um den Unternehmen erst einmal Mög-lichkeiten für eine Anpassung zu geben. 8,50 Euro ist aber immer noch ein Armutslohn. Ein existenzsi-chernder Mindestlohn geht in Richtung 9,50 bis 10 Euro. Bei dieser Marge befände sich Deutschland im Einklang mit anderen westeuropäischen Partnern, in-sofern scheint mir das sinnvoll.

G.I.B.: Wie einigen sich andere europäische Länder auf einen Mindestlohn? Dr. Thorsten Schulten: Idealtypisch gibt es vier Model-le, wobei auch Mischformen existieren. Das einfachste Modell ist, die Regierung setzt den Mindestlohn fest, wie in den USA. Das ist eher untypisch in Europa, hat sich jetzt aber in der Krise zum Beispiel in Griechenland etabliert. Der Regelfall in Europa sind Verhandlungs-modelle. In Belgien zum Beispiel handeln Gewerkschaf-ten und Arbeitgeberverbände einen Mindestlohn aus.

Auch die Arbeitgeber unterstützen

Allgemeinverbindlicherklärungen, weil sie

eine verlässliche Wettbewerbsordnung

schaffen und garantieren, dass Konkurrenten

die gleichen Lohnsätze zahlen müssen.

Dr. Thorsten Schulten, Wirtschafts- und Sozialwissen-

schaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung

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In einigen osteuropäischen Ländern kommt der Staat als dritter Verhandlungspartner hinzu. Gibt es keine Einigung, legt die Regierung den Mindestlohn fest.

Eine dritte Form sind mehr oder weniger ausgeprägte institutionelle Konsultationen, also Kommissionen, die Empfehlungen abgeben. In Frankreich ist das zum

Beispiel die Nationale Tarifkommission, für die deut-sche Debatte interessant ist das britische Modell mit der „Low Pay Commission“. Diese Kommission aus Arbeitgebern, Gewerkschaften und Wissenschaftlern unterbreitet der Regierung einen Vorschlag, wie der Mindestlohn anzuheben ist, und die Regierung folgt dem in der Regel auch.

Darüber hinaus gibt es insbesondere in den Benelux-ländern, Frankreich und Slowenien zusätzlich eine In-dexierung der Mindestlöhne. Das ist eine garantierte automatische Mindestanpassung an die Preissteige-rung, an die durchschnittlichen Tariflöhne oder eine Mischung aus beidem. Die Politik hat dabei Spielraum nach oben, kann also noch höher gehen. In den Nie-derlanden gibt es auch den umgekehrten Fall, da kann die Regierung in Krisensituationen die Mindestan-passung aussetzen, und das ist auch schon passiert.

G.I.B.: Welches Modell bietet sich für Deutschland an? Dr. Thorsten Schulten: In der aktuellen Debatte kon-kurrieren folgende Positionen: Die CDU schlägt eine Lohnuntergrenze vor, die in einer Kommission aus Ar-beitgebern und Gewerkschaften ohne Beteiligung der Politik vereinbart und festgelegt wird. Diese Lohnun-tergrenze soll weiter differenziert werden können nach

Regionen, Branchen, Berufsgruppen, Altersgruppen etc. und nur dort gelten, wo es bislang keine Tarif-verträge gibt. Dass sich dieser Vorschlag durchsetzt, halte ich für unwahrscheinlich. Die Vorstellungen von SPD, Grünen und teilweise auch der Linken ori-entieren sich am britischen Modell, also der Low Pay Commission. Allerdings soll das Ergebnis der Kom-mission nicht verbindlich sein, sondern nur eine Emp-fehlung. Die Entscheidung fällt am Ende die Politik.

Ein möglicher Kompromiss ist das Modell, das die thüringische Landesregierung 2012 in den Bundesrat eingebracht hat. Auch hier verhandelt eine Kommis-sion aus Arbeitgebern und Gewerkschaften die Höhe des Mindestlohns, die Politik hat keinen Einfluss. Im Unterschied zum CDU-Modell soll der Mindestlohn flächendeckend für ganz Deutschland und alle Bran-chen gelten. Charmant ist dabei, dass sich SPD und CDU in der großen Koalition in Thüringen schon auf diesen Vorschlag geeinigt haben. Ich sehe allerdings zwei Probleme: Zuerst, welches Interesse sollten Ar-beitgeber in dieser Kommission haben, einen Min-destlohn auszuhandeln, wo sie das doch für Teufels-zeug halten? Kommt es zu keiner Einigung, soll ein Schlichter entscheiden. Das heißt, in diesem gar nicht so unwahrscheinlichen Fall hängt die Höhe des gesetz-lichen Mindestlohns in Deutschland von einer ein-zigen Schlichterperson ab. Das finde ich abenteuerlich.

G.I.B.: Was für ein Modell würden Sie denn favori-sieren?Dr. Thorsten Schulten: Ich finde es sinnvoll, Gewerk-schaften, Arbeitgeber und vielleicht auch Wissenschaft-ler mit einzubeziehen, würde so eine Kommission aber auch nicht überhöhen. Jede einzelne Gruppe ist von Interessen geleitet, selbst die Wissenschaftler sind in ihrem eigenen Modelldenken gefangen. In Großbri-tannien funktioniert die Low Pay Commission, weil die beteiligten Wissenschaftler gegenüber dem Min-destlohn aufgeschlossen sind. In Deutschland lehnt ihn dagegen ein Großteil der Ökonomen immer noch vehement ab. Wichtiger als die Zusammensetzung ei-ner Kommission ist für mich, dass die Politik den Min-destlohn am Ende entscheidet und verantwortet. Ein

Die „Low Pay Commission“ aus Arbeitgebern,

Gewerkschaften und Wissenschaftlern

unterbreitet der Regierung einen Vorschlag,

wie der Mindestlohn anzuheben ist, und die

Regierung folgt dem in der Regel auch.

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G.I.B.INFO 4 13

gesetzlicher Mindestlohn ist eben etwas anderes als ein Tariflohn, er greift vor allem da, wo Tarifverträ-ge nicht funktionieren oder zu niedrig ansetzen. Für wichtig halte ich außerdem eine gesellschaftliche De-batte und Verständigung über die Frage, was ein an-gemessener Lohn ist. Das sollte nicht in irgendwelchen Hinterzimmern ausgehandelt werden. Auch eine Min-destanpassung durch eine Indexierung an die Preis- und Lohnentwicklung finde ich sinnvoll.

G.I.B.: Sie sind beteiligt an dem beratenden Ausschuss, der nach dem Tariftreuegesetz in NRW jährlich einen Vorschlag zur Anpassung des Mindestlohns unter-breiten soll. Welche Erfahrungen haben Sie in NRW bei den Verhandlungen über einen Mindestlohn für die öffentliche Auftragsvergabe gemacht?Dr. Thorsten Schulten: In NRW gibt es eine paritätisch besetzte Kommission mit Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertretern und Arbeitgebern unter dem Vorsitz des Landesschlichters. Im Jahr 2012 hat die Landes-regierung in NRW bei der Verabschiedung des neuen Vergabegesetzes einen vergabespezifischen Mindest-lohn von 8,62 Euro festgelegt. Das heißt, das muss ein Unternehmer seinen Beschäftigten mindestens zahlen, wenn er einen öffentlichen Auftrag in NRW haben will. Der Maßstab für den Mindestlohn war die unterste Lohnstufe im Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes der Länder (TV-L), das waren damals 8,62 Euro. So kam diese krumme Zahl zustande. Der TV-L ist in-zwischen erhöht worden und liegt ab dem 1. Januar 2014 in der untersten Lohngruppe bei 9,08 Euro. Das ist jetzt auch unsere Empfehlung für eine Anpassung, die Anfang des kommenden Jahres erfolgen soll. Die Erfahrungen bei den Verhandlungen zeigen aber, dass die Arbeitgeber in der Kommission eigentlich gar kei-ne Anhebung des Mindestlohns wollen. Jetzt muss der Minister über die Anpassung entscheiden.

G.I.B.: Was passiert denn mit den Landesinitiativen für vergabespezifische Mindestlöhne, wenn ein flä-chendeckender Mindestlohn kommt? Dr. Thorsten Schulten: Ich sehe keinen Grund, von heute auf morgen die unterschiedlichen Landesiniti-ativen zu beenden. Und warum nicht auch das Argu-

ment der Differenzierung mal von der anderen Seite nehmen? Ein Land wie NRW könnte doch auch sa-gen, wir können auf der Grundlage eines allgemeinen Mindestlohns noch ein bisschen mehr möglich ma-chen. Da ist der Blick nach Großbritannien interes-sant. Dort gibt es einen relativ niedrigen allgemeinen Mindestlohn, auf kommunaler und regionaler Ebene kommen aber immer mehr Living-Wage-Regelungen hinzu, die die regionalen Lebenshaltungskosten be-rücksichtigen. Je nach Standort liegt der Mindestlohn dann höher. Ich denke, dass Deutschland schon eine einheitliche Lohnuntergrenze braucht, aber das Argu-ment, dass die Lebenshaltungskosten regional sehr un-terschiedlich sind, ist auch nicht ganz von der Hand zu weisen. Eine gewisse Flexibilität wäre da sinnvoll.

G.I.B.: Welche Probleme auf dem Weg zu auskömm-lichen Löhnen lassen sich überhaupt mit einem ge-setzlichen Mindestlohn lösen und welche Rolle hat die AVE in diesem Zusammenhang? Dr. Thorsten Schulten: Der Mindestlohn ist in der Tat nur ein Instrument, um die schlimmsten Bedingungen aufzufangen, aber kein Ersatz für ein gut funktionie-

rendes Tarifvertragssystem. Es gibt im Gegenteil ja auch Befürchtungen, dass ein Mindestlohn das Lohnniveau nach unten ziehen kann, gerade in Bereichen, die nur knapp über dem angedachten Mindestlohn liegen. Der gesetzliche Mindestlohn war übrigens auch bei den Ge-werkschaften anfänglich umstritten. Die Dienstleistungs-gewerkschaften waren dafür, die Industriegewerkschaf-ten mit Verweis auf die Tarifautonomie eher reserviert. Der DGB hat sich 2006 beim Bundeskongress dann auf den Kompromiss geeinigt, nicht nur einen gesetzlichen Mindestlohn zu fordern, sondern auch die Ausweitung der AVE, um das Tarifvertragssystem zu stabilisieren.

Ein Land wie NRW könnte doch auch sagen,

wir können auf der Grundlage eines

allgemeinen Mindestlohns noch ein bisschen

mehr möglich machen.

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FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE

In der gewerkschaftlichen Debatte werden beide Dinge zusammen gedacht und das halte ich für sinnvoll. Zum Selbstverständnis der sozialen Marktwirtschaft gehört die Tarifautonomie, aber die funktioniert eben in vielen Bereichen nicht mehr. Eine Lohnuntergrenze einzufüh-ren ist ein wichtiger Punkt, aber das alleine reicht nicht aus. Die Gewerkschaften sind gefordert, wieder mehr Mitglieder zu organisieren, aber auch die Politik hätte beim Thema AVE Möglichkeiten, das Tarifsystem zu stabilisieren, zum Beispiel indem das jetzige, doch sehr komplizierte Verfahren reformiert wird.

G.I.B.: Welche konkreten Reformschritte könnten das sein?Dr. Thorsten Schulten: Ein Kernpunkt ist das relativ hohe Quorum. Ein Tarifvertrag kann nur für allge-meinverbindlich erklärt werden, wenn die tarifgebun-denen Unternehmen mehr als 50 Prozent der Beschäf-tigten einer Branche repräsentieren. Aber eigentlich ist es ja widersinnig, dass die AVE gerade dann nicht greift, wenn die Tarifbindung zurückgeht und die AVE sozusagen am nötigsten ist. Natürlich muss man nicht jeden Minderheitentarif allgemeinverbindlich machen,

aber es gibt auf europäischer Ebene interessante Bei-spiele, an denen man sich orientieren könnte. In eini-gen südeuropäischen Ländern ist nicht die Tarifquo-te entscheidend, sondern die Frage: Wie repräsentativ sind die dahinter stehenden Organisationen der Ge-werkschaften und Arbeitgeber? Welche übergeordnete Bedeutung haben sie?

Ein wichtiger Reformschritt wäre auch, die Zusam-mensetzung des Tarifausschusses zu ändern, also ne-ben dem Spitzenverband auch einen Vertreter der je-weiligen Branche zu beteiligen. Dann hätte man nicht mehr die Situation, dass die BDA mit ihrer ablehnen-den Haltung alles blockiert und damit gegen eigene Branchen entscheidet.

G.I.B.: Wie sehen Sie die Chancen für einen gesetz-lichen Mindestlohn? Dr. Thorsten Schulten: Ich bin sehr optimistisch, dass Deutschland diesen Schritt geht, nach mehr als zehn Jahren, die die Debatte nun schon dauert. Für mich ist die Frage nicht mehr, ob wir einen Mindestlohn be-kommen, sondern wie er gestaltet wird. Einigen sich die Beteiligten auf ein gutes, wirksames und weitrei-chendes Modell? Oder gibt es nur einen halbherzigen Kompromiss, ohne vernünftigen Lohn und vernünf-tige Anpassungen, wo dann doch wieder viele Leu-te durchfallen. Aber dass es einen Mindestlohn ge-ben wird, davon bin ich überzeugt. Da sind wir auf der Zielgeraden.

Eine Lohnuntergrenze einzuführen ist ein

wichtiger Punkt, aber das alleine reicht nicht

aus. Die Gewerkschaften sind gefordert,

wieder mehr Mitglieder zu organisieren.

DAS INTERVIEW FÜHRTEN

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Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches

Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung

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Nordrhein-Westfalen ist das einzige Bundesland mit der Institution eines Landesschlichters. Er wird als unparteiischer und neutraler Moderator und Schlichter dann aktiv, wenn es die Sozialpartner oder die Be-triebsparteien gemeinsam wünschen. Durch das Bestellen des Landesschlichters können Arbeitsniederle-gungen und Streiks begrenzt oder vermieden werden. Standen im Aufgabenprofil des Landesschlichters frü-her Schlichtungen bei Branchentarifauseinandersetzungen im Vordergrund, hat sich die Schlichtungs- bzw. Moderationstätigkeit mittlerweile stärker auf die betriebliche Ebene verlagert. Zum weiteren Aufgaben-spektrum des Landesschlichters zählen der Vorsitz des Tarifausschusses NRW, Maßnahmen der regionalen Wirtschaftsförderung sowie die Leitung des Tarifregisters NRW. Darin werden sämtliche in NRW gültige Tarifverträge gesammelt. Jedes Jahr kommen rund 1.700 neue Tarifverträge hinzu. Jeden Tag informieren sich bis zu 2.000 Besucherinnen und Besucher auf der Internetseite des Tarifregisters: Beschäftigte, Arbeit-geber und Institutionen. Aktueller Landesschlichter in NRW ist, seit 15 Jahren, LMR Bernhard Pollmeyer.

ständigkeitshalber“ an mich weitergeleitet werden. Zu meinen Aufgaben gehört primär die Schlichtung von Tarifkonflikten, also Firmen-, Branchen- und Sanierungstarifverträge. Zu meinen weiteren Aufga-ben gehört die Moderation von Betriebskonflikten im Vorfeld teurer Arbeitsgerichtsverfahren sowie von Ei-nigungsstellen, deren Vorsitz ich mitunter auch selbst übernehme. Weiterhin bin ich zuständig für die soge-nannten vermittelnden Gespräche zwischen den Ge-werkschaften und den Geschäftsführungen der Be-triebe, zum Beispiel bei Maßnahmen der regionalen Wirtschaftsförderung, wenn es um Investitionszuschüs-se oder um Landesbürgschaften geht oder wenn die Gewerkschaften vermuten, dass gegen Arbeitnehmer-rechte verstoßen wird.

Hinzu kommt, dass ich den Vorsitz im Tarifausschuss NRW für die Allgemeinverbindlichkeitserklärungen (AVE) von Tarifverträgen innehabe sowie die Ge-schäftsführung für die beratenden Ausschüsse nach dem Tariftreuegesetz in NRW, das am 1. Mai 2012 in Kraft getreten ist. Es sorgt dafür, dass es bei der

„Kein Wettbewerb über den Lohn!“

G.I.B.: Herr Pollmeyer, einen Landesschlichter gibt es nur in NRW. Warum eigentlich?Bernhard Pollmeyer: Rechtsgrundlage des Landes-schlichters ist das Kontrollratsgesetz der Alliierten von 1946. In NRW hatten wir seitdem erst drei Lan-desschlichter. Die große Kontinuität im Amt beweist, dass Landesschlichter bei den Sozialpartnern großes Vertrauen besitzen, die deshalb auf einen Fortbestand dieser Institution drängen. Die hohe Akzeptanz des Landesschlichters hat ihren Grund, denn im Vorfeld seiner Benennung durch den Arbeitsminister werden Arbeitgeber und Gewerkschaften konsultiert. Zudem müssen wir überparteilich sein und die Parteien zusam-menführen. Gelingt uns das, werden wir auch nach-gefragt. Die Institution des Landesschlichters ist aber auch Ausdruck davon, dass wir das Land der Tarifver-träge und das Land der sozialen Mitbestimmung sind.

G.I.B.: Wie funktioniert Ihre „Shuttle-Diplomatie“ zwischen den Sozialpartnern? Was sind Ihre Aufgaben?Bernhard Pollmeyer: Schlichtung basiert auf Freiwil-ligkeit. Das heißt: Beide Parteien müssen eine Schlich-tung wollen. Mal werde ich von den Arbeitgebern an-gesprochen, mal von den Gewerkschaften. Mitunter aber gehe ich auch von mir aus auf die Akteure zu. Etwa dann, wenn es bei einem Streik keine Weiter-entwicklung, sondern einen Stillstand gibt. Manch-mal aber kommt ein Erstkontakt auch über die Po-litik zustande, indem etwa die Ministerpräsidentin angesprochen wird und Arbeitskonflikte dann „zu-

Die große Kontinuität im Amt beweist, dass

Landesschlichter bei den Sozialpartnern

großes Vertrauen besitzen, die deshalb auf

einen Fortbestand dieser Institution drängen.

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in denen zwar noch ein Tarifvertrag besteht, der aber immer weniger Anwendung findet, wo also die Tarif-verbindlichkeit schrumpft.

G.I.B.: Gibt es hinsichtlich der rückläufigen Tarif-bindung Unterschiede zwischen NRW und dem Rest der Republik?Bernhard Pollmeyer: Ja! Die Tarifbindung – festge-macht an der Zahl der Beschäftigten in tarifgebun-denen Betrieben – ist in NRW in den letzten zehn Jahren leider von 72 auf 64 Prozent zurückgegangen, während sie in Westdeutschland in diesem Zeitraum sogar von 70 auf nunmehr 60 Prozent gesunken ist. Nachdem wir in NRW 2011 schon mal bei 63 Prozent lagen, könnte man bei gegenwärtig 64 Prozent von ei-ner gewissen Stabilisierung sprechen, doch insgesamt ist es eine problematische Entwicklung.

G.I.B.: Können Sie den Eindruck bestätigen, dass es eine Entwicklung weg von tariflichen hin zu betrieb-lichen Konflikten gibt? Bernhard Pollmeyer: Ja, wir verzeichnen tatsächlich einen Trend weg von den klassischen Branchentarif-vertragsschlichtungen hin zur betrieblichen Ebene. Das betrifft auch Sanierungsbetriebsverträge in Unterneh-men, die sich in wirtschaftlicher Notlage befinden und wo es darum geht, Arbeitnehmerverzichte auszuhan-deln, um Investitionen zu ermöglichen und Arbeits-plätze am Standort zu erhalten, gleichzeitig aber auch zu klären, wie diese Arbeitnehmerbeiträge bei verbes-serter wirtschaftlicher Situation des Unternehmens wieder zurückfließen. Auf der anderen Seite stelle ich fest, dass im Zuge des zunehmenden Fachkräftebe-darfs das Selbstbewusstsein der Arbeitnehmer/-in-nen gerade in KMU wieder wächst und die Konflikte um Einkommens- und Arbeitsbedingungen vor allem in den Bereichen zunehmen, in denen staatliche Auf-gaben privatisiert worden sind, wie zum Beispiel in Krankenhäusern, an Flughäfen oder im öffentlichen Personennahverkehr.

G.I.B.: Ihre erfolgreiche Schlichtung des Konflikts an Flughäfen in diesem Jahr fand ein starkes Medienecho.

Vergabe öffentlicher Aufträge nicht zu Lohndum-ping und Schmutzkonkurrenz zwischen den Wett-bewerbern kommt, sondern die vorgegebenen 8,62 Euro tatsächlich gezahlt werden, eine Summe, über deren Anpassung eine paritätisch aus Arbeitgebern und Gewerkschaften zusammengesetzte Kommissi-on jährlich neu diskutiert. Neben der Geschäftsfüh-rung hier habe ich auch die Geschäftsführung bei dem paritätisch besetzten Ausschuss, der die reprä-sentativen Tarifverträge im öffentlichen Personen-nahverkehr festlegt. Hinzu kommt noch die Leitung des Tarifregisters NRW.

G.I.B.: Gerade in dieser Funktion dürften Sie den Überblick darüber haben, in welchen Branchen schon lange kein neuer Tarifvertrag mehr abgeschlossen worden ist? Wo sind die weißen Flecken, wo wären Neuregulierungen besonders nötig?Bernhard Pollmeyer: Tatsächlich gibt es Wirtschafts-zweige, in denen es noch nie eine Tarifbindung gege-ben hat, und andere, in denen Tarifparteien schon lan-ge nichts Neues mehr ausgehandelt haben, – so etwa im Taxigewerbe, in der Freizeit- und Wellness-Indus-trie, die sich bisher noch gar nicht richtig organisiert hat, also Freizeitparks, Kinos, Fitnesscenter, Kosme-

tik und Sonnenstudios, Videotheken sowie Arbeiten bei Sportanlagen – ein Bereich ohne jegliche Tarif-bindung. Auch im Berufsfeld der Augenoptiker gibt es seit vielen Jahren keinen neuen Branchentarifver-trag. Gleiches gilt für Zahntechnikerwerkstätten, die Fleischwarenindustrie und die Callcenter, wo ledig-lich vereinzelte Firmentarifverträge zu finden sind. Aber genauso besorgniserregend sind die zurückge-hende Tarifbindung sowie die Erosionen in Bereichen,

LMR Bernhard Pollmeyer,

Landesschlichter NRW und Leiter

des Tarifregisters NRW

Wir verzeichnen tatsächlich einen Trend

weg von den klassischen Branchen-

tarifvertragsschlichtungen hin zur

betrieblichen Ebene.

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Bernhard Pollmeyer: Ja, das war die Schlichtung eines intensiven Arbeitskampfs mit gravierenden Auswir-kungen an den Flughäfen Köln, Düsseldorf und Ham-burg. Die Arbeitgeber kamen zunächst auf mich zu, doch schließlich hat auch ver.di der Schlichtung zuge-stimmt. Im Frühjahr haben wir einen neuen Tarifver-trag nicht nur für die Fluggastkontrolleure verhandelt und eine Verständigung für den privaten Sicherheits-dienstleistungsbereich in NRW mit 35.000 Beschäf-tigten erzielt, sondern im Anschluss daran auch für die Fluggastkontrolleure in Hamburg. Offen gestan-den bin ich stolz darauf, dass wir ab 1. Januar im Si-cherheitsgewerbe in NRW als untersten Lohn neun Euro für Objektschutzmitarbeiter/-innen aushandeln konnten. Die Schlichtung bei diesem neuen Flächen-tarifvertrag, der für allgemeinverbindlich erklärt wor-den ist, war wirklich eine sehr schwierige Auseinan-dersetzung.

Eine weitere interessante Schlichtung – diesmal nicht auf Branchen-, sondern auf betrieblicher Ebene – ist die für eine Servicegesellschaft für Krankenhäuser im Kreis Lippe mit mehr als 300 Beschäftigten. Dort ging es um einen Firmentarifvertrag in einem Unter-nehmen, das die Reinigungsarbeit in Krankenhäusern, aber auch die vom Krankenhaus outgesourcten Ser-viceaufgaben für Patienten übernimmt. Ursprünglich gab es gar keine Tarifbindung, doch später hat man sich an die Tarife des Gebäudereinigerhandwerks an-gelehnt, womit aber die Aufgaben der Patientenversor-gung nicht abgedeckt waren. Hier haben wir es im Rah-men einer Schlichtung mit beiden Parteien geschafft, die Löhne für die Servicekräfte von vorher 9 auf 10 Euro 60 anzuheben – ein erheblicher Lohnzuwachs, der jedoch der Aufgabenstellung auch gerecht wird.

G.I.B.: Können Tarifverhandlungen mit anschließenden Tarifverträgen den wachsenden Niedriglohnbereich eingrenzen?Bernhard Pollmeyer: Seit 2004 geben wir im Auftrag des Arbeitsministeriums NRW den sogenannten Ta-rifspiegel heraus, der aktuell unter anderem Tarifver-träge und Tariflöhne mit Löhnen unter 8,50 Euro aus-

weist. Seitdem ist eine positive Entwicklung gerade in diesen Bereichen nachweisbar, weil die Sozialpartner versuchen, nach und nach die Tarife über bestimmte Schwellenwerte anzuheben. Ein gutes aktuelles Bei-spiel dafür ist das Friseurhandwerk, das vor fünf, sechs Jahren auch mal eine Zeitlang tariflos war und jetzt kurzfristig die 8-Euro-50-Grenze überschreitet, versehen mit einer allgemeinen Verbindlichkeitserklä-rung (AVE) der beiden Sozialpartner.

G.I.B.: Wie ist es gelungen, in NRW im Friseurhand-werk eine AVE durchzusetzen?Bernhard Pollmeyer: Daran kann ich mich gut erin-nern, denn die damalige Tarifrunde durfte ich selbst schlichten. Mehrere Jahre lang gab es in dieser Bran-

che einen tariflosen Zustand. Die Arbeitgeber wollten damals die Arbeitszeiten verlängern, doch die Gewerk-schaften sprachen sich dagegen aus. In der Folge wur-den die Tarifverträge gekündigt und eine Tarifeinigung kam nicht zustande. Doch im weiteren Verlauf haben die Arbeitgeber offensichtlich festgestellt, dass ohne eine Tarifbindung in dieser Branche die Schmutzkon-kurrenz an Einfluss gewinnt. Das hat ihre Bereitschaft für eine Verständigung erhöht, sodass ein Tarifvertrag abgeschlossen und eine Tarifbindung erzielt werden konnten. Beide Parteien haben gleichzeitig die AVE dieses Tarifvertrags beantragt, um Schmutzkonkur-renz und unlauteren Wettbewerb zu vermeiden, also: Kein Wettbewerb über den Lohn!

Erste Voraussetzung für eine AVE also ist, dass Ar-beitgeber und Gewerkschaften einen Tarifvertrag ab-

Ich stelle fest, dass im Zuge des zunehmenden

Fachkräftebedarfs das Selbstbewusstsein der

Arbeitnehmer/-innen gerade in KMU wieder

wächst und die Konflikte um Einkommens-

und Arbeitsbedingungen zunehmen.

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schließen und eine der Parteien formal den Antrag auf AVE stellt. Wenn die andere Seite das nicht will, ist es schwierig, im paritätisch besetzten Tarifausschuss beim Arbeitsministerium eine Mehrheit dafür zu fin-den. Wenn der Ausschuss aber den Antrag befürwor-tet, kann der Arbeitsminister die AVE erklären. Er kann ihn aber auch etwa mit Hinweis auf eine Kar-tellbildung ablehnen, was jedoch bis jetzt noch nicht vorgekommen ist. Anders als beim Arbeitnehmerent-sendegesetz, wo das über eine Rechtsverordnung des Bundesarbeitsministeriums möglich ist, kann er jedoch nicht einseitig gegen das Votum des Tarifausschusses die AVE erklären. Wenn man das Instrument zustan-de bekommt, kann man damit Niedriglöhne in jeder Branche abwehren. Das Problem ist jedoch, zu einer AVE zu kommen. Dazu müssen in der Branche 50 Pro-zent der Beschäftigten tarifgebunden sein, doch das ist heute eine Seltenheit. Außerdem müssen Sie eine Mehrheit im Tarifausschuss haben.

G.I.B.: Ist die AVE also ein Schönwetterinstrument, das nur in Branchen funktioniert, in denen die Welt noch halbwegs in Ordnung ist?Bernhard Pollmeyer: Da ist was dran. Deshalb gab es Anfang des Jahres im Bundestag auch eine Anhörung mit Experten zur Frage nach der Notwendigkeit ei-ner Reform des Instrumentariums AVE. Nach Auf-fassung der einen ist das 50-Prozent-Quorum wegen der rückläufigen Tarifbindung nicht mehr zeitgemäß. Alternativ schlagen sie eine Orientierung an Tarifver-trägen vor, die für eine Branche repräsentativ sind, so wie etwa der Tarifvertrag zwischen Einzelhandelsver-

band und ver.di im Einzelhandel, wo die Tarifbindung bei gerade mal 30 Prozent liegt. Aber das ist eine po-litische Debatte, deren weiteren Verlauf in der neuen Legislaturperiode wir abwarten müssen.

G.I.B.: Speziell im Hinblick auf die Landesinitiative „Faire Arbeit – Fairer Wettbewerb“ mit ihrem Ziel „auskömmliche Löhne“: Welche Handlungsmöglich-keiten bestehen, um diese tariflosen Zustände zu beenden?Bernhard Pollmeyer: Die Fleischwarenindustrie zeigt ja, dass die Bereitschaft der Akteure steigt, vom Schmud-delimage wegzukommen, wenn sich Politik und Me-dien diesen problematischen Entwicklungen widmen. Das ist beim Thema Leiharbeit nicht anders gewesen. Politische Aufgabe ist es, auf die Akteure zuzugehen und zunächst für Transparenz zu sorgen.

AVE sind in diesem Zusammenhang ein wirksames Instrument, wie in diesem Jahr das Gaststättengewer-be als positives Beispiel in NRW zeigt. Hier gelten seit dem 1. September die 8,50 Euro in der untersten Ent-geltgruppe für einfache Tätigkeiten nach einer bestimm-ten Einarbeitungszeit, in der Anlerntätigkeitsgruppe, sogar 8,88 Euro, in der Wach- und Sicherheitsgewerbe ab 1. Januar 2014 und im Friseurgewerbe, dem dritten AVE-Bereich, auch die 8,50 Euro ab nächstem Jahr.

Wichtig aber ist, dass mit der AVE, die Gesetzescha-rakter hat, der einzelne Arbeitnehmer einen Rechts-anspruch auf einen Mindestlohn erhält. Wer dage-gen verstößt, muss als Arbeitgeber damit rechnen, später Sozialversicherungsbeiträge nachzahlen zu müssen oder wegen eines Straftatbestands belangt zu werden. Arbeitnehmer, die vermuten, ihr Arbeit-geber zahle ihnen sittenwidrige Löhne, können sich übrigens auf unserer Homepage unter der Rubrik „Aus der Rechtsprechung“ informieren. Dort finden sich höchstrichterliche Urteile des BGH, die besagen, dass es sich um einen sittenwidrigen Lohn handeln könnte, wenn ein auffälliges Missverhältnis besteht zwischen der Vergütung und dem ortsüblichen und

Die Fleischwarenindustrie zeigt ja, dass die

Bereitschaft der Akteure steigt, vom

Schmuddelimage wegzukommen, wenn sich

Politik und Medien diesen problematischen

Entwicklungen widmen.

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tariflichen Entgelt. Dann kann man die Tarifdaten zu den Ecklöhnen oder die in der Branche nach der Ausbildung vorgesehene Entlohnung mit dem eige-nen Lohn vergleichen und so einen Anhaltspunkt für eine etwaige Sittenwidrigkeit erhalten.

G.I.B.: Haben die AVE in NRW Auswirkungen auf Bundesebene? Bernhard Pollmeyer: Ja, für den Bereich des Gaststät-tengewerbes kann man das sagen. Da ist es uns 2006 zum ersten Mal gelungen, die beiden untersten Ent-geltgruppen allgemeinverbindlich zu erklären. Mitt-lerweile ist es auch in Niedersachsen zu einer AVE ge-kommen, denn unser Erfolg hat Wellen geschlagen im politischen Bereich. Tarifverträge für Friseure sowie für das Wach- und Sicherheitsgewerbe sind auch in an-deren Bundesländern allgemeinverbindlich.

G.I.B.: Die Bundesagentur für Arbeit verzeichnet für NRW 900.000 sozialversicherungspflichtige Vollzeit-beschäftigte unterhalb der Niedriglohnschwelle. Wie definieren Sie diese Schwelle und in welchen Branchen sind Niedriglöhne besonders stark verbreitet?Bernhard Pollmeyer: Nach den Berechnungen und Aus-wertungen des Institutes für Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen (IAQ) gelten in NRW zwei Drittel des jeweiligen mittleren Stundenlohns als Niedriglohnschwelle. In Westdeutschland sind das 9,54 Euro. Wir haben aber eine andere Zahl vom Statisti-schen Bundesamt, in die Überstunden und Zuschläge in die Berechnung eingehen, nämlich 10,36 Euro. Bran-chen mit hohem Anteil an Niedriglöhnen sind der Ein-zelhandel, Gastgewerbe, Leiharbeit, Friseurgewerbe, Wäschereien, Taxifahrer, Callcenter, Bäckereigewerbe, Hausmeisterdienste sowie sonstige persönliche Dienst-leistungen. Ich habe mir das ausrechnen lassen für den Stundenlohn von 9 Euro acht. Das wird aller Voraus-sicht nach ab Januar 2014 der Mindestlohn nach dem Tariftreuegesetz in NRW sein. Danach lägen 680.000 Arbeitnehmer in NRW mit ihrem Verdienst unterhalb dieser Schwelle, bei 10,36 Euro wären es 880.000 Ar-beitnehmer in NRW, die weniger verdienen.

G.I.B.: Was muss oder kann Politik tun, um die wei-tere Ausweitung des Niedriglohnsektors zu stoppen?Bernhard Pollmeyer: Ich bitte um Verständnis, dass ich hier kein politisches Statement abgeben kann und möchte, weil das Thema auch zwischen den Sozial-partnern umstritten ist. Ich kann aber so viel sagen: Zentral bleibt die Stärkung der Sozialpartner, indem Beschäftigte den Gewerkschaften beitreten und Un-ternehmen sich in Arbeitgeberverbänden organisieren und diese beiden Parteien die Arbeits- und Einkom-mensbedingungen untereinander regeln. Dazu gehört auch, dass wieder mehr Allgemeinverbindlichkeitser-klärungen zustande kommen.

DAS INTERVIEW FÜHRTEN

Manfred Keuler

Tel.: 02041 767-152

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Arnold Kratz

Tel.: 02041 767-209

E-Mail: [email protected]

KONTAKT

Bernhard Pollmeyer

Ministerium für Arbeit, Integration

und Soziales des Landes NRW

Der Landesschlichter

Fürstenwall 25

40219 Düsseldorf

Tel.: 0211 8553362

E-Mail: [email protected]

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Andrea Becker, vormals Mitarbeiterin einer Arbeitsagentur, leitet beim Landesbezirk NRW der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) den Fachbereich „Die Besonderen“. Zuständig ist der Fachbereich etwa für die „Callcenter“, eine Branche ohne Tarifbindung, oder die „Technische Überwachung“, eine Branche mit – nach Ansicht der Gewerkschafterin – „durchaus guten Tarifverträgen“, aber auch das Touristik-Gewerbe, die Immobilienwirtschaft sowie das Wach- und Sicherheitsgewerbe. Hier hat die Gewerkschaft ver.di im April 2013 in einem bundesweit beachteten Tarifkonflikt und nach einem harten Streik beachtliche Lohnerhöhungen für die Beschäftigten durchgesetzt.

„Die Entschlossenheit der

Beschäftigten war enorm“

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G.I.B.: Frau Becker, mit dem Streik im Wach- und Sicherheitsgewerbe an Flughäfen haben Sie in diesem Jahr für Schlagzeilen gesorgt. Was sind aus Ihrer Sicht die besonderen Merkmale der Branche, was zeichnet sie aus?Andrea Becker: Um die Branche zu verstehen, muss man wissen, wie sie entstanden ist, nämlich dadurch, dass viele Arbeitgeber den Bereich der Sicherheit aus-gegliedert, also outgesourct haben, um ihn billiger zu machen. Das Markenzeichen der Wach- und Si-cherheitsbranche ist: „Wir sind die Billigen und wir wollen auch billig sein, denn sonst übernehmen un-sere Auftraggeber den Job wieder selbst.“ Das heißt: In unseren Tarifverhandlungen sitzt virtuell der Kun-de mit am Tisch. Wir haben es hier mit einem Drei-ecksverhältnis zu tun zwischen den Arbeitgebern im Wach- und Sicherheitsgewerbe, ihren Kunden und uns. Der Konflikt, in dem wir dabei stehen, liegt da-rin, dass die Löhne schon deshalb gedrückt werden, damit die Betriebe des Wach- und Sicherheitsgewer-bes ihren Kunden ein günstiges Angebot machen kön-nen. Ein weiteres Merkmal der Branche ist, dass sie geprägt ist von vielen prekären Arbeitsverhältnissen sowie einem hohen Anteil an befristet Beschäftigten und Niedriglöhnern. Nicht wenige der Beschäftigten kommen nur deswegen mit ihrem Einkommen eini-germaßen klar, weil sie mehr als 200 Arbeitsstunden im Monat leisten. Und last but not least gilt nicht nur für einzelne Arbeitgeber, sondern fast für die gesamte Branche: Es mangelt an Wertschätzung der hier agie-renden Arbeitgeber gegenüber ihren Beschäftigten. In dieser Branche herrschen Ausbeutungsstrukturen.

G.I.B.: Zugespitzt hat sich die diesjährige Tarifrun-de für das Sicherheitsgewerbe an den Flughäfen in Nordrhein-Westfalen. In Düsseldorf und Köln kam es zu Arbeitskämpfen. Wie war die Ausgangssitua-tion für die hier Beschäftigten zu Beginn der Ta-rifrunde?Andrea Becker: An den Flughäfen haben wir über-wiegend Beschäftigte mit befristeten 120-Stunden-Arbeitsverträgen, wohingegen die Regelarbeitszeit bei Vollzeitbeschäftigten 160 oder 170 Stunden umfasst. Diese 120 Stunden verteilen sich aber auf sieben Tage

pro Woche und rund um die Uhr. Das bedeutet für die Beschäftigten geteilte Dienste mit einem Arbeitszeitbe-ginn etwa von drei oder vier Uhr morgens bis tief in die Nacht. Passagierkontrolleure etwa haben kaum die Möglichkeit, mal Pause zu machen oder zur Toilette zu gehen. Der Grund: Das Personal wird aufgrund zuvor von den Flughafenbetreibern erhobener Kundenströ-me eingesetzt und sieht sich im Arbeitsalltag ständig mit einer hohen Taktzahl konfrontiert. Viele Flugha-fenbeschäftigte schilderten mir, dass aufgrund der oft kurzfristig angesagten Verteilung ihrer Arbeitszeiten auf die Woche und Tage ihr Privatleben nicht planbar sei und dass ihnen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie kaum mehr gelinge. Sie sagten: Unser Privat-leben findet in Facebook statt, etwas anderes ist nicht mehr möglich. Hinzu kam, dass sich dort – unterstützt durch die Arbeitgeberseite, die sich so vermutlich den Abschluss billigerer Tarife erhoffte – die Deutsche Po-lizeigewerkschaft breitmachen wollte, obwohl sie gar nicht tarifzuständig ist. Das haben wir aber geklärt.

Das Betriebsklima sowohl in Köln als auch in Düssel-dorf war sehr stark angespannt, Konflikte zwischen Betriebsräten und Arbeitgebern alltäglich. Von den Be-schäftigten hörten wir: Wir haben nichts mehr zu ver-lieren, diese Bedingungen akzeptieren wir nicht län-ger, jetzt ist Schluss! Wir wollen jetzt höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Die Entschlossenheit der Beschäftigten an den Flughäfen in Düsseldorf und Köln war natürlich eine günstige Voraussetzung für die tariflichen Auseinandersetzungen und für unsere gemeinsam mit den Betriebsräten entwickelte Strate-gie zur Begrenzung der Befristungen, zur Erhöhung der Stundenzahl in den Verträgen und vor allem zur Erhöhung der Löhne.

Das war die Ausgangslage an den Flughäfen. Im Be-wachungsgewerbe sah die Situation ein wenig anders aus. Hier beklagten sich die Betriebsräte über die viel zu geringen Lohnerhöhungen der letzten Jahre. Zu Recht, denn dabei handelte es sich um Beträge von lediglich acht oder fünfzehn Cent pro Stunde. Damit konnten die Beschäftigten ihre Existenz immer noch nicht ausreichend sichern. Wir haben sofort reagiert

Andrea Becker, ver.di

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und gesagt: Okay, wir hören die Signale, aber wir brauchen euch dazu! So entstand eine für Tarifrunden ungewöhnliche Aufbruchstimmung und eine hohe Er-wartungshaltung der Beschäftigten sowie eine große Bereitschaft, dafür auch etwas zu tun.

G.I.B.: Eine der Forderungen lautete: Ein Lohn muss zum Leben reichen! Das heißt, Sie haben die Niedrig-lohndebatte mit der Tarifrunde verknüpft. Zudem haben Sie mit einer auch aus gewerkschaftlicher Sicht ungewöhnlich hohen Forderung von 30 Prozent Lohn-steigerung für Aufsehen gesorgt. Wie kam es dazu? Andrea Becker: Wir haben zuvor ausführlich mit den Beschäftigten diskutiert und ihre Auffassung war nach-vollziehbar. Sie sagten: Wenn wir aus diesen niedrigen Löhnen herauskommen wollen, dann reichen die üb-lichen kleinen Lohnanhebungen nicht!

Unsere gewerkschaftlichen Forderungen orientieren sich immer an drei Faktoren: Erstens an der Inflati-onsrate. Wenn sie ausgeglichen ist, sind die Beschäf-tigten immerhin bei plus/minus null. Zweitens am Produktivitätszuwachs, der durchaus – wenn auch im Dienstleistungsbereich nicht immer leicht – mess-bar ist. Der dritte Faktor betrifft das Thema „Um-verteilung“, ein Aspekt, der in den Tarifabschlüssen der letzten Jahre kaum berücksichtigt worden ist. Uns war klar, dass wir mit marginalen Lohnerhöhungen früherer Tarifrunden nie weiterkommen und immer deutlich hinter anderen Branchen mit Stundenlöhnen von 20 Euro zurückbleiben. Da wir aber die politische Forderung, aus dem Niedriglohnsektor herauszukom-men, unterstützen wollten, war es eine logische Kon-sequenz, den Tarifvertrag als Hebel zu nutzen, um hö-here Löhne durchzusetzen. Die 30-Prozent-Forderung war also ernst gemeint und verknüpft mit einer poli-

tischen Forderung: Wir haben den Arbeitgebern ge-sagt: Ihr produziert Armut und das wollen wir nicht mit unterschreiben!

Die Höhe der Forderung war auch innergewerkschaft-lich etwas Neues und hat hier und da zu Irritationen geführt. Aber wir wussten ja, dass es den Mitglieds-unternehmen des Bundesverbands der Sicherheits-wirtschaft (BDSW) möglich war, die aufgrund der Lohnerhöhungen steigenden Preise gegenüber ihren Kunden durchzusetzen, denn die unterste Lohngrup-pe ist ja für allgemeinverbindlich erklärt worden, so-dass es zwischen den Betrieben nicht zu einem Unter-bietungswettbewerb kommen konnte.

Diese unterste Lohngruppe war uns besonders wichtig. Nach Berichten unserer Betriebsräte – das haben die Arbeitgeber immer bestritten – sind rund 70 Prozent der Beschäftigten im Wach- und Sicherheitsgewerbe in der untersten Lohngruppe verortet. Eine Lohnerhö-hung diese Kollegen und Kolleginnen, so viel war klar, würde den Großteil des Gesamtvolumens ausmachen.

G.I.B.: Wie haben die Arbeitgeber auf die prozentual ungewöhnlich hohen Lohnforderungen reagiert?Andrea Becker: Als wir ihnen die Forderung eröff-neten, sind sie fast ins Koma gefallen, aber wir waren von der Berechtigung der Forderung völlig überzeugt, denn Forderungen von lediglich vier Prozent auf 8,15 Euro hätten wieder nur die typischen Cent-Beträge er-geben. Anfangs wussten sie offensichtlich nicht, ob sie das wirklich ernst nehmen sollten. Hinzu kam, dass ich erst seit zwei Jahren diesen Fachbereich in ver.di lei-te und mich die Arbeitgeber als eine ihnen unbekann-te Verhandlungsführerin möglicherweise nicht richtig einschätzen konnten. Andererseits haben sie schon auf-grund der Forderung gemerkt, dass im diesjährigen Ta-rifkonflikt mehr Dampf vorhanden ist als früher. Sie kennen ja die Zustände in ihren Betrieben und haben deshalb folgerichtig bereits in ihrem ersten Angebot deutlich mehr angeboten, als in vorherigen Tarifrun-den als Ergebnis herauskam. Sie boten gleich 40 Cent mehr, wohingegen frühere Abschlüsse ein Plus von ge-rade mal acht bis fünfzehn Cent verzeichneten.

Wir haben gemerkt, dass der Druck in den

Betrieben an den Flughäfen Köln und

Düsseldorf extrem groß war. Das hat unsere

Entscheidung erleichtert.

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Sie versuchten uns einzureden, dass 40 Cent ein tol-les Ergebnis wäre, das wir unseren Mitgliedern leicht verkaufen könnten. Aber wir haben gesagt: Nein, das reicht uns nicht! Erst nach der zweiten Verhandlungs-runde haben sie gemerkt, dass ein anderer Wind wehte und dass wir uns nicht vorschnell auf irgendwelche Kompromisse einlassen würden, sondern unsere Stär-ke und die Entschlossenheit der Beschäftigten in die-ser Tarifrunde nutzen wollten. Dann wurde die Ton-art rauer in den Verhandlungen, es folgten öffentliche Angriffe auf meine Person, nach dem Motto: Die ist neu hier und versteht noch nicht, wie das bei uns läuft. Außerdem haben sie darauf gesetzt, dass ein Arbeits-kampf gerade mal einen Streiktag dauern würde, aber darin hatten sie sich getäuscht.

G.I.B.: Das Wach- und Sicherheitsgewerbe ist eine heterogene Branche. Nicht alle Beschäftigten arbeiten in großen Belegschaften, viele sind vereinzelt an ihren Einsatzstätten tätig. Sie für einen Arbeitskampf zu gewinnen, dürfte weitaus schwieriger gewesen sein. Andrea Becker: Ja, das war uns bewusst. Bevor man in so eine Auseinandersetzung geht, muss man sich über die eigene Stärke im Klaren sein, doch so rich-tig weiß man das erst, wenn man sich bereits in einer Auseinandersetzung befindet. Für uns war der Streik Neuland, Erfahrungen lagen nicht vor. Insofern gab es schon eine Unsicherheit auf unserer Seite. Anderer-seits haben wir gemerkt, dass der Druck in den Be-trieben an den Flughäfen Köln und Düsseldorf extrem groß war. Das hat unsere Entscheidung erleichtert.

Die Bewachungsbereiche waren für uns das Expe-rimentelle in diesem Arbeitskampf. Beschäftigte im Wachdienst arbeiten in der Tat oft vereinzelt an kon-kreten Objekten wie etwa dem RWE-Tower. Hier iden-tifiziert sich das Wachpersonal vielleicht sogar stär-ker mit RWE als mit seinem Arbeitgeber. Zu diesen Beschäftigten haben die Betriebsräte meist nur wenig Kontakt. Insofern herrscht hier eine ganz andere Situ-ation und Streiks sind schwierig zu organisieren. Und dennoch: In der ersten Streikversammlung waren 200 Menschen anwesend. Ihnen habe ich gesagt: Ihr seid wirklich die Helden! Denn sie hatten noch am Mor-

gen desselben Tages von ihren Arbeitgebern zu hören bekommen: Du kriegst eine Abmahnung, du kannst dir einen neuen Job suchen, du kriegst dein Objekt ent-zogen. Sie haben richtig Prügel bezogen in ihren Be-trieben, weil sie an dem Tag zu uns gekommen sind, und hatten in der Folge mit Repressalien zu kämpfen. Wir bereiten uns auch in diesem Bereich auf eine grö-ßere Aktionsfähigkeit vor.

G.I.B.: Wie lange genau liefen die Tarifauseinander-setzungen?Andrea Becker: Die Tarifauseinandersetzungen began-nen im Dezember letzten Jahres und endeten in der zweiten Schlichtungsrunde Anfang April dieses Jahres. Insgesamt gab es fünf Verhandlungen und 13 Streik-tage. Die Arbeitgeberseite wollte schon nach der zwei-ten Verhandlungsrunde in die Schlichtung gehen, aber wir haben uns dem verweigert mit dem Argument: In Deutschland verhandeln Tarifparteien so lange, bis sie an einen Punkt kommen, wo offensichtlich nichts mehr geht. Aus unserer Sicht war dieser Punkt noch nicht erreicht. Wir haben auf weiteren Verhandlungen be-standen und zu verstehen gegeben, dass wir in Sondie-rungsgespräche einsteigen wollen, haben mehrere Brü-cken gebaut, um aus unserer Sicht einen Kompromiss finden zu können. Doch auf der Gegenseite gab es kei-ne Bereitschaft, und zwar auch deshalb nicht, weil der NRW-Tarifvertrag die Vorlage für alle bis 2014 noch anstehenden Tarifrunden in den anderen Landesbe-zirken ist und die Arbeitgeber in unserem Bezirk nicht mit besonders hohen Lohnsteigerungen vorpreschen wollten. Das war teilweise eine verfahrene Situation.

G.I.B.: Das mediale Interesse an dem Streik war groß. Wie haben die vom Streik unmittelbar betroffenen Fluggäste reagiert?

Mir hat das gezeigt, dass mittlerweile

der Niedriglohn bzw. das Thema in der

Mitte der Gesellschaft, in allen Familien,

angekommen ist.

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Andrea Becker: Über deren Reaktion war ich absolut erstaunt und sie hat gewiss auch mit der Niedriglohnde-batte zu tun, die wir seit vielen Jahren in Deutschland führen. Zum einen waren viele Fluggäste stocksauer und manche haben das auch verbal zum Ausdruck ge-bracht. Dafür habe ich vollstes Verständnis, denn ich weiß, was es bedeutet, in den Urlaub fliegen zu wol-len und der Flieger geht nicht – und dann auch noch, weil andere mehr Geld haben wollen. Zu körperlichen Übergriffen aber ist es nicht gekommen, obwohl wir morgens in den Flughäfen Düsseldorf und Köln prä-sent waren. Wir haben uns also nicht davor gedrückt und auch intensiv mit den Fluggästen gesprochen.

Die zweite Botschaft der Fluggäste – und da gab es nur wenige Ausnahmen – war aber eine ganz andere. Sie sagten: Trotz dieser momentanen Widrigkeiten kann ich euch verstehen. Mir hat das gezeigt, dass mittler-weile der Niedriglohn bzw. das Thema in der Mitte der Gesellschaft, in allen Familien, angekommen ist. Trotz Beeinträchtigungen gab es also für den Streik auch unter den Fluggästen ein großes Verständnis.

G.I.B.: Welche Ergebnisse haben Sie mit Ihren Ver-handlungen und mit dem Streik erreicht?Andrea Becker: Der wichtigste Eckpunkt des Tarifer-gebnisses ist die Steigerung der Stundenlöhne in der un-tersten Lohngruppe im Bewachungsgewerbe um 10,43 Prozent auf neun Euro. Die weiteren Steigerungsraten in den anderen Lohngruppen der Bewachung liegen zwischen sieben und zehn Prozent. An den Flughäfen waren das 18 Prozent im Bereich der Passagierkontrol-leure und 22 Prozent im Bereich der Frachtkontrolleure. Deutliche Steigerungsraten sind auch in den Bereichen

Aviation und Werkfeuerwehr zu verzeichnen sowie mit sieben Prozent bei den Azubi-Vergütungen. Darü-ber hinaus gab es eine Korrektur der Übergangsrege-lung für die Kontrollschaffner mit einer Erhöhung der Löhne um 36,36 Prozent auf 12,90 Euro.

G.I.B.: Sind die hohen Steigerungsraten für die Un-ternehmen überhaupt verkraftbar? Könnten sie nicht zumindest in Einzelfällen sogar zu Betriebsschließungen führen?Andrea Becker: Da hatte ich keine Sorgen, denn im Bewachungsgewerbe werden die Kosten an die Kun-den weitergereicht Mit der Lohnsteigerung um zehn Prozent im Bewachungsgewerbe sind die Dienstleis-tungen der hier tätigen Firmen immer noch deutlich billiger, als wenn deren Kunden den Part selbst über-nähmen und die Leute nach ihrem eigenen Tarif bezah-len müssten. Aber es gibt noch einen zweiten Aspekt: Auftraggeber an den Flughäfen ist das Bundesinnen-ministerium. Beschäftigte der beauftragten Firmen, die an den Flughäfen in der Passagierkontrolle ar-beiten, sind sogenannte Beliehene, weil dieser Tätig-keitsbereich eigentlich eine Aufgabe des Bundes ist, der aber – abgesehen von deutschlandweit rund 300 Bundespolizisten – diesen Job ausgelagert hat. Der Bund aber kann die erzielten Lohnerhöhungen ge-wiss verkraften. Pleiten gab es in der Folge der Loh-nerhöhungen jedenfalls nicht. Dem beugt auch die Allgemeinverbindlichkeit für die unterste Lohngrup-pe vor, was bedeutet, dass alle Unternehmen, egal ob sie im Verband sind oder nicht, diesen Lohn zahlen müssen. Außerdem ist das Bewachungsgewerbe eine Wachstumsbranche, weil immer mehr Betriebe die-sen Bereich ausgelagert haben.

G.I.B.: Welche Rolle spielte der Landesschlichter beim Zustandekommen der Verhandlungsergebnisse?Andrea Becker: Die Arbeitgeberseite hatte Bernhard Pollmeyer als Arbeitsschlichter vorgeschlagen und wir haben uns damit einverstanden erklärt. Bei den anschließenden Verhandlungen ging es bis tief in die Nacht wirklich zur Sache. Man muss bedenken: Einen Streik wie diesen hatte es in der Branche zuvor noch nicht gegeben und es war schwierig, sachlich Kom-

Die Debatte um den gesetzlichen Mindestlohn

ist wichtig, aber genauso entscheidend ist

die Frage, was wir über unsere eigenen

Instrumente, die Tarifverträge,

erreichen können.

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promisse auszuloten. In einer solchen Situation ist ein Schlichter Gold wert und ich muss sagen: Bernhard Pollmeyer hat wirklich gute Arbeit geleistet!

Beide Seiten haben Zugeständnisse gemacht. So hät-ten wir uns für den Bewachungsbereich noch stärker steigende Löhne gewünscht, denn auch von neun Euro pro Stunde kann man nicht richtig gut leben und viele kommen auch bei dieser Summe noch in den Bereich von Aufstockung, aber es ist ein deutlicher, um das Dreifache stärkerer Anstieg als sonst und insofern vom Ergebnis her okay.

So wichtig der Schlichter war: Erst die Mitgliederbe-fragung und der anschl. Beschluss der Tarifkommis-sion haben den Streik beendet. Die Mitglieder haben mit 87,04 Prozent für die Annahme des Schlichter-spruchs votiert. In der aufgeheizten Situation wollten manche lieber noch weiterstreiken, aber das Ergeb-nis zeigt, dass die deutliche Mehrheit zufrieden gewe-sen ist. Erkennbar ist das auch daran, dass wir in der Branche 500 neue Mitglieder gewonnen haben und dieser Trend setzt sich weiter fort. Beteiligung in Ta-rifrunden ist mir ein besonders wichtiges Anliegen.

G.I.B.: Was meinen Sie: Haben die Ergebnisse des Tarifkonflikts Signalwirkung für die Gesamtbranche?Andrea Becker: Auf jeden Fall, das ist schon jetzt zu beobachten. Kein Wunder, denn wir haben es für den Aviationsbereich, das sind die Flugsicherheitsassistenten an den Flughäfen, geschafft – und das hat auch etwas mit unserer Tarifauseinandersetzung zu tun – einen bundesweiten Manteltarifvertrag durchzusetzen, der so gute Regelungen beinhaltet, wie wir sie noch nie hatten. Das hat aber auch damit zu tun, dass durch den Streik in NRW ein Netzwerk an den Flughäfen entstanden ist. Zurzeit finden Streiks in Leipzig mit Forderungen statt, deren Ursprung hier in NRW liegt. Die Beschäftigten der Branche haben sich gesagt: Wir wissen jetzt, was wir können, und wir holen uns die-se Lohnsteigerungen jetzt auch.

Für die Beschäftigten im Bewachungsgewerbe in den anderen Landesbezirken, wo derzeit die Tarifverträge

auslaufen, erwarte ich ebenfalls eine Signalwirkung. Die anderen Landesbezirke haben sich abgestimmt, und ich bin gespannt, ob wir auch da andere Marken erreichen als bisher. Zudem haben wir innergewerk-schaftlich eine Diskussion ausgelöst, bei der es um die Frage geht, ob unsere Forderungen nicht deutlich höher sein müssten, um schneller aus dem Niedrig-lohnsektor rauszukommen. Die Debatte um den ge-setzlichen Mindestlohn ist wichtig, aber genauso ent-scheidend ist die Frage, was wir über unsere eigenen Instrumente, die Tarifverträge, erreichen können.

Doch es gibt noch eine weitere Lehre aus diesem Ar-beitskampf: Es gibt für Beschäftigte eine Perspekti-ve, es gibt ein Instrument, an ihrer Situation etwas zu verändern, und zwar dann, wenn sie sich in einer Gewerkschaft organisieren. Die im Grundgesetz Ar-tikel 9 verankerte Möglichkeit, sich in Gewerkschaf-ten zu vereinen, um gemeinsam eigene Interessen zu vertreten, kann dafür sorgen, die eigene Existenz bes-ser abzusichern und sich und die eigene Familie auch ernähren zu können.

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G.I.B.: Herr Professor Möller, viele Menschen be-haupten: Die Ungleichheit nimmt zu in unserer Ge-sellschaft. Was sagen die ökonomischen Indikatoren: Stimmt die Aussage?Prof. Möller: Vorab: Eine Marktwirtschaft ohne je-des Maß an Ungleichheit, mit völliger Gleichheit, ist nicht denkbar, denn eine Marktwirtschaft beruht auch auf Anreizen. Nehmen Sie zum Beispiel den Lohn. Er schafft die materiellen Voraussetzungen für die Be-darfsdeckung, gibt aber zugleich Anreize etwa für eine höhere berufliche Leistungsbereitschaft oder den Er-werb zusätzlicher Qualifikationen. Anreize differen-zieren somit eine Gesellschaft und führen dazu, dass bestimmte Personen mehr haben als andere. Entschei-dend ist die Frage: Was ist das richtige Maß? Darü-ber wird gegenwärtig international, auch in Ameri-

ka, heftig diskutiert, weil die in früheren Jahrzehnten üblichen Grenzen von Ungleichheit gesprengt worden sind. Inzwischen bewegen wir uns wieder auf einem Ungleichheits-Niveau wie es für die Zeit der Stahlba-rone typisch war. Internationale Vergleiche zeigen, dass Volkswirtschaften offenbar einen Spielraum für das Ausmaß der Ungleichheit haben. Weniger Ungleich-heit bedeutet nicht zwangsläufig weniger Leistungsfä-higkeit, wie ein Blick auf die skandinavischen Länder zeigt. Deutschland hat früher mit deutlich geringerer Ungleichheit als heute offenbar gut funktioniert, wa-rum sollte dies nicht auch zukünftig wieder gelingen? In der amerikanischen Debatte zum Thema „Ungleich-

heit“ hat der Princeton-Ökonom Alan B. Krueger die „Great Gatsby curve“ entwickelt – benannt nach dem Roman „Der große Gatsby“ von F. Scott Fitzgerald, der vom Aufstieg eines Mannes vom Tellerwäscher zum Millionär handelt, dem amerikanischen Mythos, der heute allerdings nur noch äußerst selten funktio-niert. Demnach existiert ein empirischer Zusammen-hang zwischen Einkommensungleichheit und sozialer (intergenerationaler) Mobilität, zwischen dem Wohl-stand der Eltern und der Karriere der Kinder. In Län-dern mit hoher Ungleichheit können sich etwa Kinder reicher Eltern in gute Schulen und Hochschulen ein-kaufen, von Chancengleichheit keine Spur: Die Rei-chen bleiben reich, die Armen arm. Das aber impliziert eine Verschleuderung gesellschaftlicher Ressourcen.

Die deutsche Nachkriegsgesellschaft verkörpert tra-ditionell ein Modell relativ geringer Ungleichheit und bot lange Zeit soziale Mobilität, also Durchlässigkeit zwischen den Schichten. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen in der Professorenschaft etwa kommen aus einfachen sozialen Verhältnissen. Doch jetzt zei-gen sich, wie zum Beispiel an den PISA-Ergebnissen erkennbar, die eine sehr starke Abhängigkeit der Bil-dungswege der Kinder vom Bildungsstand und Ein-kommen des Elternhauses nachweisen, erste Indizien, dass in Deutschland die Durchlässigkeit zwischen den Schichten schwindet, dass die intergenerationale Mo-bilität nachlässt, kurzum: dass die Ungleichheit ein ge-sundes Maß überschreitet.

G.I.B.: Das Einkommen aus Erwerbstätigkeit oder Selbstständigkeit dürfte als alleiniger Indikator für Ungleichheit allerdings kaum ausreichen. Tatsache ist, dass 50 Prozent der Beschäftigten und Selbststän-digen 95 Prozent der Einkommenssteuer tragen und

„Sozialvertrauen ist ein hoher

sozialer und ökonomischer Wert“

Seit mehr als einem Jahrzehnt hält die gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung in Deutschland mit dem Pro-duktivitätszuwachs nicht mehr Schritt. Die Reallöhne stagnieren und sind in manchen Bereichen sogar rück-läufig. Niedrig- bzw. Armutslöhne breiten sich aus mit dem Resultat, dass bestimmte Gruppen von Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmern von der Steigerung des Wohlstands abgekoppelt werden. Wir sprachen mit Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Möller, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg, der Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit, über die Ursachen und die mittel- und langfristigen gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Entwicklung.

Inzwischen bewegen wir uns wieder auf

einem Ungleichheits-Niveau wie es für die

Zeit der Stahlbarone typisch war.

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die anderen 50 Prozent lediglich die restlichen 5 Prozent. Welche Indikatoren sind also noch zu be-rücksichtigen?Prof. Möller: Richtig ist, dass das Einkommen insge-samt gleicher ist als das am Markt erzielte, denn das Steuersystem ist in der Tat eine Umverteilungsmaschi-nerie, die zwar nicht perfekt funktioniert, aber über die Progression der Einkommenssteuer sowie zusätz-lich über die Sozialtransfers findet eine Umverteilung statt. Beim Markteinkommen aber, also bei den Löh-nen und Gehältern, stellen wir seit Mitte der 1990er Jahre erhebliche Veränderungen fest, so plötzlich und dramatisch, als sei ein Schalter umgelegt worden. Wo-ran lag das?

In den 1990er Jahren wurden zwei Faktoren für die Entwicklung verantwortlich gemacht: der technische Fortschritt und die Globalisierung, von denen welt-weit die entwickelten Länder sehr stark berührt wa-ren. Mit dem technischen Fortschritt vor allem über die Computerisierung – das kann die numerisch gesteu-erte Werkzeugmaschine genauso sein wie der PC – hat sich der Wert von Qualifikation erhöht, weil qualifi-zierte Menschen eher in der Lage sind, die produk-tiven Potenziale der neuen Technik zu nutzen. Hinzu kam die veränderte Organisation in den Betrieben, manche sprachen gar von einer „organisatorischen Revolution“. Multitasking-Arbeiten in den Betrie-ben lösten die Arbeit am Fließband mit immer glei-chem Handgriff ab. Das begünstigte die höher Qua-lifizierten, weil sie über die dafür nötige Flexibilität verfügen, wohingegen die Fließbandproduktion in den 1950er und 1960er Jahren, der Siegeszug des Taylo-rismus, die gering Qualifizierten begünstigt hatte. In der Zeit hat Deutschland ganz bewusst gering quali-fizierte Arbeiter aus der Türkei und anderen Ländern angeheuert. Sie waren billig und gut einsetzbar, weil gering qualifiziert. Heute zeigt sich in all unseren Da-ten ein Trend zur Höherqualifikation.

Neben dem technischen Fortschritt und den damit verbundenen organisatorischen Veränderungen ist die Globalisierung der zweite entscheidende Faktor. Mit ihr stand vor allem im asiatischen Raum ein un-

erschöpfliches Reservoir an Arbeitskräften mit gerin-gen und mittleren Qualifikationen zur Verfügung, ge-gen das zu konkurrieren als fast aussichtslos erschien. Das ging tendenziell zulasten der geringer Qualifi-zierten, denn anders als höhere Funktionen wie De-sign, Forschung und Entwicklung, Marketing und Unternehmensführung, wurden einfache produk-tive Tätigkeiten ausgelagert. Mehr noch als die Glo-balisierung aber galt der technische Fortschritt als die treibende Kraft, denn in den USA spielt der Au-ßenhandel nicht die exponierte Rolle wie in Europa und dennoch waren diese Tendenzen dort sehr stark und sogar zuerst sichtbar und kamen erst mit Zeit-verzögerung in Europa an.

Im letzten Jahrzehnt hat sich die Debatte verschoben. Jetzt heißt es: Es kommt auf die „tasks“, auf die Aufga-ben an. Sie lassen sich nach „manuell“ und „kognitiv“ unterscheiden sowie nach „Routine“ und „Nicht-Rou-tine“. Die Hochqualifizierten arbeiten im kognitiven, nicht-routinisierten Bereich, und das ist ein Wachs-tumsfeld. Die Mittelqualifizierten arbeiten häufig kogni tiv, aber routiniert. Typisches Beispiel dafür ist der Buchhalter. Im unteren Qualifikationsbereich ar-beiten Menschen manuell, aber das kann sowohl Rou-tine sein oder auch interaktiv wie etwa die Bedienung im Restaurant. Diese interaktiven Tätigkeiten lassen sich nicht leicht rationalisieren, alle gleichförmigen Routine-Tätigkeiten hingegen schon, und so fallen im mittleren und im unteren Bereich Tätigkeiten wie die des Buchhalters oder des Fließbandarbeiters weg. Wa-ren die Verluste an Tätigkeiten im untersten Bereich in den 1980er und 1990er Jahren besonders stark, die gering Qualifizierten also die absoluten Verlierer,

Beim Markteinkommen, also bei den Löhnen

und Gehältern, stellen wir seit Mitte der

1990er Jahre erhebliche Veränderungen

fest, so plötzlich und dramatisch, als sei

ein Schalter umgelegt worden.

Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Möller,

Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt

und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg

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hat dieser Trend heute relativ an Bedeutung verloren. Stattdessen, zeigen die amerikanischen Daten, gerät zunehmend die Middle-class unter Druck.

Für Deutschland sehen wir in unseren Daten das Phä-nomen – noch, muss man sagen – nicht. Bei uns sind Menschen im unteren Qualifikationsbereich nach wie vor die Verlierer, und zwar so stark, dass die Erhard-sche Formel vom „Wohlstand für alle“ für sie längst nicht mehr gilt. Ein 40-jähriger gering Qualifizierter verfügt heute im Mittel nicht mehr über die Kaufkraft wie eine entsprechende Vergleichsperson Anfang der 1980er Jahre, sondern über spürbar weniger Marktein-kommen, was angesichts der Lohnverteilung bedeu-tet, dass in den letzten Dekaden einige Menschen ganz massiv verloren haben.

G.I.B.: Hat die von Ihnen beschriebene Entwicklung eine eigene Qualität im Vergleich zu früheren indus-triellen Umbruchphasen?

Prof. Möller: Ja, unsere individuellen Mikro-Daten gehen zurück bis ins Jahr 1975. Wir wissen, dass sich die Lohnentwicklung für unterschiedliche Gruppen in den 1950er und 1960er Jahren relativ ähnlich dar-gestellt hat. Wir hatten sogar in Phasen, in denen ein Bedarf an gering Qualifizierten bestand, über die ta-rifpolitische Festlegung von Sockelbeträgen, die eine prozentual stärkere Anhebung der unteren Entgelt-gruppen bewirkten, einen Rückgang der Streuung bei der Lohnverteilung. Insofern ist die gegenwärtige Ent-wicklung für die Nachkriegszeit in der Tat eine neue Qualität. Insbesondere für Deutschland kam, bedingt durch die geografische Lage, mit der Ost-Öffnung ein

weiterer Faktor hinzu: Plötzlich lagen Billiglohnländer direkt vor unserer Haustür, dazu gehörte auch Ost-deutschland, ein Gebiet ohne jegliche Tarifabdeckung. Das hat die Position der Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer fundamental geschwächt. Unternehmen drohten mit der Arbeitsplatzverlagerung: „Wenn ihr nicht zustimmt, dann war̀ s das hier, dann wechseln wir den Standort.“ Auch wenn die Verlagerung nicht im großen Stil praktiziert wurde: Die Drohung hat ge-wirkt und das Gleichgewicht zwischen den Tarifver-tragsparteien verändert.

G.I.B.: War die Agenda 2010 das richtige Mittel, um auch gering Qualifizierten in den Job zu verhelfen?Prof. Möller: Ich glaube, es ist Deutschland nichts anderes übrig geblieben, als so vorzugehen, denn mit mehr als fünf Millionen verdeckten oder offenen Ar-beitslosen war der Problemdruck enorm. Wir hatten mit dem Zeitpunkt der Reform allerdings auch Glück, weil sie in die Phase einer großen weltwirtschaftlichen Expansion fiel. 2006 und 2007 waren richtig fette Jahre, sodass ein Beschäftigungsaufbau und ein Ab-bau der Arbeitslosigkeit sehr schnell erkennbar waren. Länder hingegen, die jetzt in der Krise ihren Arbeits-markt reformieren und wie zum Beispiel Griechen-land schmerzliche Einschnitte vorgenommen haben, ohne dass sich eine positive wirtschaftliche Wirkung zeigt oder die Entwicklung sogar noch weiter berg-ab geht, sehen sich mit Massendemonstrationen ge-gen die Reformen konfrontiert.

G.I.B.: Unter dem Einfluss der Agenda 2010, durch die Liberalisierung des Arbeitsmarkts, hat sich der Niedriglohnsektor ausgeweitet, und trotz der „fetten Jahre“ hat die Lohnspreizung zugenommen. Der Spruch: „Die Flut hebt alle Boote“ stimmt offensicht-lich nicht. Prof. Möller: Ja, die Reformen haben noch einmal zur Verstärkung des seit Mitte der 1990er Jahre zu beobachtenden Trends vergleichsweise sinkender Markteinkommen gering Qualifizierter geführt. Wa-rum? Das IAB hat 2005 und 2006 Firmen gefragt, ob sich das Verhalten der Arbeitsuchenden und der Be-legschaften hinsichtlich der Akzeptanz schlechterer

Bei uns sind Menschen im unteren

Qualifikationsbereich nach wie vor die

Verlierer, und zwar so stark, dass die

Erhardsche Formel vom „Wohlstand für alle“

für sie längst nicht mehr gilt.

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Arbeitsbedingungen oder auch schlechter bezahlter Arbeit verändert haben: Ja, antworteten sie, bewirkt durch den zunehmenden Druck hat sich das Akzep-tanzverhalten verändert. Die Agenda 2010 war also die Peitsche, die besagte Verhaltensänderungen be-wirkt und zu einer höheren Ungleichheit geführt hat. Der politische Wille, einen Niedriglohnsektor aufzu-bauen, war vorhanden.

G.I.B.: Sind Niedriglöhne wirklich nötig, um Men-schen, insbesondere Langzeitarbeitslose, in Beschäf-tigung zu bringen?Prof. Möller: Wenn ein Niedriglohn lediglich ein Ein-stiegslohn ist und ein gering bezahlter Beschäftigter die Möglichkeit hat, innerhalb von zwei, drei oder fünf Jahren da herauszukommen, dann ist der Nied-riglohn anders zu bewerten, als wenn er eine Falle ist. Alle ernst zu nehmenden Studien zeigen jedoch, dass die Aufstiegsmobilität nicht zu-, sondern abge-nommen hat. Der Niedriglohn lässt sich also nicht einfach mit dem Hinweis rechtfertigen, er sei nur ein Einstieg, vielmehr sind viele Menschen dauerhaft im Niedriglohnsektor gefangen. Wenn aber Perspektiv-losigkeit zunimmt, wenn größere Gruppen von Men-schen frus triert sind, hat das soziale Folgen, dann löst sich der gesellschaftliche Kitt.

Sicher ist Langzeitarbeitslosigkeit das schlimmste Übel, sie erzeugt hohe Unzufriedenheit. Aber nicht weit da-hinter rangiert auf der Skala ein schlecht bezahlter Job. Die Gretchenfrage ist die von Ihnen gestellte: War der Ausbau des Niedriglohnsektors notwendig, um mehr Menschen in den Job zu bekommen? Das ist nach wie vor umstritten. Meine Position ist, dass das Ausmaß des Niedriglohnsektors mit Sicherheit übertrieben ist, dass Politik und Wirtschaft die Schraube überdreht haben und zu weit gegangen sind, denn – das belegen neueste Daten – auch für durchgängig Beschäftigte hat die Ungleichheit bei den Löhnen zugenommen. Hier zieht also das Argument nicht: Die Löhne muss-ten ungleicher werden, damit gering Qualifizierte in Beschäftigung kommen. Die neuesten Daten sind ein erstes starkes Indiz, dass da etwas über ein gesundes Maß hinausgeschossen ist.

G.I.B.: Das ökonomische Argument lautete: Die Pro-duktivität mancher Menschen ist so gering, dass man sie nur niedrig bezahlen kann – oder sie sind arbeits-los.Prof. Möller: Ich will nicht abstreiten, dass wir eine Gruppe von Menschen fast ohne Qualifikationen ha-ben, die nicht einfach zu integrieren ist. Doch das Pro-duktivitätsargument gilt nur für einen Betrieb insge-samt, insofern Produktivität, Lohnsumme und Umsatz in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen

müssen. Aber bei der Bezahlung innerhalb eines Be-triebs gibt es viele Spielräume. Die stark divergierenden Verdienste eines Chefarztes und einer Krankenschwe-ster zum Beispiel sind vor allem durch soziale Konven-tionen bedingt. Dass ein Krankenhaus insgesamt keine roten Zahlen schreiben darf, ist klar, aber die Relati-on zwischen den Gehältern könnte durchaus anders aussehen, denn wie ließe sich die Produktivität einer Krankenschwester messen oder eines Uni-Professors oder von Personen, meist Frauen, die in den Hotels die Betten machen und lausig bezahlt werden? Geht die Nachfrage nach Übernachtungen tatsächlich mas-siv zurück, wenn Hotelbedienstete statt fünf Euro pro Stunde acht Euro verdienen? Aus meiner Sicht wird das keine große Rolle spielen. Übrigens wird in der Schweiz eine Krankenschwester etwa doppelt so hoch bezahlt wie in Deutschland. Heißt das: Die Produkti-vität einer Krankenschwester ist in der Alpenrepublik doppelt so hoch wie bei uns? Wohl kaum.

Zudem müssen wir uns vor Augen führen, dass über den Mindestlohn immer auch gewisse Produktivitäts-effekte erzeugt werden, weil darüber eine stärkere Bin-

Plötzlich lagen Billiglohnländer direkt

vor unserer Haustür, dazu gehörte auch

Ostdeutschland, ein Gebiet ohne jegliche

Tarifabdeckung. Das hat die Position der

Arbeitnehmer fundamental geschwächt.

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dung der Beschäftigten an ihren Job stattfindet und die Fluktuation nachlässt, was wiederum für Unter-nehmen die hohen Kosten für die Suche nach Arbeits-kräften senkt. Zudem qualifizieren sich Beschäftigte bei einer langfristigen Ausübung ihrer Tätigkeit und steigern so ihre Produktivität.

Die Widerstände gegen Mindestlöhne resultieren meist aus der einzelbetrieblichen Perspektive. Unternehmen sehen ihre Rentabilität gefährdet und übersehen da-bei, dass der Mindestlohn in der gesamten Innung oder Branche gezahlt werden muss. Die Furcht vor schädlichem Wettbewerb ist also unbegründet, weil das Niveau insgesamt angehoben wird. Ein starkes Argument für den Mindestlohn ist, dass ohne eine Grenze nach unten die schlechte Firma, die skrupel-los die niedrigsten Löhne zahlt, die gute Firma, die auf Qualität, auf bessere Produkte oder auf Innova-tion setzt, verdrängen kann.

G.I.B.: Ein Wettbewerb über Dumpinglöhne darf nicht sein, sagen Sie, und benennen in Ihrer aktuellen Veröffentlichung „Ausbau auf solidem Fundament: Was am Arbeitsmarkt angepackt werden muss“ drei zentrale Herausforderungen. Den Abbau der (Lang-zeit-)Arbeitslosigkeit, die Gestaltung des demografischen Wandels durch Fachkräftesicherung sowie die Qua-litätsverbesserung von Beschäftigung. Was genau ist nach Ihrer Ansicht zu tun?

Prof. Möller: Die Jobchancen von Arbeitslosen, die sich über Jahre hinweg verbessert hatten, sinken ge-genwärtig wieder. Trotz vorhandener Nachfrage, trotz steigender Beschäftigtenzahlen, kommt aufgrund ei-

ner erhöhten Beteiligung von Frauen, Älteren und Zugewanderten an der Erwerbsarbeit der Abbau der Arbeitslosigkeit nicht mehr voran. Strukturelle Pro-bleme wie die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit und das fehlende Matching zwischen dem Profil der Ar-beitslosen und den offenen Stellen bestehen weiterhin. Gefragt sind zur Lösung der Probleme – präventiv – ein leistungsfähigeres Bildungssystem, mehr Investi-tionen in Weiterbildung sowie eine bessere Wirkung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen und verstärkte Vermittlungsaktivitäten.

Zur Gestaltung des demografischen Wandels durch Fachkräftesicherung: Ein demografisch bedingter Rückgang der Erwerbsbevölkerung ist absehbar. Sollte die gegenwärtige Nachfrage nach Arbeitskräften auf hohem Niveau anhalten, könnten sich Chancen für eine weitere Reduzierung der Arbeitslosigkeit erge-ben. Es wäre jedoch illusorisch zu glauben, dass sich ein solcher Ausgleichsprozess von selbst ergibt. Viel-mehr muss die Teilhabe am Erwerbsleben gefördert, das Arbeitsvolumen ausgeweitet, müssen Bildungs- und Ausbildungsbeteiligung gestärkt werden. Zu he-bende Potenziale liegen außer bei den Arbeitslosen vor allem bei den Frauen – nicht zuletzt den in Deutsch-land lebenden Migrantinnen – und den Älteren. Zu-dem muss sich Deutschland verstärkt um qualifizierte Zuwanderer bemühen.

Zur Qualität von Beschäftigung: So genannte aty-pische Beschäftigungsformen wie Teilzeit- und Mini-jobs, befristete Beschäftigung und Zeitarbeit haben in den beiden letzten Jahrzehnten deutlich zugelegt. Auch wenn diese Erwerbsformen oft den Wünschen und Bedürfnissen der Betroffenen entsprechen und ganz klar der Arbeitslosigkeit vorzuziehen sind, sollte man die in vielen Fällen damit verbundenen Probleme nicht ausblenden, denn häufig fallen niedrige Bezah-lung, Instabilität, schlechte Arbeitsbedingungen und wiederkehrende Arbeitslosigkeit bei bestimmten Per-sonen zusammen. Bei einem dieser Aspekte, der Be-schäftigungsstabilität, müssen wir unterscheiden: Es gibt viele Bereiche mit relativ hoher Beschäftigungs-sicherheit. Die durchschnittliche Betriebszugehörig-

Ohne eine Grenze nach unten verdrängt

die schlechte Firma, die skrupellos die

niedrigsten Löhne zahlt, die gute Firma, die

auf Qualität, auf bessere Produkte oder auf

Innovation setzt.

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keitsdauer für Personen über 30 hat sich nicht verrin-gert, sondern sogar ganz leicht nach oben entwickelt. Anders bei den Personen unter 30 Jahren. Hier ist die durchschnittliche Beschäftigungsdauer spürbar ge-sunken. Wir wissen nicht, inwieweit das manchmal auch den Wünschen junger Menschen entspricht, die im Arbeitsplatzwechsel vielleicht neue Chancen sehen. Raschere Arbeitsplatzwechsel müssen also nicht im-mer negativ zu bewerten sein. Problematisch sind aber beispielsweise lediglich kurzfristige Beschäftigungen gering Qualifizierter in der Leiharbeit mit Drehtür-effekt. Dieser Wechsel von kurzfristigen Beschäfti-gungsverhältnissen mit immer wiederkehrender Ar-beitslosigkeit ist eine Falle, aus der viele nur schwer wieder herauskommen. Wir brauchen eine nachhaltige Verbesserung von Erwerbsbiografien, eine möglichst kontinuierliche Erwerbstätigkeit und auskömmliche Einkommen. Ziel muss sein, die Qualität von Beschäf-tigung kontinuierlich zu verbessern, ohne dabei den Zugang zum Arbeitsmarkt zu gefährden.

G.I.B.: Ein Argument gegen den gesetzlich verankerten flächendeckenden Mindestlohn lautet: Entweder ist er so niedrig, dass er nichts bewirkt, oder so hoch, dass er Arbeitsplätze gefährdet. Auch das nicht un-bedingt arbeitgebernahe Deutsche Institut für Wirt-schaftsforschung, das DIW Berlin, hat in seiner jüngsten Studie den Mindestlohn als „Förderprogramm für Minijobs bezeichnet“. Teilen Sie die Auffassung?Prof. Möller: Dass es nicht einfach ist, die richtige Höhe für einen Mindestlohn festzulegen, ist grund-sätzlich richtig, das würde ich sofort unterschreiben. Die Behauptung, dass er zwangsläufig entweder zu niedrig oder zu hoch ist, halte ich aber für falsch, denn um genau den Bereich zwischen „wirkungslos“ und „Arbeitsplatzgefährdung“, also um das rich-tige Maß, geht es ja gerade. Wäre der Arbeitsmarkt ein perfekter Markt, hätten diejenigen Recht, die sa-gen: Jeder Markteingriff ist wirkungslos oder führt zu Arbeitslosigkeit. Aber der Arbeitsmarkt ist nicht perfekt. Oft wird übersehen, dass Mindestlöhne sich nicht nur auf die Arbeitsnachfrage der Unternehmen auswirken, sondern auch auf das Arbeitskräfteange-bot. Das gilt vor allem für „unperfekte“ Arbeitsmär-

kte, auf denen also nur unvollkommener Wettbewerb herrscht und Unternehmen über eine gewisse Markt-macht verfügen.

Das ist zum Beispiel der Fall, wenn ein sehr großer Arbeitgeber den lokalen Arbeitsmarkt dominiert oder wenn Menschen, die auf dem Land leben, nur eine be-grenzte Auswahl von Unternehmen als Arbeitgeber zur Verfügung steht oder wenn eine Kinderbetreu-ungseinrichtung in der Nähe des Betriebs vorhanden ist und eine alleinerziehende Mutter für diesen Vor-

teil bereit ist, einen sehr niedrigen Lohn zu akzeptie-ren. Es gibt große Bereiche, in denen Marktmacht eine Rolle spielt. Bei einer Arbeitslosenquote von fast 20 Prozent unter den gering Qualifizierten ist immer ein Reserveheer vorhanden, das Unternehmen erlaubt, ihre Marktmacht auszuspielen und ihren Gewinn zu steigern, indem sie Löhne zahlen, die unter dem Ni-veau eines perfekten Arbeitsmarkts liegen. Ein mo-derater Mindestlohn, der in diesen Fällen die Diskre-panz wieder ausgleicht, also Marktmacht reguliert, kann sogar zu positiven Beschäftigungseffekten füh-ren, da der Lohnanstieg zu einer schnelleren Beset-zung offener Stellen führen kann, weil sie so attrak-tiver geworden sind.

Ein überraschendes, interessantes Phänomen als Beleg dafür: Im Rahmen unserer quartalsmäßigen Repräsen-tativbefragungen zum Stellenangebot fragten wir Un-ternehmen, bei welchen Berufen oder Qualifikationen es Probleme bei der Stellenbesetzung gibt. Da wur-den, wie erwartet, zunächst Ingenieure und Kranken-schwestern genannt, doch dann tauchten relativ bald

Die Ergebnisse unserer Repräsentativ-

befragung zeigen, dass eine bessere Bezah-

lung zu einer schnelleren Besetzung offener

Stellen führen und insofern auch einen

positiven Beschäftigungseffekt haben kann.

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Hilfskräfte auf. Wie kann das sein? Fast ein Fünftel der Geringqualifizierten ist arbeitslos! Da müsste es doch relativ einfach sein, Hilfskräfte zu finden. Aber die Antwort ist klar: Inzwischen ist das Lohnniveau so niedrig, dass die Anreize fehlen. Ökonomisch be-trachtet heißt das: Die entsprechenden Personengrup-pen sind mehr oder weniger indifferent, wenn es da-

rum geht, einen Job zu haben oder nicht zu haben. Die Bindung an einen solchen Job ist sehr gering, sie sind schnell dabei, aber auch schnell wieder weg. Neue Leute zu finden ist schwierig. Die Ergebnisse unserer Repräsentativbefragung legen nahe, dass eine besse-re Bezahlung zu einer schnelleren Besetzung offener Stellen führen und insofern auch einen positiven Be-schäftigungseffekt haben kann.

G.I.B.: Sie sprechen vom „moderaten“ Mindestlohn. Welche Mindestlohnhöhe wäre nach Ihrer Auffassung „moderat“?Prof. Möller: Niemand kann a priori genau sagen, wo die kritische Linie liegt. Frankreich hat einen relativ hohen Mindestlohn, der in einem Bereich liegt, der Jobs kosten kann. Großbritannien hat einen Mindest-lohn eingeführt ohne negative Auswirkungen auf die Beschäftigung. Hier sind – eindeutig belegbar – kei-ne Jobs verloren gegangen. Großbritannien ist inso-fern das Musterbeispiel. Die Höhe des Mindestlohns ist auch dort ein bisschen umstritten, aber es besteht mittlerweile beim Mindestlohn in Großbritannien grundsätzlich ein breiter gesellschaftlicher Konsens, keine Interessengruppe will ihn abschaffen. Vor der Einführung des Mindestlohns in den 1990er Jahren gab es aber in Großbritannien die gleiche Debatte wie jetzt in Deutschland. Auch dort wurde der Untergang des Abendlandes an die Wand gemalt. Von Jobver-lusten in Millionenhöhe war die Rede. Nichts davon ist passiert! Dennoch muss man festhalten: Im Grunde

ist die Suche nach der optimalen Höhe des Mindest-lohns ein Stochern im Nebel. Mein Vorschlag wäre, einen relativ niedrigen Einstieg zu wählen und an-schließend zu versuchen, sich wie in Großbritannien an das richtige Maß heranzutasten, um festzustellen, an welcher Stelle es kippt, ab wann Arbeitsplätze ver-loren gehen. Das wäre dann die Grenze.

G.I.B.: Bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro müssten in Deutschland die Löhne von 17 Prozent aller Be-schäftigten erhöht werden, bei einem Mindestlohn von 10,50 Euro sogar von 26 Prozent der Beschäftigten. Eine Lohnerhöhung für ein Viertel aller Beschäftigten wäre doch kaum zu finanzieren oder würde zum Abbau von Arbeitsplätzen führen. Prof. Möller: Da ist was dran. In Großbritannien ha-ben rund fünf Prozent aller Beschäftigten von der Er-höhung des Mindestlohns profitiert. Das ist deutlich niedriger als 17 Prozent. 8,50 Euro sind nach meiner Auffassung schon relativ hoch, da habe ich schon ein bisschen Bauchschmerzen. Deshalb mein Plädoyer, sich von unten an das richtige Maß heranzutasten, um festzustellen, was noch vertretbar ist. Ein Mindest-lohn von 8,50 Euro beträfe in Ostdeutschland, wo die Lohnverteilung ja noch einmal anders aussieht, circa 25 Prozent der Beschäftigten. Wegen der immer noch bestehenden deutlichen Unterschiede in der durch-schnittlichen Produktivität der ost- und westdeutschen Betriebe sollten wir für einen Übergangszeitraum zwi-schen Ost- und Westdeutschland differenzieren. Ich weiß, dass die Menschen in den östlichen Bundeslän-dern genauso hart arbeiten wie die im Westen. Wenn sie aber aufgrund eines zu hohen Mindestlohns ar-beitslos werden, wäre niemandem geholfen. Zudem sollten Jugendliche von der Mindestlohnregelung aus-genommen werden, weil sonst Fehlanreize hinsicht-lich einer Ausbildungsentscheidung gegeben werden. Eine Festsetzung des Mindestlohns auf kleinräumiger Ebene ist dagegen wegen der dadurch geschaffenen In-transparenz und der möglichen Ausweichreaktionen von Betrieben nicht zielführend.

Ein moderater Mindestlohn aber könnte nicht nur ei-nen Beitrag zur Senkung des deutschen Niedriglohn-

Gegenseitiges Vertrauen funktioniert aber

nur, wenn alle das Gefühl haben, nicht die Ab-

gehängten zu sein.

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FAIRE ARBEIT, FAIRE LÖHNE

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sektors, dessen Größe innerhalb der EU nur noch von Ländern wie Litauen übertroffen wird, leisten, sondern auch das wichtige Signal senden, dass eine Vollzeitbe-schäftigung auch am unteren Rand der Lohnvertei-lung zumindest für Alleinstehende das soziokulturelle Existenzminimum sichert.

Wir sollten die großen Lohnspreizungen wieder zurück-führen auf ein vernünftiges Maß. Dabei ist der Min-destlohn nur ein Punkt. Wenn wir über den Niedrig-lohnbereich nachdenken, spielen natürlich auch andere Aspekte eine Rolle. Das geht beispielsweise auch in die Minijob-Debatte hinein. Könnten wir nicht vielleicht einzelne Vorteile der Minijobs wie einfache Adminis-tration und Anmeldung bewahren, aber die Minijob-Falle vermeiden, die dadurch eintritt, dass Beschäftigte mit regulärem Job brutto deutlich mehr verdienen müs-sen als Minijobber, wenn sie deren Nettolohn erzie-len wollen? Nach meiner Ansicht sinnvolle Reformen beträfen die Steuergesetzgebung bis hin zum Ehegat-tensplitting sowie die Regelungen zur Sozialversiche-rung. Um Benachteiligte zu stärken, sollte man noch einmal darüber nachdenken, ob es nicht praktikabel ist, die Sozialbeiträge progressiv zu gestalten, also im unteren Bereich geringere Sozialabgaben anzusetzen.

G.I.B.: In Deutschland – wir sprachen bereits darüber – galt lange das Erhardsche Leitbild „Wohlstand für alle“. Das scheint heute genauso wenig zu gelten wie der einstige amerikanische Mythos vom Tellerwäscher, der zum Millionär avanciert. Fehlt es an solchen Leitbildern in Deutschland?Prof. Möller: Wenn man Wohlstand für alle so inter-pretiert, dass alle Gruppen am Fortschritt, am wach-senden Wohlstand partizipieren, dann sollte dieses Leitbild weiterhin gültig sein. Wenn wir das aufge-ben, entstehen zwangsläufig Spaltungstendenzen, ent-stehen abgehängte, demotivierte Personengruppen, und das ist auf Dauer nicht gut für die Gesellschaft. Ein auch langfristig wichtiger Faktor für Wirtschafts-wachstum ist das, was Soziologen Sozialkapital nen-nen, „trust“, also Vertrauen. Gegenseitiges Vertrauen funktioniert aber nur, wenn alle das Gefühl haben, nicht die Abgehängten zu sein. Das über Jahrzehnte

etablierte und gut funktionierende traditionelle deut-sche Modell der sozialen Marktwirtschaft wäre sonst radikal in Frage gestellt. Eine Zeitlang, insbesondere in Phasen wirtschaftlicher Prosperität, mag ein Ver-zicht auf einen starken gesellschaftlichen Zusammen-halt halbwegs funktionieren, aber auf Dauer und ins-besondere in wirtschaftlich kritischen Phasen wachsen dann die gesellschaftlichen Folgekosten wie beispiels-weise die Kriminalität. Die Zusammenhänge sind ja alle gut belegt. Wenn die zu konstatierende Ungleich-heit noch ungebremst weitergeht: Wollen wir wirk-lich abgeschottete, bewachte Reichen-Ghettos haben? Das wäre doch schlimm! Mit unserer tour d`horizon haben wir in diesem Interview zentrale Aspekte un-serer gesellschaftlichen Wirklichkeit angesprochen, die mich sehr bewegen. Kürzlich hatte ich eine itali-enische Politikerin zu Gast. Sie sagte: „Ich habe hier in Deutschland Felder gesehen, wo Menschen Blumen pflücken und das von ihnen dafür als angemessen er-achtete Geld in eine aufgestellte Box werfen können. Das würde in Italien nie funktionieren!“ Ich will sa-gen: Das in Deutschland immer noch grundsätzlich vorhandene Sozialvertrauen ist ein hoher sozialer, aber auch ökonomischer Wert, den wir durch ungerechte Ungleichheit nicht aufs Spiel setzen sollten.

DAS INTERVIEW FÜHRTEN

Manfred Keuler, Tel.: 02041 767-152

E-Mail: [email protected]

Arnold Kratz, Tel.: 02041 767-209

E-Mail: [email protected]

Paul Pantel, Tel.: 02324 239466

E-Mail: [email protected]

KONTAKT

Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Möller

Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)

der Bundesagentur für Arbeit (BA)

Regensburger Straße 104

90478 Nürnberg

E-Mail: [email protected]

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Irgendwas stimmt nicht beim Übergang vom Studium in den Beruf. Das unter-

stellt zumindest die Formulierung von der „Generation Praktikum“. Demnach

tritt ein großer Teil der jährlich rund 200 000 Hochschulabsolventinnen und

-absolventen ein Praktikum an, statt direkt in ein reguläres Beschäftigungs-

verhältnis oder eine weiterführende Qualifikationsphase zu wechseln. Ob der

Begriff gerechtfertigt oder irreführend ist – die Frage war Gegenstand eines

Workshops der G.I.B.-Sommerakademie im Juli 2013, der zugleich eine Antwort

darauf suchte, wie sich der Übergang vom Studium in den Beruf möglichst ohne

Prekaritätserfahrungen der Ex-Studierenden managen lässt.

Generation PraktikumGut ausgebildet und ausgebeutet?

Endlich rein ins Berufsleben und gutes Geld verdienen! Jahrelang studiert, alle von der Studienordnung vorgeschriebenen Pflichtpraktika absolviert, jetzt Hoch-schulabschluss mit besten Noten und Medienberichte im Kopf, die behaupten, Fachkräfte würden von den Unterneh-men händeringend gesucht und dann – nein, keine feste Stelle, nicht einmal eine befristete, sondern: Noch ein Praktikum, vielleicht auch zwei oder drei, womög-lich unbezahlt und wenn doch entlohnt, dann zu einem durchschnittlichen Stun-denbrutto von 3,77 Euro bei einer Wo-chenarbeitszeit, die der eines Vollzeitbe-schäftigten entspricht.

Das hier geschilderte Szenario, behaup-ten die einen, sei lediglich eine temporä-re Randerscheinung, von der nur eine ge-ringe Zahl von Hochschulabsolventinnen und -absolventen betroffen ist. Gewerk-schaften hingegen orten eine wachsende Zahl prekärer Praktika, die zunehmend reguläre Beschäftigungsverhältnisse er-setzen. Nach ihrer Ansicht besteht po-litischer, gesetzgeberischer und tarifver-traglicher Handlungsbedarf.

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Divergierende Zahlen

Um Licht ins Dunkel zu bringen, hatte die Hans-Böckler-Stiftung die Freie Uni-versität in Berlin mit der Erstellung einer Studie beauftragt, die unter dem Titel „Praktika nach Studienabschluss. Zwi-schen Fairness und Ausbeutung“ veröf-fentlicht worden ist.

Schnell war den beauftragten Wissen-schaftlern Dr. Boris Schmidt und Heide-marie Hecht klar, dass Erkenntnisse über das genaue Ausmaß an Praktika nach Stu-dienabschluss nicht leicht zu gewinnen sind. Grund dafür ist nach ihrer Ansicht die Unschärfe des Begriffs: „Praktika sind kurze bis längere Phasen einer nicht-re-gulären, befristeten und mit dem Ziel ei-ner beruflichen Orientierung verbundenen Tätigkeit außerhalb des Curriculums in einem Unternehmen, in einer Organisa-tion oder bei einem anderen Arbeitgeber, die zumindest dem Label nach auch dem Lernen sowie der Vertiefung von Kompe-tenzen oder Kontakten dienen soll. Damit ähneln Praktika Hospitationen, Referen-dariaten, Volontariaten oder Traineepha-sen, sind aber etwas weniger institutionali-siert, so dass“, bringen die Wissenschaftler die Definitionsprobleme auf den Punkt, „Praktika vieles nicht, sondern eher eine Restmenge sind.“ Ein weiteres Dilemma ergebe sich nach „Bologna“ aus der Fra-ge, ob ein Praktikum zwischen Bachelor-Abschluss und Masterstudium-Beginn als Praktikum nach Studienabschluss zu wer-ten sei oder nicht.

Kaum eine Überraschung vor diesem Hin-tergrund, dass die Zahlen wissenschaft-licher Untersuchungen extrem divergieren:

Je nach Definition, Methode und Stichpro-be liegt der ermittelte Anteil der Prakti-kantinnen und Praktikanten nach Studie-nabschluss „zwischen 4 und 40 Prozent“. Doch der „wahre“ Anteil dürfte nach dem Befund von Dr. Boris Schmidt, „ausge-hend von den Ergebnissen vorliegender Repräsentativbefragungen der Hochschul-Informations-System GmbH sowie des Internationalen Instituts für Empirische Sozialökonomie in der hier untersuchten Zeitspanne und den hier untersuchten Fächergruppen unter Universitätsabsol-ventinnen und -absolventen bei rund 16 Prozent liegen, unterdurchschnittlich in Fachrichtungen wie Elektrotechnik oder Informatik, überdurchschnittlich bei-spielsweise in den auslaufenden Magister-studiengängen, in Psychologie, Sprach- und Kulturwissenschaften.“

Hinweise auf Prekarität

Die zentralen Ergebnisse der ausdrück-lich nicht repräsentativen, aber gleichwohl durchaus aussagekräftigen Studie stellte im Workshop der G.I.B.-Sommerakade-mie DGB-Jugendbildungsreferent Niko Köbbe vor. Nach seinen Worten spielen Praktika nach Studienabschluss beim Be-rufseinstieg der Absolventinnen und Ab-solventen „eine große Rolle, obwohl die Befragten bereits durchschnittlich vier Praktika während ihres Studiums absol-viert haben.“ Die Hoffnung von immer-hin der Hälfte aller Praktikantinnen und Praktikanten, im Anschluss an das Prak-tikum einen Job zu bekommen, erfüllt sich jedoch lediglich für 17 Prozent. Dass rund drei Viertel der Befragten meinten, „vollwertige Arbeit“ geleistet zu haben, die „fest in den Betriebsablauf eingep-

lant“ war, sah Niko Köbbe als Bestäti-gung gewerkschaftlicher Befürchtungen, „dass postgraduelle Praktika zum Teil re-guläre Beschäftigung ersetzen.“

Scharf kritisierte der Jugendbildungsre-ferent die „finanzielle Abhängigkeitssi-tuation“ der jungen Menschen, denn 40 Prozent der Praktika sind gänzlich unbe-zahlt und die bezahlten liegen im Schnitt gerade mal bei 550 Euro pro Monat. Be-troffene müssen deshalb andere Finan-zierungsquellen hinzuziehen: So werden 56 Prozent von den Eltern unterstützt, 43 Prozent setzen eigene Ersparnisse ein und 22 Prozent sind während der Praktika sogar auf Sozialleistungen angewiesen.

Fazit der DGB-Jugend: „In einem Alter, in dem neben dem Berufseinstieg auch eine Familiengründung ansteht, ist ausgerech-net die Generation, die bei der Absiche-rung ihrer Altersversorgung nicht mehr allein auf das staatliche Rentensystem ver-trauen kann, mit einer unsicheren Berufs-perspektive konfrontiert.“

Differenzierte Typologie

Was – aus Zeitgründen – beim Workshop der G.I.B.-Sommerakademie nicht aus-führlich zur Sprache kam, war die Dif-ferenziertheit der Untersuchungsergeb-nisse sowie die Idee der für die Studie verantwortlichen Wissenschaftler, auf Ba-sis ebenfalls erhobener „qualitativer Be-schreibungsmerkmale“ eine Typologie der Praktika zu erstellen. Sie zeigt die Existenz vielfältiger „Mischformen“, die nach Auf-fassung der Forscher Simplifizierungen wie „Praktika nach Studienabschluss sind gut“ oder „Praktika sind schlecht“ verbieten.

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So ähnelt „Praktikumstyp I“ („Training on the Job“) der Klassifikation einer Hos-pitation, einem Referendariat oder einem Volontariat, wobei die Praktikantinnen und Praktikanten analog zu Trainees, die direkt in einen Beruf einsteigen, wei-testgehend vollwertige Arbeit leisten und hierfür neben der Lernchance eine zumin-dest annähernd als angemessen empfun-dene Vergütung erhalten.

Praktika des Typs II („faires Lernange-bot“) hingegen sind schlecht bezahlt, je-doch gut und strukturiert betreut, an den Lerninteressen der Praktikantinnen und Praktikanten orientiert und stellen das Lernen in den Vordergrund. Praktikums-typ III („Learning by Doing“) wiederum verläuft unstrukturiert und ohne expli-ziten Praktikumsplan, jedoch mit einer konkreten, spannenden Praktikumsauf-gabe. Dieser Typ ermöglicht den Teilneh-menden, die sie interessierenden Bereiche kennenzulernen und sich in praktischen Tätigkeiten etwa im Rahmen eines kon-kreten Projekts „auszuprobieren“. Dr. Bo-ris Schmidt: „Diese drei Praktikumstypen – sie machen 55 Prozent der Praktika aus – empfinden die Befragten als überwiegend hilfreich und werden von ihnen eher po-sitiv eingeschätzt.“

Anders die restlichen Praktikumstypen: Beim Praktikumstyp IV („Vollzeit-Ne-benjob“) leisten die Praktikantinnen und Praktikanten vollwertige Arbeit, werden aber bestenfalls auf Nebenjob-Niveau be-zahlt. Zudem steht das Lernen nicht ex-plizit im Vordergrund. Allerdings lernen sie hier nach eigenem Bekunden viel „ne-benbei“ und erleben ihr Praktikum des-halb trotzdem überwiegend als hilfreich für die berufliche Zukunft.

Im Praktikumstyp V („unklare Rollen“) hingegen herrscht kein gegenseitiges Ver-ständnis über die Erwartungen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten. Hier sind Prak-tikantin oder Praktikant anwesend, ohne wirklich beteiligt zu sein. Verlauf und Er-gebnisse bleiben diffus, der Ertrag ent-täuschend, ohne jedoch den „Geschmack von Ausbeutung“ zu haben. Extrem der Praktikumstyp VI („billige Arbeitskraft“): Hier wird das Lerninteresse der Teilneh-menden fast völlig ignoriert. Entgegen de-ren Wünschen und Interessen wird hier vollwertige, fest eingeplante Arbeit ohne Gegenleistung verlangt.

Schmidt: „Insgesamt 45 Prozent der von uns erfassten Praktika weisen die ge-nannten Defizite auf und gelten als mit-telmäßige bis schlechte Praktika, wobei jeweils ca. zehn Prozent auf die Typen V und VI fallen.“

Einschätzungen der Befragten

Wie schwierig eine objektive Bewertung der Verhältnisse am Praktikumsmarkt ist, illustriert Schmidt anhand der sub-jektiven Ansprüche der Praktikantinnen und Praktikanten: „Sie empfinden ihre Ar-beit während des Praktikums nach Stu-dienabschluss fast durchweg als vollwer-tigen Beitrag, der – obwohl meist fest in den Betriebsablauf integriert – keine an-gemessene finanzielle Entlohnung findet. Allerdings erwarten sie auch keine der ge-leisteten Arbeit entsprechende Bezahlung und sehen Praktika nicht ernsthaft als Ge-legenheit, um Geld zu verdienen. Wenn ihnen das Praktikum hinreichende Lern-chancen bietet, den Erfahrungsschatz be-reichert, Kompetenzerwerb und berufliche Orientierung ermöglicht, überwiegen für sie die Vorteile eines Praktikums deutlich gegenüber den Nachteilen. Trotz der Ein-

I „Training on the job“16 %

II „faires Lernangebot“15 %

III „Learning by Doing“24 %

IV „Vollzeit-Nebenjob“24 %

V „unklare Rollen“11 %

VI „billige Arbeitskraft“10 %

Praktika: Differenzierte Typologie

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schätzung als prekärer Beschäftigungs-situation sehen sie sich unter dem Strich also tatsächlich fair behandelt. Das heißt: Vollwertige Arbeit bei nicht vollwertiger Bezahlung ist nicht gleichbedeutend mit erlebter Unfairness.“

Dennoch sprechen sich gut drei Viertel der Befragten für regelmäßige Kontrollen aus, um festzustellen, ob Praktikumsplätze re-guläre Beschäftigungsverhältnisse erset-zen, und plädieren für die Festsetzung ei-ner Mindestvergütung für Praktika nach Studienabschluss und damit für ein Ver-bot unentgeltlicher Praktika. Anderer-seits fordern „nur“ 32 Prozent ein gene-relles Verbot von Praktika für Personen mit erfolgreichem Studienabschluss und verlangen stattdessen zum Beispiel befris-tete Verträge, doch der größere Teil (43 Prozent) lehnt dies ab.

Politische Forderungen der DGB-Jugend

Um dem „Missbrauch“ postgradueller Praktika entgegenzuwirken, die Qualität von Praktika zu erhöhen und die rechtliche Situation von Praktikantinnen und Prakti-kanten zu verbessern, fordert die DGB-Ju-gend nach Aussagen ihres Jugendbildungs-referenten unter anderem eine gesetzliche Definition von Praktika „als Lernverhältnis im BGB“, um sie so besser von regulären Beschäftigungsverhältnissen abzugrenzen. „So wäre klargestellt, dass ein Praktikum dem Erwerb beruflicher Kenntnisse, Fertig-keiten und Erfahrungen dienen soll und das Lernen im Vordergrund steht.“ Des Wei-teren fordert sie für alle Praktikantinnen und Praktikanten den „Anspruch auf ein qualifiziertes Zeugnis“, das „Recht auf einen Praktikumsvertrag inklusive Prak-

tikumsplan mit Praktikumsinhalten und -zielen“ sowie feste Ansprechpartner/-in-nen im Sinne eines Ausbilders oder einer Ausbilderin.

Darüber hinaus verlangt die DGB-Jugend eine zeitliche Begrenzung von Praktika auf drei Monate (Ausnahmen sind Praktika, die integraler Bestandteil einer Ausbildung sind) sowie eine Aufwandsentschädigung für Praktika und ähnliche Lernverhält-nisse von mindestens 300 Euro pro Mo-nat während einer beruflichen bzw. voll-zeitschulischen Ausbildung und während des Studiums. Praktika nach Studienab-schluss hingegen seien abzulehnen. „Statt-dessen sollen Unternehmen und Verwal-tungen reguläre Arbeitsverhältnisse bzw. Trainee- und Berufseinstiegsprogramme anbieten, die – wenn keine tariflichen Re-gelungen greifen – mit mindestens 8,50 Euro pro Stunde vergütet werden müs-sen.“ Last not least setzt sich die DGB-Jugend für regelmäßige Kontrollen von Praktika ein, um zu prüfen, ob sie regu-läre Arbeitsplätze ersetzen.“

Abweichende Bewertungen

Nicht zu verschweigen ist, dass die Ergeb-nisse der Studie nicht für alle politischen Schlussfolgerungen eindeutige Belege und Schlussfolgerungen liefern. Aus Sicht der Wissenschaftler stellt sich die Realität der Praktika nach Studienabschluss differen-ziert und facettenreich dar, sodass allzu einfache, pauschale Lösungen der Rea-lität nicht gerecht zu werden scheinen.

So stimmt Dr. Boris Schmidt vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Be-funde zwar den Forderungen der DGB-Jugend nach einer gesetzlichen Defini-

tion von Praktika als Lernverhältnisse, nach dem Recht auf einen Praktikums-vertrag inklusive Praktikumsplan mit Inhalten und Zielen sowie nach einem Anspruch auf ein qualifiziertes Zeugnis zu, doch die Forderung nach zeitlicher Begrenzung von Praktika auf drei Mo-nate weist er mit Verweis auf die Studie-nergebnisse zurück: „Nein“, lautet seine Antwort, „aus verschiedensten Gründen: Drei Monate dauert auf dem Qualifikati-onsniveau von Hochschulabsolventinnen und -absolventen oft schon die Einarbei-tungszeit, richtig gelernt ist in der Zeit oft noch nichts. Die uns vorliegenden Zahlen liefern auch nicht den geringsten Hinweis, dass Kurzpraktika besser wären als Lang-praktika. Zudem haben viele der von den Befragten als fair erlebten Praktika eine Laufzeit von sechs und mehr Monaten. Ich persönlich würde auf der Grundlage dessen, was unsere Studienteilnehmenden für praktikabel halten, die Grenze bei 12 Monaten ziehen, aber länger dauern die meisten Praktika sowieso nicht.“

Auch die kategorische Forderung der DGB-Jugend, Praktika nach Studien-abschluss abzulehnen und durch „regu-läre Ausbildungsverhältnisse bzw. Trai-nee- und Berufseinstiegsprogramme“ zu ersetzen, findet keinen Anklang bei den Wissenschaftlern: „Gerade kleine Unter-nehmen wie etwa Werbeagenturen mit starker Projektorientierung und oft nur einer Handvoll an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, wo Chaos herrscht oder so-gar Teil des Lerninhalts ist, bieten eine bunte Vielfalt an Praktikumsmöglich-keiten. Mit der Erstellung eines Ausbil-dungskonzepts wären viele von ihnen überfordert und würden dann womöglich keine Praktika mehr anbieten.“

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Eine differenzierte Meinung vertreten die Wissenschaftler auch zur DGB-For-derung nach einer Aufwandsentschädi-gung für Praktika „von mindestens 300 Euro“: „Auf den ersten Blick ist tatsäch-lich kaum nachvollziehbar“, so Dr. Boris Schmidt, „warum eine Organisation nicht 300 Euro im Monat aufbringen können sollte. Für eine Reihe von Institutionen scheint es aber doch ein Problem zu sein.“

Fazit der Wissenschaftler: „Wir können nur vor Maßnahmen warnen, die dazu beitragen, die ,guten‘ Praktikumstypen, die über 50 Prozent aller Praktika ausma-chen, zu gefährden. Politische, gesetzge-berische und/oder tarifvertragliche Rege-lungen sollten nicht einzelne Merkmale herausgreifen, sondern sich vehement ge-gen die beiden problematischsten Prak-tikumstypen ,unklare Rollen‘ und ,billi-ge Arbeitskraft‘ richten, aber gleichzeitig auch für eine Weiterentwicklung der an-deren Praktikumstypen.“

Empfehlungen der Wissenschaft

Von einem bloßen „Weiter so“ sind die Wissenschaftler also weit entfernt. Viel-mehr haben Hecht und Schmidt einen Alternativvorschlag zur Forderung der DGB-Jugend nach einer „Aufwandsent-schädigung“ entwickelt. Ihre Idee besteht in einer „mehrfach gestaffelten Regelung, die Praktika nach Studienabschluss in Ab-hängigkeit von ihrer Dauer schrittweise regulären Beschäftigungsverhältnissen annähert und damit lehrreiche flexible Praktika weiterhin ermöglicht, jedoch eine Dauerbeschäftigung im Praktikums-status aus Sicht der anbietenden Institu-tion unattraktiv bis unmöglich macht.“

Weiterhin sprechen sie sich dafür aus, den Praktikumsantritt direkt im Anschluss an das Studium mit einer aufschiebenden Wirkung auf die Exmatrikulation zu ver-sehen, sodass die damit verbundenen Ver-günstigungen wie Krankenversicherung, BAföG oder Stipendium für einen be-grenzten Zeitraum von maximal sechs Monaten noch genutzt werden können.

Drittens plädieren sie für die „Einführung eines öffentlichen oder durch Stiftungen finanzierten Stipendiensystems für Prak-tika nach Studienabschluss, wobei Prakti-kant und praktikumsgebende Organisati-on gemeinsam das Stipendium beantragen sollten und sich die Organisation im Ge-genzug für das Stipendium verpflichtet, bestimmte nachprüfbare Richtlinien hin-sichtlich der inhaltlichen Gestaltung des Praktikums einzuhalten.“

Erschöpft ist der im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung erarbeitete Ideenkata-log der Wissenschaftler damit noch lange nicht. Eine Auswahl ihrer weiteren Emp-fehlungen hier nur summarisch: (1) Information und Beratung zu Prakti-

ka durch die Career Center der Hoch-schulen,

(2) Ausbau und Unterstützung von „Posi-tivlisten“, in denen sich Unternehmen und Organisationen zur Einhaltung formaler und inhaltlicher Mindest-standards bei Praktika verpflichten (z. B. „Fair Company“),

(3) Schaffung einer neutralen, von Ab-solventinnen und Absolventen sowie Praktikumsgebern gleichermaßen ak-zeptierten Schieds- oder Schlichtungs-stelle, an die missbräuchliche Prakti-kumsfälle gemeldet werden können,

(4) Ausbau internetbasierter Foren, in de-nen ehemalige Praktikantinnen und Praktikanten unter Nennung des Un-ternehmens oder der Organisation ihre Praktikumserfahrungen schildern und das absolvierte Praktikum nach Kriterien etwa in Anlehnung an den in der Studie ebenfalls berücksichti-gten „DGB Index Gute Arbeit“ be-werten können.

Unveränderter Bedarf an Praktika

Auf eine der dringendsten Fragen – „Wer-den durch Praktika tatsächlich reguläre Arbeitsplätze ersetzt?“ – haben aber auch die Wissenschaftler keine endgültige Ant-wort gefunden. „Woher will man das wis-sen? Wie würde man eine Antwort auf diese Frage bekommen?“, fragt Dr. Bo-ris Schmidt zurück. „Wenn Praktikanten bei geringer Bezahlung regulär arbeiten und nach sechs Monaten gehen müssen, wäre das ein Indiz dafür, dass ein regu-lärer Arbeitsplatz ersetzt wird. Aber wel-chen Wert hätte es für ein Unternehmen, jemanden, der sechs Monate lang bleibt, drei Monate lang einzuarbeiten? Dann müsste sich ein Trend zu Kettenprakti-ka erkennen lassen, doch den gibt es laut unseren Daten nicht.“

Weiteres Verdachtsmoment für den Er-satz regulärer Arbeit durch Praktika wäre die feste Einplanung der Arbeitsergeb-nisse von Praktikanten in die Arbeits-abläufe. Dazu der Wissenschaftler: „Im Praktikumstyp ,unklare Rollen‘ waren Praktikanten nicht eingeplant und genau das war das Manko. Da saß jemand den ganzen Tag nur dabei, bekam ein wenig

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Geld, hatte aber nicht viel zu tun, wurde nicht betreut – und das“, fragt er rheto-risch, „ist jetzt das Gute, das man bewah-ren soll, oder das Schlechte, wogegen man kämpft? Wir wissen es nicht.“

Als „Skandal“ sieht er aber – in Über-einstimmung mit der DGB-Jugend – die Tatsache, dass 22 Prozent der Prakti-kantinnen und Praktikanten nach Stu-dienabschluss Sozialleistungen beziehen oder einen Nebenjob annehmen müs-sen. Die Frage nach der Rechtmäßigkeit des Sozialleistungsbezugs während eines Praktikums hatte bei der G.I.B.-Sommer-akademie bereits der Vertreter eines Job-centers gestellt. Dazu der Wissenschaft-ler: „Die Jobcenter sollten eine anonyme Untersuchung durchführen, um heraus-zufinden, warum Praktikantinnen und Praktikanten bei ihnen Sozialleistungen abrufen müssen.“

Den Anstieg an Sozialleistungen bezie-henden Praktikanten von 12 (im Jahr

2007) auf 22 Prozent kann er sich aus den erhobenen Daten heraus nicht er-klären, denn bezahlt werden Praktika heute nicht schlechter als vor fünf Jah-ren: „Vielleicht ist die Steigerung mit der Einführung der Bachelor-Studien-gänge zu begründen.“ Ob die Zahl der Praktika nach Studienabschluss auf-grund der „nach Bologna“ praxisori-entierteren Studiengänge zurückgehen, ist für Schmidt noch nicht genau abzu-schätzen: „So wie Bologna bislang um-gesetzt worden ist, eher nicht, denn so stark sind die Praxisbezüge nicht. In der Hochschule wird auch weiterhin nicht die Welt simuliert und das ist auch nicht ihre Funktion. Zwar werden Studieren-de heute näher an die Fenster der El-fenbeinwelt geführt, aber hinaussehen müssen sie selbst.“ Sprich: Praktika er-übrigen sich dadurch nicht.

Auch von einem Rückgang an Praktika infolge des Fachkräftemangels ist Schmidt nicht überzeugt: „Mir wäre unklar, wa-

rum aufgrund des Fachkräftemangels das Orientierungsinteresse der Absolventen, eins der Hauptmotive für Praktika, nach-lassen sollte. Kann sein, dass sich der Fachkräftemangel auf die Verzweiflungs-praktika auswirkt, denn Praktika sind mitunter auch eine Notlösung und schon das Ergebnis eines Gefühls der Prekarität, aber das betrifft gerade mal zehn Prozent aller Praktika.“ Bedarf an „guten“ Prak-tika, lautet seine Schlussfolgerung, wird es auch weiterhin geben.

Gleichzeitig warnt er davor, das Thema als „nur temporäre Erscheinung“ oder „nur im Promillebereich“ kleinzureden: „Die Studienergebnisse liefern klare Hinwei-se, dass ein erheblicher Teil der Praktika nach Studienabschluss problematisch und prekär ist, dass es hier erheblichen Steu-erungsbedarf gibt und dass es eine Frage der gesellschaftlichen Verantwortung ist, hier nicht wegzuschauen, denn wir reden über tausende von Fällen pro Jahr, son-dern zu handeln, denn von selbst wird es nicht besser.“

Beispiel I: „Career Service“ der Universität Duisburg-Essen

Die von den Wissenschaftlern empfoh-lene Praktikanten-Beratung existiert am Career Center der Universität Duisburg-Essen, dem „Akademischen Beratungs-Zentrum Studium und Beruf“ (ABZ), bereits seit 2005. Die Serviceleistung der Einrichtung umfasst eine frühzeitig ein-setzende Karriereberatung „entlang des Student-Life-Circle, des Lebenszyklus-modells“, wie Ruth Girmes, Mitarbeite-rin des ABZ, im Workshop der G.I.B.-Sommerakademie formulierte.

Foto: ddpimages/Oliver Lang

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Gemessen an der Masse der Studierenden, räumt sie ein, nimmt das Angebot jedoch nur „eine verschwindend geringe Minder-heit“ in Anspruch, vor allem aber Studie-rende der Gesellschafts-, Bildungs- und Geisteswissenschaften, aber auch der Wirt-schafts-, seltener der Naturwissenschaften.

Nach ihrer Ansicht sollten berufliche Orientierung, Verbreiterung oder Ver-tiefung der Erfahrungsbasis sowie „das Netzwerken“ – also die klassischen Ziele von Absolventenpraktika – Bestandteil des regulären Studiums sein: „Die Studi-engänge haben sich im Kontext des Bo-logna-Prozesses Employability auf die Fahnen geschrieben, den Anspruch aber nicht alle eingelöst.“

Dass Praktikantinnen und Praktikanten oft in reguläre Arbeitsprozesse einge-bunden sind und ihre Arbeitsprodukti-vität in die Arbeitsergebnisse eingeplant ist, kritisiert Ruth Girmes nicht – nur: „Dann sollte man es nicht Praktikum nennen, denn der Sinn eine Praktikums ist das Lernen und nicht die Verrichtung von Arbeit.“ Zudem, so ihre Erfahrung, ignorieren manche Praktikumsgeber das Arbeitszeitgesetz, missbrauchen Praktika als verlängerte Probezeit und stellen so hohe Anforderungen, dass es sich faktisch um Traineeprogramme handele: „Das ist nicht akzeptabel! Auf der anderen Sei-te habe ich auch schon erlebt, dass ein Pommesbudenjob als Praktikum dekla-riert wurde.“ Nach ihrer Überzeugung fehlt ein „Praktikantengesetz“: „Über-regulierung schränkt Freiheiten ein und verbaut Chancen, aber die Politik sollte dafür sorgen, dass junge Menschen in Praktika versichert sind und bestehen-de Gesetze Anwendung finden.“

Praktika, weiß die erfahrene Karrierebe-raterin, sind keine Neuerscheinung der Arbeitswelt, sondern ein seit dreißig Jah-ren existierendes Phänomen, weshalb sie auch – im Plural – von „Praktikumsgene-rationen“ spricht. Für Studienabsolven-tinnen und -absolventen und angehende

„Manche brauchen länger, um sich be-ruflich zu orientieren“, begründet die Be-raterin ihre Arbeit, „denn Bildung ist ein komplexer Prozess. Das heißt nicht, dass sie schlechtere Absolventinnen und Ab-solventen sind, vielmehr hängt ihr Bera-tungsbedarf vom sozio-kulturellen Hin-

Praktikantinnen und Praktikanten, als deren „Anwältin“ sich Ruh Girmes sieht, ist der Career Service die zentrale, oft die einzige Anlaufstelle.

Vorteil der Einrichtung: „Wir kennen die Re-levanz von Praxiserfahrungen, die Qualifi-kations- und Personalbedarfe der Branchen sowie Unternehmen, die Praktika anbie-ten.“ Hier werden die Unterlagen der Stu-dentinnen und Studenten „gecheckt“ sowie die im Studium erworbenen Kompetenzen. In einem Erstgespräch, ergänzt durch Te-lefon- oder Mail-Kommunikation, klären Career Service und Studienabsolvent/-in ge-meinsam, ob ein Praktikum sinnvoll ist und gegebenenfalls welches. Ruth Girmes: „Die Beratung ist personenorientiert, vertraulich, freiwillig, anonym und kostenfrei.“

tergrund ab.“ Meist handele es sich um Studierende aus „bildungsfernen Schich-ten“ – Ruth Grimes bevorzugt den ame-rikanischen Ausdruck „First-Generati-on Students“, also junge Menschen, die als Erste in ihren Familien studieren, so-wie um Menschen mit Migrationshin-tergrund und um Frauen: „Sie akzep-tieren ein Praktikum eher als Männer, so wie Frauen auch häufiger befristet beschäftigt sind als Männer.“ Sie alle finden nach Erkenntnissen der Berate-rin in ihrem Umfeld oft niemanden, mit dem sie ihre berufliche Zukunft reflek-tieren und diskutieren können: „Unsi-cherheit und Ängste hinsichtlich ihrer beruflichen Zukunft sind weit verbrei-tet. Viele wissen deshalb eine neutrale Instanz zu schätzen.“

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Beispiel II: nomiko e. V., Bochum

Ebenfalls kostenfrei ist für Studienab-solventinnen und -absolventen das im Workshop der G.I.B.-Sommerakade-mie vorgestellte Angebot von nomiko e. V., einem „branchenunabhängigen Ta-lent Management System im Bereich der Aus- und Weiterbildung“. Im Jahr 2000 von der Nokia GmbH im Zuge des Fach-kräftemangels im IT-Bereich gegründet, steht der gemeinnützige Verein heute al-len Unternehmen für eine Mitgliedschaft offen, darunter vielen KMU und famili-engeführten Unternehmen, die sich den hohen Verwaltungsaufwand für Perso-nalrekrutierung und Hochschulmarke-ting nicht leisten wollen oder können.

Auf der anderen Seite stehen – neben Schülern, Auszubildenden und Studenten – Praktikanten sowie, im Unterschied dazu, junge Absolventen, bei nomiko e. V. „Qualifikanten“ genannt. Mit ih-nen schließt nomiko e. V. einen Young-Professional-Vertrag. Er beinhaltet unter anderem ein Grundgehalt für die Quali-fikanten – von nomiko gezahlt und den jeweiligen Mitgliedsunternehmen mit einem geringen Aufschlag in Rechnung gestellt, das abhängig von Mitgliedsun-ternehmen und Standort pro Monat ab circa 2.000 Euro aufwärts liegt.

Bereits im Vorfeld erarbeiten Unterneh-men und young professional – die meisten von ihnen IT-, aber auch Wirtschafts- und Geisteswissenschaftler – gemein-sam einen Plan für den konkreten Ab-lauf der Kooperation, einigen sich über den Lernstoff und die konkreten Tätig-keiten – immer auch im Hinblick auf

die Verwertbarkeit am allgemeinen Ar-beitsmarkt. Alle Absprachen werden dokumentiert, gegengezeichnet und de-ren Einhaltung von nomiko e. V. „über-wacht“. Missbrauch bei Einsätzen beugt die „nomiko“-Satzung vor. Astrid Kemp-mann, Managing Director bei nomiko e. V.: „Unternehmen, die Praktikanten für ihre Produktion einstellen wollen, lehnen wir genauso ab wie den Einsatz eines Studenten der Wirtschaftswissen-schaften mit Schwerpunkt Marketing in der Verpackung eines Betriebs.“

Studienabsolventinnen und -absolventen können sich bei Interesse auf einer On-line-Bewerberseite melden, beziehen ak-tuelle Informationen über neue Jobs per Facebook oder Newsletter. Im „nomiko“-Geschäftsmodell sieht Astrid Kempmann gleich mehrere Vorteile für die Qualifi-kanten beim Berufseinstieg: „Sie können theoretische Lerninhalte in der Praxis an-wenden, ihren Berufswunsch konkreti-sieren und werden an weitere Aufgaben des Berufs herangeführt.

Vielfältig auch die Vorteile für die Mit-gliedsunternehmen. Astrid Kempmann zählt einige auf: „Frühzeitige Bindung des hoch qualifizierten Nachwuchses, un-verbindliches Kennenlernen potenzieller Fachkräfte, große Entlastung durch die Übernahme von zeitaufwendigen Routi-neaufgaben der Personalbetreuung wie Recruiting, Administration und Löhnung durch nomiko.“ Sinnvoll sei das nomiko-Angebot auch für Unternehmen, die eine Person für ein Projekt einstellen wollen, dessen Budget aber noch nicht freigege-ben ist: „Dann bietet der Young-Professi-onal-Vertrag die Möglichkeit, diese zeit-liche Lücke zu überbrücken – mit einer Sicherheit für beide Seiten.“ Die Ähnlich-keit des Geschäftsmodells zur Leiharbeit sei nur vordergründig, betont die Mana-gerin: „Unser Ziel ist die Aus- und Weiter-bildung während des Studiums, das Sam-meln von Berufserfahrung in den ersten 1 – 1,5 Jahren nach Abschluss des Studi-ums und die Möglichkeit zur Übernah-me unserer Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter. In vielen Fällen gelingt das auch.“

ABSTRACT

Viele der jährlich rund 200.000 Hochschulabsolventinnen und -absolventen treten ein Praktikum

an, statt direkt in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis oder eine weiterführende Qualifikati-

onsphase zu wechseln. Die Qualität der Praktika und die damit oft verbundenen Prekaritätserfah-

rungen der Ex-Studierenden waren Gegenstand eines Workshops der G.I.B.-Sommerakademie.

ANSPRECHPARTNER IN DER G.I.B.

Arnold Kratz, Tel.: 02041 767-209

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KONTAKTE

Dr. Boris Schmidt, Tel.: 030 33847-993

Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin

Coachingnetz Wissenschaft

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Astrid Kempmann, Tel.: 0234 41757542

Managing Director nomiko e. V.

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Internet: www.nomiko.de

Ruth Girmes M. A., Tel.: 0201 183-3285

Akademisches Beratungs-Zentrum

Studium und Beruf – ABZ Career Service/Campus Essen

Universität Duisburg-Essen

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AUTOR

Paul Pantel, Tel.: 02324 239466

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Niko Köbbe, Tel.: 0251 132350

DGB-Region Münsterland

Jugendbildungsreferent

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ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG

G.I.B.INFO 4 1374

Etwa drei bis vier Millionen Beschäf-

tigten mangelt es an arbeitsplatzre-

levanten Lese- und Schreibkompe-

tenzen. Im Modernisierungsprozess

ihrer Betriebe können sie oft nicht

mithalten, berufliche Entwicklungs-

möglichkeiten sind ihnen versperrt.

Um das zu ändern und zugleich die Ar-

beitsplätze zu sichern, hat das BMBF

im November 2011 dazu aufgerufen,

Projektvorschläge zum Thema ar-

beitsorientierte Grundbildung zu in-

itiieren. Die G.I.B. hat zusammen mit

dem bbb Büro für berufliche Bildungs-

planung, Dortmund, dem BMBF er-

folgreich ein Projekt vorgeschlagen

mit dem Titel „Strategien zur Weiter-

entwicklung der Beratungsangebote

in Nordrhein-Westfalen für arbeits-

orientierte Grundbildung – ein Bei-

trag zur Stärkung von Beschäftigten

und Unternehmen – SESAM“.

Projekt „SESAM“Arbeitsbezogene Grundbildung an Einfacharbeitsplätzen

ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG

75G.I.B.INFO 4 13

tialberatung, Beraterinnen und Berater, die zum Bildungsscheck NRW in seiner Variante „betrieblicher Zugang“ Un-ternehmen beraten, sowie Träger von Transfergesellschaften, die bei Massen-entlassungen zum Einsatz kommen. So entstand ein kleiner Kreis handverlesener Expertinnen und Experten, die auf Ein-ladung der G.I.B. in regelmäßigen Tref-fen klären, was unter „arbeitsbezogener Grundbildung“ zu verstehen ist und wie Unternehmen für das Thema zu sensibi-lisieren sind.

Zweites zentrales Handlungsfeld des SESAM-Projekts sind die Erschließung und Fortbildung Lehrender, um sie zur Vermittlung einer arbeitsorientierten Grundbildung zu befähigen. Hier bot sich das Büro für berufliche Bildungs-planung (bbb) in Dortmund als kompe-tenter Partner an, der bereits seit Jah-ren Konzepte einer arbeitsorientierten Grundbildung an Einfacharbeitsplätzen entwickelt, realisiert und evaluiert, so-wohl für Arbeitslose, für Menschen in Brückensituationen wie zum Beispiel in Transfergesellschaften, für Beschäftigte in prekären Arbeitsverhältnissen, für Be-schäftigte auf dem zweiten Arbeitsmarkt sowie für Schwerstbehinderte – eine Ex-pertise, die nunmehr den von der G.I.B. ausgewählten Beraterinnen und Beratern zur Verfügung steht.

Was versteht SESAM unter „arbeitsorientierter Grundbildung“?

„Grundbildung“, stellt bbb-Geschäfts-füherin Rosemarie Klein klar, „ist mehr als die Vermittlung von Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben, Rechnen oder –

nicht nur im Falle von Migrantinnen und Migranten – auch das Sprechen. Grund-bildung ist vielmehr ein pädagogisches Konzept, das Bildungsziele wie Reflexi-onsfähigkeit, Autonomie und Identität einschließt.“

Grundbildungsanforderungen an so-genannten Einfacharbeitsplätzen um-fassen arbeits- bzw. kontextbezogenes Lesen, Schreiben und Rechnen, arbeits- bzw. kontextbezogene Kommunikati-on, (Selbst-)Reflexionskompetenz sowie Change-Kompetenz, also die Handlungs-fähigkeit, komplexe, herausfordernde Le-benssituationen und Veränderungen ak-tiv mit zu gestalten: „Was Kindern heute in der Grundschule wie selbstverständ-lich vermittelt wird, haben erwachse-ne Beschäftigte in ihrer Kindheit nie ge-lernt. Dazu gehört etwa das weite Feld neuer Medien inklusive EDV.“ Hinzu kommt: Viele Erwachsene konnten durch-aus mal Lesen, Rechnen und Schreiben, haben diese Kompetenzen aber, weil sie bei der Arbeit und im Privaten nie ab-gefragt wurden, im Lauf ihres Berufsle-bens verlernt.

Angesichts der rasanten technologischen und organisatorischen Veränderungen in den Unternehmen, der Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft und mit dem Einzug von Qualitätsmanagement aber steigen die beruflichen Anforderungen auch an sogenannten Einfacharbeitsplät-zen, wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung nachgewiesen hat. Viele „Einfacharbeiten“ werden um wei-tere Tätigkeitselemente angereichert, stellen zudem höhere Anforderungen an außerfachliche Qualifikationen und Schlüsselqualifikationen. Im Pflegesektor

Lange vor der aktuellen PIAAC-Studie (Programme for the International As-sessment of Adult Competencies) der OECD, die dem Bildungsstand deut-scher Erwachsener hinsichtlich ihrer Lese-, Rechen- und Problemlösekompe-tenzen im internationalen Vergleich ge-rade mal Mittelmaß bescheinigte, hat-ten vor Jahren die Ergebnisse der vom Bundesministerium für Bildung und For-schung finanzierten „Level-One-Studie“ die Politik aufgeschreckt. Demnach kön-nen 7,5 Millionen Menschen in Deutsch-land – darunter 57 Prozent Berufstätige – nicht richtig lesen und schreiben. Die vom BMBF anschließend durchgeführte Alphabetisierungskampagne erreichte je-doch nur einen kleinen Kreis der betrof-fenen Personen, von denen wiederum nur Einzelne das Erlernte im beruflichen All-tag verwerten konnten. Ursache dafür war die Distanz von Konzept und Leh-renden zu den Betrieben.

Konsequenz aus den desaströsen Resul-taten war die Entscheidung des BMBF, betroffene Beschäftigte mithilfe ihrer Arbeitgeber über den Arbeitsplatz zu er-schließen. Doch wie zuvor die Arbeitge-ber für die Idee gewinnen? Mit dem Pro-jekt SESAM will die G.I.B. ihre Kontakte zu unternehmensnahen Multiplikato-rinnen und Multiplikatoren nutzen und zusammen mit ihnen ein Konzept entwi-ckeln, mit dem Verantwortliche in Un-ternehmen für die Identifikation arbeits-prozessbezogener Grundbildungsbedarfe zu gewinnen sind.

Dazu konzentriert sich die G.I.B. zu-nächst auf drei Gruppen von Multipli-katoren: Unternehmensberaterinnen und -berater mit Erfahrungen in der Poten-

ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG

G.I.B.INFO 4 1376

etwa steigen auch für die Helferberufe die Ansprüche an dokumentarische Tä-tigkeiten. Sie setzen Schrift- und Sprach-kompetenz sowie kommunikative Fähig-keiten voraus. Selbst in der Lager- und Logistikbranche genügen rudimentäre Lese-, Schreib- und Rechenkenntnisse schon lange nicht mehr: „Es reicht nicht mit dem Gabelstapler durch die Hallen zu fahren“, wissen die SESAM-Verant-wortlichen, „hier Tätige müssen Symbol-sprache entschlüsseln können und selbst Soft Skills gewinnen an Bedeutung.“

Nach ihrer Erfahrung unterschätzen viele Unternehmen die Bedeutung von Beschäftigten an Einfacharbeitsplätzen in der Wertschöpfungskette. Doch nicht nur die Unternehmen selbst, auch die Kammern und Gewerkschaften hinken mitunter dem neuesten Erkenntnisstand hinterher: „Es gibt durchaus Kammern, die sich dem Thema arbeitsorientierte Grundbildung zuwenden, aber auch sie müssen oft erst sensibilisiert werden für die Einsicht, dass das ein Feld betrieb-licher Weiterbildung ist. Noch gehen die Initiativen eher von den Beraterinnen und Beratern aus.“

Andererseits wächst die Einsicht in die Notwendigkeit arbeitsbezogener Grund-bildung bei Unternehmensleitungen und Personalverantwortlichen aufgrund des demografischen Wandels. Er zwingt dazu, das endogene Potenzial der Un-ternehmen in den Betrieben zu stärken. Denn: Ein Austausch älterer Geringqua-lifizierter gegen jüngere Qualifizierte funktioniert immer seltener. Grundbil-dungsangebote werden somit zukünf-tig regulärer Bestandteil betrieblicher Weiterbildung und damit ein Angebots-

feld der Bildungszentren der Kammern. „Doch bis es so weit ist, sollte die öffent-liche Hand Verantwortung übernehmen für Personen, die für gewöhnlich nicht im Blick von Personalentwicklung sind, an die man nicht denkt bei betrieblicher Weiterbildung.“

Thorsten Manske, Bildungsberater bei der Kreishandwerkerschaft Steinfurt-Warendorf in Rheine, stimmt zu: „Noch dominiert in den Betrieben der Tenor: Es gibt einfache Tätigkeiten, da braucht man keine besondere Grundbildung. Doch mit der zunehmenden Spezialisie-rung und Komplexität der Arbeitspro-zesse durch Technik und Dokumenta-tion steigen die Anforderungen an die Beschäftigten. Handwerk wird immer mehr zur Dienstleistung, Arbeitsprozesse gehen Hand in Hand, Geselle und Prak-tikant müssen sich auf der Baustelle ver-stehen, damit Arbeitsabläufe reibungslos funktionieren, zunehmende Kundenkon-takte aufgrund steigender Beratungsan-teile erfordern gute Deutschkenntnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Anders als früher betrifft das zukünftig Beschäftigte aller Qualifikationsstufen.“

Arbeitsorientierte Grundbil-dung gewinnt an Bedeutung

Nicht leicht ist es jedoch, in dieser Fra-ge überhaupt Zugang zu Unternehmen und ihren Beschäftigten zu bekommen. Thorsten Manske: „Für die Betriebe ist das ein sensibles Thema, weil dabei Ar-beitsprozesse noch einmal durchleuchtet werden müssen. Sie verschweigen lieber, dass Beschäftigte ohne Grundbildung in ihrem Unternehmen tätig sind, weil sie befürchten, Kunden könnten des-

wegen an der Qualität ihrer Produkte oder Dienstleistungen zweifeln. Meistens kümmern sich Betriebe erst um das The-ma, wenn Fehler auftauchen oder etwas schief gelaufen ist. Ohne zuvor Vertrau-en aufgebaut zu haben, kann man in Betrieben kaum über das Thema spre-chen.“ Die von ihm durchgeführte Be-ratung von Beschäftigten und Betrieben zu den Themen Bildungsscheck NRW und Bildungsprämie hält der Vertreter der Kreishandwerkerschaft für „einen guter Türöffner, um an die Betriebe he-ranzukommen“.

Rosemarie Klein kann die Zurückhal-tung der Betriebe nachvollziehen: „Be-triebe verstehen sich in erster Linie als Arbeitsorte zur Erzielung von Unterneh-mensrentabilität und weniger als Lernorte zur Erweiterung der Kompetenzen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; Ler-nen und Kompetenzentwicklung werden deshalb immer noch oft als Bringschuld der Beschäftigten begriffen.“

Das Thema arbeitsorientierte Grundbil-dung muss nach ihrer Auffassung an-schlussfähig an betriebliches Denken sein. Beraterinnen und Berater müssen „in betrieblichen Denk- und Handlungs-logiken argumentieren“. Ihre Aufgabe ist, Notwendigkeit sowie betrieblichen und individuellen Nutzen arbeitsorien-tierter Grundbildung überzeugend dar-zulegen oder in Strategiegesprächen und Workshops gemeinsam zu erarbeiten: Mit Unternehmensleitungen, Personalverant-wortlichen und Mitarbeitervertretungen sowie mit direkten Vorgesetzten wie etwa Schichtleitern, Pflegedienstleitungen oder Vorarbeitern, gegebenenfalls unterstützt durch Kammervertreter oder auch Bil-

ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG

77G.I.B.INFO 4 13

dungsreferenten der Gewerkschaften. Dazu brauchen Grundbildungsberater und -beraterinnen fundierte Kenntnisse über regionale Branchen und Unterneh-men, in denen es Einfacharbeitsplätze gibt – und ein klar strukturiertes Vor-gehen. Am Anfang steht dabei die Fra-ge: Was sind die aktuellen Herausforde-rungen im Unternehmen? Darauf folgt die Information bzw. gemeinsame Erar-beitung der Chancen und Möglichkeiten einer arbeitsorientierten Grundbildung sowie die Feststellung von Lern- und Kompetenzentwicklungsbedarfen aus Sicht des Unternehmens und der Beschäf-tigten, aus denen wiederum Lernange-bote abzuleiten sind. Rosemarie Klein: „Allgemeine Lernanlässe wie ‚Lesen` oder ,Schreiben‘ zu formulieren genügt nicht. Vielmehr müssen Lernanlässe aus konkreten, unmittelbaren Arbeitsanfor-derungen resultieren, im Pflegebereich zum Beispiel aus der Aufgabe, Hautver-änderungen von zu Pflegenden knapp und präzise aufzuschreiben.“

Allgemeinere Anlässe, das Thema „ar-beitsorientierte Grundbildung“ im Kon-text des jeweiligen Unternehmensbedarfs anzusprechen, sind für den Unterneh-mensberater Martin Köhler, Inhaber der Firma pe werk in Dortmund, etwa die Einführung neuer Techniken, eine effek-tivere Personaleinsatzplanung, ein flexib-lerer Mitarbeitereinsatz, Mängel beim Qualitätsmanagement oder die Beseiti-gung des Fachkräftemangels. In einem von ihm im Rahmen des SESAM-Projekts beratenen Unternehmen, das Fenster pro-duziert, werden rund zehn Prozent der 60 Beschäftigten qualifiziert: „Dabei geht es nicht etwa um einen bloßen Deutsch-kurs“, stellt der Unternehmensberater

klar. „Aufhänger der Qualifizierung ist vielmehr eine Optimierung der Arbeits-abläufe. Dazu sollen Teilnehmer/-innen vor allem Zusammenhänge im Produk-tionsprozess erkennen – für Beschäftigte an Einfacharbeitsplätzen keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Die mit der Qua-lifizierung an Einfacharbeitsplätzen vom Unternehmen dokumentierte Wertschät-zung auch gering Qualifizierter“, ist der Berater überzeugt, „steigert deren Pro-duktivität.“

Kompetenzentwicklung und Lerntransfer

Neben den Betrieben sind die Beschäf-tigten zweiter Adressat der Lernange-bote. Zwar lehnen gering Qualifizierte an Einfacharbeitsplätzen institutionali-sierte Lernorte und Organisationsformen der Erwachsenenbildung keineswegs ka-tegorisch als für sie ungeeignet ab, aber oft mangelt es ihnen an passenden Ge-legenheiten.

Bei der Entwicklung konkreter Grund-bildungsangebote ist darauf zu achten, in den Titeln der Angebote Defizitbeschrei-bungen von Beschäftigten und damit ungewollte Diskriminierungen der Ler-nenden zu vermeiden. Vielmehr gilt es Etiketten zu finden, die die betriebliche Relevanz in den Mittelpunkt stellen. Un-verzichtbar ist zudem, die Beschäftigten an der Organisation des Angebots zu beteiligen und bei der Organisation des Angebotes kleinschrittig vorzugehen.

Mit dem Lernen allein ist es jedoch nicht getan. Eine zentrale Leistung arbeitsori-entierter Grundbildung ist, das Gelernte als Kompetenz in das Arbeitshandeln zu

überführen. Dieser Lerntransfer kann nur gelingen, wenn der Betrieb eine Feed-backkultur entwickelt und Beschäftigte eine Bilanz ihrer Fortbildung erstellen: Was habe ich vom Gelernten ausprobiert? Was ist mir wie gelungen? Wer hat es be-merkt? Wie haben die anderen reagiert?

Dem „Feedback“ von Vorgesetzten müssen allerdings Konsequenzen fol-gen: „Kompetenzzuwächse im Sinne des ,Mehr-Könnens‘ brauchen auch Kompe-tenzzuwächse im Sinne des ,Mehr-Dür-fens‘“, zitieren G.I.B. und bbb Erkennt-nisse der Wissenschaft, „ein Mehr an Kompetenzen muss ein Mehr an Gestal-tungs- und Partizipationsmöglichkeiten er-möglichen.“ Dazu zählen etwa die Betei-ligung an Abteilungsbesprechungen oder an der Entwicklung von QM-Systemen so-wie Formen des Job-Enrichments: „Dabei werden Beschäftigten neue Anforderungen zugetraut, aber auch höhere Leistungen eingefordert. Bisherige Erfahrungen zei-gen jedenfalls, dass Grundbildungsange-bote in Unternehmen drei auf den ersten Blick nur schwer miteinander zu verein-barende Ziele erreichen können: Empo-werment im Sinne der Stärkung von In-dividuen, Employability als Stärkung der Beschäftigungsfähigkeit und schließlich die Sicherung von Unternehmenserfolg. Die Trias ist kompatibel.“

Weiterbildungskonzept für Lehrende: Arbeitsorientierte Grundbildung

Auf Basis dieser Erkenntnisse hat das bbb im Rahmen des SESAM-Projekts eine Weiterbildung für Lehrende konzipiert. Sie richtet sich an Kursleiterinnen und Kursleiter, Dozentinnen und Dozenten,

ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG

G.I.B.INFO 4 1378

Berater und Beraterinnen in NRW, die bereits über Erfahrungen in der Grund-bildungs- und Alphabetisierungsarbeit oder in Schulungen mit Firmenkunden verfügen.

Die Geschäftsführerin des bbb: „Wer noch nie ein Unternehmen von innen ge-sehen hat, kann die Weiterbildung nicht in fünf Tagen absolvieren. Wir wollten auch unbedingt mit einer kleinen Gruppe arbeiten, weil es sich um eine sehr persön-lichkeitsorientierte Weiterbildung han-delt.“ Thorsten Manske von der Kreis-handwerkerschaft teilt ihre Auffassung: „Grundbildung an Volkshochschulen hat oft zu wenig Bezug zu konkreten Anlie-gen und Bedarfen in Unternehmen und braucht mehr Flexibilität in der Lernor-ganisation. Lehrende müssen sich in Be-trieben auskennen und dort auf jeden Fall hospitieren, um die konkreten Arbeits-prozesse kennenzulernen. Nur so kann sich eine gute Grundbildung festigen.“

Ein bisschen anders sieht das Gabriele Fuchs von der kommunalen Weiterbil-dungsberatungsstelle an der VHS der Stadt Bochum: „Betriebe, aber auch an-dere Organisationen wie etwa die Job-center reagieren keineswegs mit Vor-behalten gegenüber Volkshochschulen, die aufgrund ihres qualifizierten Unter-richts heute auch in den Unternehmen über einen guten Ruf verfügen. Das hö-ren wir jedenfalls, wenn wir mit Einver-ständnis der von uns beratenen Beschäf-tigten Kontakt zu deren Arbeitgebern aufnehmen. Richtig ist aber, dass VHS-Lehrende vor Durchführung einer ar-beitsorientierten Grundbildung an ei-ner SESAM-Weiterbildung teilnehmen

sollten, damit sie lernen, wie man sich mit der Hierarchie eines Unternehmens vertraut macht und dass die betrieblichen Belange immer angemessen zu berück-sichtigen sind. Zudem müssen sie hin-sichtlich der Schulungsräume und Unter-richtsorte flexibel sein.“ Viel schwieriger ist es, so Gabriele Fuchs, gemeinsam mit Betrieben und Dozenten ein Maßnahme-Konzept zu entwerfen: „Dabei kommen auf die Lehrenden hohe Anforderungen zu. Das einschlägige Schulungsangebot von SESAM ist für sie eine Möglichkeit, sich für den Bereich der berufsbezogenen Grundbildung zu qualifizieren, und des-halb zu begrüßen.“

Die vom bbb im SESAM-Projekt angebo-tene modulare Weiterbildung „Arbeits-orientierte Grundbildung“ vermittelt Beraterinnen und Beratern die Kom-petenz, betriebliche oder betriebsnahe Grundbildungsangebote zu konzipie-ren und zu realisieren. Zu den Inhalten der Weiterbildung gehören unter ande-rem: Verständnis von arbeitsorientierter Grundbildung, Branchen und Anlässe für arbeitsorientierte Grundbildung, Ge-staltung von Zugängen zu Unternehmen und Beschäftigten, Akquise, Bedarfser-mittlung, Angebotsentwicklung sowie didaktische Prinzipien einer arbeitsori-entierten Grundbildung. Hinzu kommen Lernbegleitung und Lerntransfer, Lern-begleitung und Erfolgssicherung. Die Fortbildung umfasst 46 Lernzeitstunden inklusive Präsenzveranstaltungen, acht Selbstlernzeitstunden und acht Stunden für eine Angebotsentwicklung. Erfolg-reich Teilnehmende der Weiterbildung erhalten das Zertifikat „Arbeitsorien-tierte Grundbildung“ (bbb). Rosemarie

Klein: „Für Kursleitende aus dem Grund-bildungs- und Alphabetisierungsbereich ergibt sich damit potenziell ein länger-fristiges Geschäfts- und Arbeitsfeld.“

Vermittlung arbeitsbezogener Grundbildung als Einzelcoa-ching

Sieben Personen haben bislang an der vom bbb angebotenen Weiterbildung teilgenommen und sich so professiona-lisiert für die Vermittlung einer arbeits-bezogenen Grundbildung. Einzelne von ihnen könnten demnächst zum Einsatz kommen. Erste Kontakte zu Unternehmen bestehen bereits, darunter eins aus dem produzierenden Gewerbe, das seine Pro-duktion teilautomatisieren will, um wei-terhin auf dem internationalen Markt be-stehen zu können. Die Geschäftsführung hat unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass die Teilautomatisierung nicht automatisch zu Teilentlassungen führen soll. „Das sind gute Vorausset-zungen für die arbeitsbezogene Grund-bildung als Voraussetzung für die fach-liche Weiterbildung zum Beherrschen der Teilautomatisierung.“

Zurzeit formuliert der Betrieb die kon-kreten Anforderungen für die fachliche Fortbildung. „Daraus werden wir ein Konzept entwickeln für Personen, die nicht sofort die Lernanforderungen be-wältigen können, also eine Vorab-Quali-fizierung vor der eigentlichen fachlichen Fortbildung brauchen. Das ist ein zeitlich parallel laufender Prozess. Betroffen sind rund 100 Personen. Wir werden mit den Beschäftigten herausarbeiten, über wel-che Kompetenzen er oder sie verfügt, was

ARBEITSGESTALTUNG UND -SICHERUNG

79G.I.B.INFO 4 13

ihn oder sie antreibt und welche Ängste vielleicht die Veränderungen am Arbeits-platz erzeugen, um zunächst den Kopf frei zu bekommen für das Lernen.“

Bereits erfolgreich durchgeführt wurde im SESAM-Projekt ein arbeitsbezogenes Grundbildungsangebot in einer Trans-fergesellschaft in Form eines Einzelcoa-chings. Thomas Aigner, Diplom-Volks-wirt und nebenamtlicher VHS-Dozent, hatte nach vorheriger Teilnahme an der SESAM-Weiterbildung ein Schulungskon-zept entwickelt: „Unternehmen darf man nicht mit Alphabetisierung und Grund-bildung kommen, sondern man muss ih-nen klarmachen, dass es um Fortbildung, um Kompetenzerweiterung und um die betriebliche Entwicklung geht.

In der Gesundheitspflege zum Beispiel sind zunehmend Migrantinnen und Mi-granten aus Spanien und Portugal tätig. Sie müssen die spezielle Sprache ihres Ar-beitsplatzes erlernen. Wir dürfen nicht den Fehler der Vergangenheit wiederho-len, als im schulischen Englischunterricht die Sprache Shakespeare gelehrt wurde, Schüler/-innen aber nicht in der Lage waren, beim Bäcker ein Brot zu kaufen. Bei der arbeitsorientierten Qualifizierung eines Kommissionierers in der Transfer-gesellschaft spielten deshalb Begriffe aus der Arbeitswelt eines Lagerarbeiters wie etwa ,Warenentnahmeschein‘ eine zen-trale Rolle, also Sprache im Kontext be-trieblicher Arbeitsabläufe.“ Die Einzel-schulung von 10 Unterrichtseinheiten á 3 Stunden in diesem Fall rechtfertigt Ro-semarie Klein so: „Was im Topmanage-ment als Selbstverständlichkeit gilt, aber dort dreimal so viel kostet, sollte auch im

Kontext arbeitsbezogener Grundbildung möglich sein. Für Klein- und Kleinstun-ternehmen rechnen sich Investitionen in Einzelpersonen. Für sie käme aber auch eine Verbundlösung in Betracht.“

Dazu Dr. Friedhelm Keuken, in der G.I.B. verantwortlich für das SESAM-Projekt: „Mit diesem Projekt betreten wir in vie-lerlei Hinsicht Neuland. Die mit SESAM kooperierenden Beraterinnen und Bera-ter nutzen das Thema „Arbeitsorientierte Grundbildung“, um ihren Kundenunter-nehmen neue Angebote zu unterbreiten. Damit treffen sie nicht bei allen Unter-nehmen auf offene Ohren. Die bisherigen Erfahrungen zeigen aber, dass Unterneh-men insbesondere im Gesundheitsbereich und im verarbeitenden Gewerbe daran interessiert sind, arbeitsplatznahe bzw. unternehmensnahe Grundbildungsange-bote zu realisieren. Sie wollen damit die Kompetenzen ihrer Beschäftigten erhö-hen und den Fachkräftebedarf sichern. Zugleich sehen sie ihr Engagement in die-sem Handlungsfeld aber auch als Aus-druck ihrer Wertschätzung gegenüber ihren zum Teil langjährigen Mitarbeite-rinnen und Mitarbeitern, die sie an ihr Unternehmen binden wollen. Für Volks-hochschulen und Lehrende ist der Aspekt „Arbeitsorientierung“ Neuland. Arbeits-orientierte Grundbildung bietet ihnen die Möglichkeit, sich Unternehmen als neue Kundengruppe zu öffnen und so weitere Teile der berufstätigen Bevölkerung für ihre Angebote zu gewinnen.

Wir befinden uns mit dem Projekt SE-SAM noch am Anfang. Die weitere Ent-wicklung wird uns Aufschluss geben über die fördernden und hindernden Faktoren

bei der Realisierung von Projekten zur arbeitsorientierten Grundbildung in und mit Unternehmen. Wir können aber be-reits jetzt feststellen, dass wir in der Bun-desrepublik Deutschland eine Regelförde-rung für Grundbildung benötigen, wenn wir bei zukünftigen PIAAC-Studien bes-sere Ergebnisse erzielen wollen.“

ABSTRACT

Etwa drei bis vier Millionen Beschäftigten

mangelt es an arbeitsplatzrelevanten Lese-

und Schreibkompetenzen. Im Modernisie-

rungsprozess ihrer Betriebe können sie oft

nicht mithalten, berufliche Entwicklungs-

möglichkeiten sind ihnen versperrt. Um an

dieser Situation etwas zu verändern, hat die

G.I.B. zusammen mit dem bbb Büro für be-

rufliche Bildungsplanung, Dortmund, das

Projekt „Strategien zur Weiterentwicklung 

der Beratungsangebote in Nordrhein-West-

falen für arbeitsorientierte Grundbildung –

ein Beitrag zur Stärkung von Beschäftigten

und Unternehmen – SESAM“ entwickelt.

WEITERE INFORMATIONEN ZU SESAM

www.sesam-nrw.de

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Dr. Friedhelm Keuken, Tel.: 02041 767-272

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Rosemarie Klein, Tel.: 0231 589691-10

bbb Büro für berufliche Bildungsplanung

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Paul Pantel, Tel.: 02324 239466

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80 G.I.B.INFO 4 13

MONITORING UND EVALUATION

Im Programm „Jugend in Arbeit“ erhalten seit nun-

mehr 15 Jahren Jugendliche in Nordrhein-Westfa-

len Hilfestellungen bei der Aufnahme einer sozial-

versicherungspflichtigen Beschäftigung. Trotz

diverser Detailänderungen an der Programmkon-

zeption ist die Grundstruktur – eine enge Zusam-

menarbeit von Arbeitsverwaltung, Beratungsein-

richtungen und Kammern – seit dem Programmstart

1998 beibehalten worden. Bis heute wurden rund

76.000 Jugendliche beraten; die Hälfte von ihnen –

rund 38.000 junge Menschen – konnten über das

Programm in eine Erwerbstätigkeit integriert wer-

den. Der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des

Programms „Jugend in Arbeit plus“ widmet sich der

Artikel auf Seite 18 ff. in diesem G.I.B.-Info.

Von Beginn an hat die G.I.B. das Programm „Jugend in Arbeit“ fachlich begleitet. Dazu zählte auch die Ent-wicklung eines Monitorings von Prozess- und Teilneh-merdaten, die bis heute Grundlage für eine regelmäßige Berichterstattung zur Programmumsetzung sind. Da-rüber hinaus führte die G.I.B. im Zeitraum 2011/12 eine umfangreiche Untersuchung zur Programmum-setzung im Rahmen der Gesamtevaluation des NRW-ESF-Programms der Förderphase 2007 – 2013 durch. Die Untersuchung befasst sich mit der Frage, welche Faktoren auf den Teilnahmeverlauf und somit auch auf den Teilnahmeerfolg der Jugendlichen einwirken. Für diese Analysen wurden die Teilnehmerdaten aus dem Monitoring mit weiteren Angaben verknüpft, die bei den Beraterinnen und Beratern und Kammerfachkräf-ten erhoben wurden.

Programmerfolg

Für die Untersuchung galt die Erwerbsintegration der Teilnehmenden bzw. der Anteil der erfolgreich in Er-werbstätigkeit integrierten an allen Teilnehmenden als zentraler Erfolgsindikator für die Programmumsetzung.

Die Erwerbsintegration kann dabei wiederum danach differenziert werden, auf welchem Weg eine Erwerbs-tätigkeit aufgenommen wurde. Eine differenzierte Be-trachtung unterscheidet drei Erfolgstypen: • Die Vermittlung von Teilnehmenden in Erwerbstätig-

keit (keine Ausbildung) durch die Kammerfachkräfte • mit Eingliederungszuschuss (Erfolg 1),• ohne Eingliederungszuschuss (Erfolg 2).Diese Formen der Vermittlung sind nur nach Über-gabe der Teilnehmenden an die Kammerfachkräf-te möglich.

• Die Erwerbsintegration von Teilnehmenden (auch eine Ausbildung) ohne Vermittlung durch die Kam-mern (Erfolg 3). Eine solche Erwerbsintegration kann – ebenso wie der Abbruch der Teilnahme – sowohl während der Beschäftigungsphase als auch nach der Übergabe an die Kammerfachkräfte stattfinden.

Tabelle 1 ist zu entnehmen, wie viele Teilnehmende in den Jahren 2009 bis 2011 aus JA plus in Erwerbstätig-keit abgegangen und nach welchem Erfolgstyp eine Be-schäftigung aufgenommen wurde. Demnach erfolgten im Zeitraum 2009 bis 2011 insgesamt 42,4 % der Ab-gänge in Erwerbstätigkeit. Der Anteil der Erwerbsinte-grationen an allen Abgängen ist von 2009 bis 2011 kon-tinuierlich gestiegen, 2011 betrug er 43,9 %. Im Jahr 2011 wurden etwa gleich viele Teilnehmende entweder von den Kammerfachkräften in Beschäftigung vermit-telt oder sind ohne Vermittlung durch die Kammern in Beschäftigung gegangen. Bei den Teilnehmenden, die von den Kammern vermittelt wurden, überwiegt leicht der Anteil der Teilnehmenden, die einen EGZ erhalten haben (11,8 vs. 10,2 %).

Analyse-Stufen

Die Ermittlung von Merkmalen, die einen maßgeb-lichen Einfluss auf den Teilnahmeerfolg – also die Er-werbsintegration – der Jugendlichen haben erfolgte in drei auf einander aufbauenden Stufen: Die erste Stufe setzte auf der individuellen Ebene der Teilnehmenden im Landesprogramm Jugend in Arbeit plus an, um den Einfluss individueller Merkmale der Jugendlichen auf eine erfolgreiche Teilnahme bzw. auf die Wahrschein-

Jugend in Arbeit plusUntersuchung des Programms

81G.I.B.INFO 4 13

MONITORING UND EVALUATION

lichkeit der Erwerbsintegration zu ermitteln. Aufbauend auf den Ergebnissen auf Teilnehmerebene wurden auf der zweiten Analysestufe Angaben zur Beratung und zu den Beraterinnen und Beratern im Hinblick auf die Er-werbsintegration vorgestellt und untersucht. In der drit-ten Stufe wurde analysiert, welche regionalen Faktoren die Erwerbsintegration von Jugend in Arbeit plus beein-flussen. Zu diesen Faktoren zählten neben Indikatoren der regionalen Arbeitsmarktsituation insbesondere die Angaben der Kammerfachkräfte und Berater/-innen.

Zentrale Ergebnisse

Die Analyse auf Ebene der Teilnehmenden ergab, dass die meisten der insgesamt 26 berücksichtigten Merk-male der Jugendlichen einen signifikanten Einfluss auf den Teilnahmeerfolg haben. Die statistische Analy-se machte aber zugleich deutlich, dass selbst mit dem breiten Spektrum der verfügbaren Merkmale die Wahr-scheinlichkeit der Erwerbsintegration nur begrenzt vor-hergesagt werden kann. Daher wurde in den folgenden Analysestufen untersucht, ob auf Ebene der institutio-nellen Akteure in Jugend in Arbeit plus – den Berate-rinnen und Beratern und Kammerfachkräften – weitere Anhaltspunkte für Einflussfaktoren ermittelt werden können, die eine erfolgreiche Teilnahme bzw. Erwerbs-integration unterstützen.

Nach den Analysen weisen die institutionellen Rahmen-bedingungen der Berater/-innen und deren Arbeitszeit, die zur Bearbeitung von Jugend in Arbeit plus bzw. zur Beratung von Teilnehmenden zur Verfügung steht, ei-nen Einfluss auf die Integrationschancen der Teilneh-menden auf. Die Ergebnisse zeigen zudem, dass die Kooperation zwischen Berater/-innen und anderen Ak-teuren eine entscheidende Rahmenbedingung für die erfolgreiche Programmumsetzung darstellt.

Die Untersuchungen auf regionaler Ebene ergaben, dass weitere Faktoren auf den Programmerfolg wirken. Demnach fördert eine günstige Entwicklung des regio-nalen Arbeitsmarktes die Integrationschancen von Teil-nehmenden. Ein weiterer Einflussfaktor besteht in der Zahl der Regionen, für die eine Kammerfachkraft zu-ständig ist, denn mit zunehmender Zahl an Regionen sinkt die Chance der Erwerbsintegration von Teilneh-menden. Zudem bestätigten die Analysen auf regionaler Ebene, dass die Kooperation der Akteure in Jugend in Arbeit plus von zentraler Bedeutung für die Erwerbs-integration der Teilnehmenden und damit für den Pro-grammerfolg insgesamt ist.

Abgangsjahr

2009 2010 2011 2009 – 2011

Anzahl Teilnehmende (abs.) 4.342 4.391 3.545 12.278

Abgänge (in %)

keine Erwerbsintegration 59,4 % 57,0 % 56,1 % 57,6 %

Erwerbsintegrationen (gesamt) 40,6 % 43,0 % 43,9 % 42,4 %

darunter

Vermittlung durch Kammern mit EGZ, mit Begleitung 15,8 % 15,0 % 11,8 % 14,4 %

Vermittlung durch Kammern ohne EGZ, mit Begleitung* (2,3 %) 5,7 % 10,2 % (5,8 %)

Andere Erwerbsintegration (ohne EGZ/Begleitung) 22,5 % 22,3 % 21,9 % 22,3 %

Summe 100,0 % 100,0 % 100,0 % 100,0 %

* Werte für diese Form der Erwerbsintegration sind für das Jahr 2009 und somit auch für den Zeitraum 2009 – 2011 nur begrenzt belast-bar, da eine differenzierte Erfassung der Vermittlung mit und ohne EGZ in den Monitoring-Daten erst seit Mai 2009 erfolgt.

Quelle: Eigene Berechnung nach Monitoring-Daten aus dem Programm JA plus 2009 – 2011

Tabelle 1: Anteil der Abgänge nach Abgangsjahren und Form der Erwerbsintegration, 2008 bis 2011

Zentrale Ergebnisse der Untersuchung liegen als G.I.B.-

Arbeitspapiere 47 vor und können unter www.gib.nrw.de

(Service/Publikationen) heruntergeladen oder als Print-

fassung bestellt werden.

AUTOR

Dr. Georg Wortmann, Tel.: 02041 767-246

E-Mail: [email protected]

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MONITORING UND EVALUATION

Seit dem Ausbildungsjahr 2009/2010 unterstützt das

Land NRW mit der Förderlinie „Teilzeitberufsaus-

bildung – Einstieg begleiten – Perspektiven öffnen“

(TEP) junge Menschen mit Familienverantwortung

dabei, ihren Wunsch nach einer Berufsausbildung zu

realisieren. TEP ist Teil des Handlungsprogramms

für Berufsrückkehrende „Brücken bauen in den Be-

ruf“ und wird neben Landesmitteln und weiteren Fi-

nanzierungsquellen mit Mitteln des europäischen

Sozialfonds kofinanziert. Ziel der TEP-Maßnahme

ist der Übergang in eine betriebliche Erstausbildung

(in der Regel in Teilzeit) in einem nach dem Berufs-

bildungsgesetz (BBiG) oder der Handwerksordnung

(HWO) anerkannten Ausbildungsberuf. Seit 2010 kann

auch eine Ausbildung zur Altenpflegefachkraft im

Rahmen von TEP begleitet werden.

Die maximal zwölfmonatige TEP-Förderung sieht eine individuelle Vorbereitungsphase von vier Monaten und eine Phase der Ausbildungsbegleitung von acht Mo-naten durch Bildungsträger vor. Zielgruppe sind Müt-ter und Väter, die wegen bestehender Familienpflich-ten (Kinderbetreuung/Pflege von Angehörigen) bisher keine Ausbildung aufnehmen konnten oder diese ab-gebrochen haben. Die Information und Unterstützung der ausbildungsbereiten Unternehmen zur Umsetzung und Etablierung von Teilzeitberufsausbildung in den unterschiedlichsten Berufen ist ebenfalls Aufgabe der TEP-Projektträger.

Bewilligte Projekte und Plätze

Seit Programmstart im Frühjahr 2009 bis zum Ab-schluss des vierten Projektdurchlaufs im Jahr 2012 sind fast 1.800 Frauen und Männer in die insgesamt 128 ge-förderten Projekte eingetreten (siehe Tab. 1). Seit 2011 wurde die Platzzahl auf 540 Teilnehmendenplätze jähr-lich festgelegt und in allen 16 Arbeitsmarktregionen des Landes NRW umgesetzt. Damit einher ging eine ein-

heitliche Berechnungsgrundlage für die regionale Quo-te, die sich auf 10 Plätze pro Kreis bzw. kreisfreier Stadt in der Region bezog. Aufgrund der Möglichkeit zur Nachbesetzung von frei gewordenen Teilnehmenden-plätzen werden stets mehr Eintritte als bewilligte Plätze verzeichnet. Für die Projektdurchläufe 2009 bis 2012 wurden für die Förderlinie TEP insgesamt rd. 3,3 Mil-lionen Euro ESF- und Landesmittel bewilligt.

Tabelle 1: Bewilligte Projekte und Eintritte seit 20091

Abgeschlossene Projektrunden

Anzahl der Projekte Eintritte

1. 2009/2010 13 199

2. 2010/2011 28 438

3. 2011/2012 44 662

4. 2012/2013 43 661

Gesamt 128 1.820

Struktur der TEP-Teilnehmenden

Über alle vier abgeschlossenen Projektrunden zeigt sich, dass die Teilnehmerstruktur über die Jahre weit-gehend homogen geblieben ist. Der Frauenanteil lag in allen Projektdurchläufen bei rund 98 %. Mehrheitlich hatten die teilnehmenden Mütter (und Väter) ein Kind, mit dem sie in einem Haushalt zusammen lebten. Fast alle Kinder waren jünger als 15 Jahre, und rd. 40 % der Teilnehmenden betreuten ein Kleinkind von unter drei Jahren. Fast zwei Drittel der Teilnehmenden waren al-leinerziehend. Insbesondere die große Gruppe Alleiner-ziehender mit Kleinkindern benötigt für den Übergang in Ausbildung die intensive Betreuung und Begleitung, die das TEP-Projekt ihnen bietet.

Die Pflege von Angehörigen war in allen Projektrun-den nur ein nachrangiges Thema, was auch auf das eher junge Durchschnittsalter der Teilnehmenden zu-rückzuführen ist.

Teilzeitberufsausbildung – Einstieg

begleiten – Perspektiven öffnen (TEP)Ergebnisse aus vier Jahren Programmumsetzung

1  Die laufende Projektrunde 2013/2014 wird in der folgenden Über-

sicht nicht berücksichtigt und ist nicht Gegenstand der nachfol-

gend dargestellten Auswertungen der G.I.B.-Monitoring-Daten.

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MONITORING UND EVALUATION

Die unter 25-Jährigen bildeten stets die größte Grup-pe unter den Teilnehmenden, in der Tendenz stieg je-doch der Anteil der „älteren“ Teilnehmenden über 25 Jahren seit 2009 kontinuierlich von 36 % auf zuletzt knapp 49 % im Jahr 2012.

Es wurden in allen Projektdurchgängen eher besser qua-lifizierte Frauen und Männer erreicht: Die Mehrheit der Teilnehmenden verfügte jeweils mindestens über einen mittleren Schulabschluss. Dieser Anteil stieg stetig von rd. 54 % im Jahr 2009 auf zuletzt 63 % 2012.

Übergänge in begleitete Ausbildung

Rd. 33 % der Teilnehmenden traten im ersten Projekt-jahr 2009 nach Abschluss der Vorbereitungsphase in eine durch den Bildungsträger begleitete (betriebliche) Ausbildung ein. Die Mehrheit trat eine Ausbildung in Teilzeit an. Nachdem die Eintrittsquote in begleitete Ausbildung im Folgejahr leicht auf 31 % zurückging, stieg sie in den Folgejahren stetig an. 2011 lag sie bei rd. 40 % und 2012 schließlich bei rd. 46 % (siehe Abb. 1).

2009 (n = 174) 2010 (n = 392) 2011 (n = 547) 2012 (n = 541)

24,1 % 22,7 % 27,8 % 32,5 %

13,7 %

11,9 %

8,7 %8,6 %

32,7 % 31,4 %

39,7 %

46,2 %

Eintritte in begleitete Ausbildung in TeilzeitEintritte in begleitete Ausbildung in Vollzeit

Abbildung 1: Eintritte in die begleitete Ausbildung

Quelle: G.I.B.-Teilnehmenden-Datenbank

2009 (n = 174) 2010 (n = 392) 2011 (n = 547) 2012 (n = 541)

37,9 % 36,7 % 41,9 % 44,7 %

29,2 %33,5 %31,9 %38,5 %

23,6 % 31,4 %

Abbildung 2: Verbleib der Teilnehmenden nach Verlassen der TEP-Maßnahme

Quelle: G.I.B.-Teilnehmenden-Datenbank

in Ausbildung (begleitete betriebliche/sonstige Ausbildungsformen)sonstige berufliche Entwicklung (andere Qualifizierungsmaßnahmen, Ausbildung/Qualifizierung geplant u. a.)keine berufliche Entwicklung (Arbeitslosigkeit u. a.)

24,7 % 26,1 %

Die Vergütung der Teilzeitberufsausbildung erfolgte in der Regel nach Stundenvolumen (in jeweils rd. 90 % der Fälle), und ihr Zeitumfang betrug in der Regel 30 Wochenstunden.

Bei den TEP-Teilnehmenden zeigt sich in allen Pro-jektrunden ein sehr begrenztes Spektrum bei der Be-rufswahl: In allen Jahren konzentrierten sich drei von vier begleiteten Ausbildungen auf die zehn beliebtesten Ausbildungsberufe. Fast jeder zweite Ausbildungsver-trag wurde im kaufmännischen Bereich abgeschlos-sen, gefolgt von den Bereichen Gesundheit bzw. Al-tenpflege sowie Verkauf.

Abbrüche der begleiteten Ausbildung innerhalb der Pro-jektlaufzeit werden seit 2010 ebenfalls im Rahmen des Monitorings erfasst. Über das Projektende hinaus ist keine Erfassung von Abbrüchen vorgesehen. 2010 lag die Abbruchquote der begleiteten Ausbildung bei 13 %, 2011 bei rd. 17 % und 2012 bei rd. 18 %. Abbruchgrund waren in erster Linie Probleme im Betrieb (etwa mit den Arbeitszeiten oder der Arbeitsorganisation).

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MONITORING UND EVALUATION

Verbleib der Teilnehmenden nach Verlassen der TEP-Maßnahme

Die Gruppe der Teilnehmenden, die nach ihrem indi-viduellen Austritt aus der TEP-Maßnahme in Ausbil-dung (sowohl in betrieblicher als auch in sonstiger, z. B. schulischer Ausbildung) verblieb, ist nach einem leich-ten Absinken von anfänglich rd. 38 % im Jahr 2009 auf knapp 37 % im Jahr 2010 stetig angestiegen auf zuletzt rd. 45 % im Jahr 2012 (siehe Abb. 2).

Der Anteil derer, die abseits des Übergangs in Ausbil-dung eine sonstige berufliche Anschlussperspektive fanden (z. B. andere Qualifizierungsmaßnahmen, Be-schäftigung, Nachholen von Schulabschlüssen u. a.), ist – zugunsten der in Ausbildung verbliebenen Grup-pe – von einem hohen Anteil von rd. 39 % 2009 auf zuletzt 29 % im Jahr 2012 gesunken. Der Anteil derer, die ohne berufliche Perspektive bzw. Entwicklung das TEP-Projekt verließen, liegt (abgesehen von einem ne-gativen Ausschlag im 2010) konstant bei rund einem Viertel der Teilnehmenden (siehe Abb. 2). Diese mün-deten in Arbeitslosigkeit, traten eine Therapie an oder wurden erneut schwanger bzw. kehrten zu einer aus-schließlichen Familientätigkeit zurück.

ANSPRECHPARTNERIN IN DER G.I.B.

Dr. Maria Icking

Tel.: 02041 767-273

E-Mail: [email protected]

AUTORIN

Julia Mahler

Tel.: 02041 767-175

E-Mail: [email protected]

VORWORT

So viel vorab

Mindestlohn, Werkverträge, Leihar-beit – Themen, die das Arbeitsministe-rium seit dem Start der Landesinitiati-ve „Faire Arbeit – Fairer Wettbewerb“ besonders intensiv bearbeitet hat – sol-len lt. Koalitionsvertrag von der neuen Bundesregierung angegangen werden. Höchste Zeit, möchte man meinen. Leihbeschäftigung ist überwiegend zweitklassig. Das Werkvertrags-Unwe-sen greift um sich. Der Sozialbericht des Statistischen Bundesamtes 2013 zeigt ein wachsendes Armutsrisiko auf. Die G.I.B. hat ein „Forum Lohnent-wicklung“ organisiert und dazu eine Studie zur Verdienstentwicklung in Auftrag gegeben. In diesem Heft zeich-nen wir die Entwicklung der Löhne und des Niedriglohnsektors auf.

Besonders groß ist der lohnpolitische Handlungsbedarf in der Friseurbran-che. Die Beschäftigten rangieren am Ende der Einkommensskala. Lesen Sie unseren Bericht „Qualität statt Lohndumping im Friseurhandwerk!“

Eher noch schlechter ist die Lage im Wach- und Sicherheitsgewerbe. Hier hat die Gewerkschaft ver.di im April 2013 in einem bundesweit beachte-ten Tarifkonflikt und nach massivem Streik beachtliche Lohnerhöhungen für die Beschäftigten und insbesonde-re für die unteren Lohngruppen durch-gesetzt. Über den Verlauf der Tarifaus-einandersetzungen und die Gründe für den gewerkschaftlichen Erfolg sprachen wir mit Andrea Becker. Die ehemalige Mitarbeiterin einer Arbeitsagentur ist heute Abteilungsleiterin beim Landes-bezirk NRW der Vereinten Dienstleis-tungsgewerkschaft (ver.di).

Eine wichtige Rolle in diesem Tarifkon-flikt spielte Bernhard Pollmeyer. Der Landesschlichter NRW, eine unpar-teiische Institution, die es nur bei uns gibt, stellt im Interview die Bedeutung seiner Institution vor und verdeutlicht zugleich seinen Leitsatz bei der Mode-ration von Tarifauseinandersetzungen: „Kein Wettbewerb über den Lohn!“

Warum etwa das Thema Mindestlohn in Deutschland so kontrovers disku-tiert wird und wie andere europäische Länder das regeln, haben wir mit Dr. Thorsten Schulten vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut in der Hans-Böckler-Stiftung bespro-chen. Schulten ist Referent für Arbeits- und Tarifpolitik in Europa und Mit-glied der Kommission, die das Land beim Thema „Mindestlohn für die öf-fentliche Auftragsvergabe“ berät.

Unser Interview mit Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Möller komplettiert die Arti-kel zum Thema Faire Arbeit in diesem Heft. Der Direktor des Instituts für Ar-beitsmarkt und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg, der Forschungseinrich-tung der Bundesagentur für Arbeit, zeigt eindringlich die gesellschafts-politische Dimension auskömmlicher Löhne und einer gerechten Verteilung von Markteinkommen auf und befin-det: „Sozialvertrauen ist ein hoher so-zialer und ökonomischer Wert.“

Die Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss – Übergang Schule – Beruf in NRW“ erreicht fast alle Poli-tikfelder in NRW. Wichtigstes Hand-lungsfeld der Arbeitsmarktpolitik ist dabei der Übergang von der Schule in

den Beruf. Die Stadt Hagen und der Ennepe-Ruhr-Kreis sind zu Beginn des Jahres gemeinsam in die Umset-zung eingestiegen. Während andere Kommunen noch daran arbeiten, wie sie die regionalen Bildungsträger und Wohlfahrtsverbände in die neu zu ge-staltenden Übergangsstrukturen inte-grieren, zeichnen sich in Hagen und Ennepe-Ruhr schon klare Konturen ab.

Ansonsten in diesem Heft: Das Mo-dellprojekt „Teilhabe an Arbeit“, mit dem 1.000 neue Außenarbeitsplät-ze für Menschen mit Behinderung in NRW geschaffen werden sollen, die arbeitsbezogene Grundbildung an Einfacharbeits plätzen, die „Genera-tion Praktikum“, zwei weitere Bei-spiele von Produktionsschulen, der in Gütersloh und einer in Vorpom-mern-Greifswald, sowie der Trend, dass immer mehr Jobcenter ihre Ein-gliederungsmaßnahmen selbst orga-nisieren. Besonders zu empfehlen an-lässlich des 15-jährigen Jubiläums von „Jugend in Arbeit plus“: unser Round-table zu einem der wirksamsten Förder-angebote nordrhein-westfälischer Ar-beitsmarktpolitik.

Viel Spaß beim Lesen wünscht wieder

G.I.B. – Gesellschaft für innovative Beschäftigungs- förderung mbH · Im Blankenfeld 4 · 46238 Bottrop, PVSt. Deutsche Post AG, Entgelt bezahlt

Magazin der Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung des Landes Nordrhein-Westfalen Dezember 2013

Faire Arbeit, faire LöhneBildungsträger im Übergangssystem • Produktionsschulen Gütersloh und Wolgast • Make-or-

Buy-Ansätze • 1.000 neue Außenarbeitsplätze • 15 Jahre Jugend in Arbeit • Prof. Dr. Dr. h. c.

Möller: Ungleichheit • NRW-Landesschlichter • Generation Praktikum • SESAM

G.I.B

.INFO

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Die Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH ist eine Einrichtung der Landesregierung NRW.

Sie unterstützt die Arbeitspolitik des Landes. Auch bei der Umsetzung des ESF ist die G.I.B. strategischer Partner des MAIS.

Impressum

Herausgeber: G.I.B. – Gesellschaft für innovative

Beschäftigungsförderung mbH, Im Blankenfeld 4, 46238 Bottrop

Verantwortlicher Redakteur: Manfred Keuler

Redaktionskonferenz: Andrea Bosch, Dr. Friedhelm Keuken, Manfred Keuler,

Julia Mahler, Christiane Siegel, Benedikt Willautzkat

An dieser Ausgabe haben mitgewirkt: Britta Albertz (Verein „Jugend in Arbeit“),

Andrea Becker (ver.di NRW), Uwe Becker (Evangelische Jugendhilfe Iserlohn-Hagen

gGmbH), Karl Feldengut, Thomas Fonck (Landschaftsverband Rheinland), Ruth Girmes

M. A. (Universität Duisburg-Essen), Andrea Greiner-Jean (Produktionsschule Wolgast),

Martina Große Halbuer (Landschaftsverband Westfalen-Lippe), Thomas Heitzer (Netz-

werk Lippe), Bernd Höller (agentur mark GmbH), Ulrike Joschko (Regionalagentur

MEO), Jürgen Kempken, Astrid Kempmann (nomiko e. V.), Dr. Friedhelm Keuken,

Rosemarie Klein (bbb Dortmund), Dr. Andreas Kletzander (Jobcenter Wuppertal), Jürgen

Kockmann (Jobcenter Kreis Steinburt), Niko Köbbe (DGB), Elmar Kotthoff (Caritasver-

band Hagen e. V.), Arnold Kratz, Frank Stefan Krupop, Eva-Maria Kunzig (freie Beraterin),

Stephan Lorenz (Regionalagentur Bonn/Rhein-Sieg), Julia Mahler, Meinolf Melcher

(Kolping Bildungszentren Ruhr gGmbH), Prof. Dr. Dr. h. c. Joachim Möller (IAB), Michael

Nölle (Kreishandwerkerscschaft Düsseldorf), Paul Pantel, Hildegard Pavenstädt-Palsherm

(Kolping-Berufsförderungszentrum Gütersloh), Wilfried Petri (Friseur- und

Kosmetikverband NRW), Bernhard Pollmeyer (MAIS NRW), Dr. Burkhard

Post (Kolping-Berufsförderungszentrum Gütersloh), Dr. Boris Schmidt

(Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin), Dr. Thorsten Schulten (WSI),

Rudolf Stüker (Kolping-Berufsförderungszentrum Gütersloh), Elisabeth

Tadzidilinoff, Sarah Theres Weikamp, Silke Tornede, Michaela Trzecinski

(agentur mark GmbH), Benedikt Willautzkat, Dr. Georg Worthmann

Redaktionsanschrift und Bezugsadresse:

G.I.B. – Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH

Im Blankenfeld 4 | 46238 Bottrop

Tel.: 02041 767-0 | Fax: 02041 767-299

E-Mail: [email protected] | Internet: www.gib.nrw.de

Gestaltung: Andrea Bosch, G.I.B.

Fotos: Arnd Drifte; Joe Kramer; Michel Koczy; kontakt@generation-

praktikum.at; (c) dpa: Karl-Josef Hildenbrand, Daniel Naupold und

Stephanie Pilick; ddpimages: Oliver Lang/Michael Kappeler

Titelfoto: Arno Burgi (c) dpa

Druck: Druckerei Schmidt, Lünen | ZKZ: K31228 | ISSN 1860 – 9384

Bezugspreis: 7,00 EUR, zzgl. 3 EUR für Porto und Verpackung

Erscheint vierteljährlich | Dezember 2013

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