schrumpfende städte verschwindende orte -...

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Universität Leipzig Institut für Kulturwissenschaften/ Umweltforschungszentrum Leipzig-Halle GmbH Dr.Matthias Bernt Shrinking Cities WS 2004/ 05 René Seyfarth Zschochersche Str.53 04229 Leipzig 0341/ 92 60 159 7.FS Kulturwissenschaften (HF) Ethnologie (NF)/ Kunstgeschichte (NF) Hausarbeit Schrumpfende Städte & Verschwindende Orte Eine Gegenüberstellung

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Universität LeipzigInstitut für Kulturwissenschaften/Umweltforschungszentrum Leipzig-Halle GmbHDr.Matthias BerntShrinking CitiesWS 2004/ 05

René SeyfarthZschochersche Str.5304229 Leipzig0341/ 92 60 1597.FS Kulturwissenschaften (HF)Ethnologie (NF)/ Kunstgeschichte (NF)

Hausarbeit

Schrumpfende Städte &

Verschwindende OrteEine Gegenüberstellung

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Inhalt

Seite

1. Einleitung 1

1.1 Eingrenzung

2. Umdenken des urbanen Raums 3

2.1 Paul Virilio: Der überwundene Raum2.2 Vilém Flusser: Nomadismus und Stadt als Wellental2.3 Exkurs: Cyberspace2.4 Marc Augé: Nicht-Orte2.5 Manuel Castells: Raum der Ströme2.6 Saskia Sassen: Neue Zentralität der Global Cities2.7 Klaus Müller: Globale Geographie

3. Gegenüberstellung der Konzepte & Synthese 16

3.1 Ein wirtschaftliches Problem3.2 Ein Identitätsproblem3.3 Welches Problem?

4. Schluss 21

Quellen

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1. Einleitung

„Schrumpfende Städte“ stehen seit einigen Jahren auf der Agenda zahlreicher

Wissenschaftler ganz oben, denen mehr und mehr Politiker, Künstler, Architekten

und noch mehr Wissenschaftler Gesellschaft leisten. Sinkende Bevölkerungszahlen

vor allem in den Städten Ostdeutschlands, aber auch in einigen westdeutschen

Regionen wie dem Ruhrgebiet alarmieren Politik, Wirtschaft und eben auch

Wissenschaft. Demographische Analysen lassen für die Zukunft schwarz sehen –

mittelfristig und vielleicht sogar langfristig ist keine Trendwende zu erwarten – die

Folgen der Schrumpfung werden quantitativ und qualitativ immer stärker spürbar

sein, in einigen Jahren auch in weiten Teilen Westdeutschlands, so die Prognosen.

Meine Herangehensweise an das Thema dagegen ist nicht lösungsorientiert und setzt

sich auch wenig mit den formulierten Lösungsansätzen auseinander, sondern es geht

mir vorrangig um eine Darstellung verschiedener Denkansätze, die sich mit dem

Raum beschäftigen, bzw. genauer gesagt mit einem fortschreitenden

Bedeutungsverlust von Raum. Der naheliegende Gedanke, dass ein Weiterdenken

von Schrumpfung notwendig in einer Auflösung des Schrumpfenden münden müsse,

spielt dabei jedoch keine wesentliche Rolle. Ebensowenig bietet der vorliegende

Vorschlag griffige Gestaltungsmöglichkeiten für die nicht leugbaren Schwierigkeiten

finanzieller, politischer, ökologischer, etc. Natur. Am ehesten nähert er sich

kulturellen und sozialen Fragestellungen – ob er diese berührt, möchte ich an dieser

Stelle noch nicht beurteilen.

In der Gliederung wird sich dies wie folgt niederschlagen: zuerst möchte ich die

„Schrumpfende Stadt“ relativ grob auf einen Kern an Begrifflichkeiten reduzieren.

Daraufhin werde ich mich unter Punkt 2 verschiedenen Raumkonzepten zuwenden,

die von Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen aufgestellt wurden. Aus

ebendiesem Grund werden sich auch die theoretischen Überschneidungen auf einen

relativ kleinen Bereich beschränken, auf den ich mich konzentrieren will.

Widersprüche zwischen den verschiedenen Theorien werden zwar dargestellt, aber

nicht diskutiert. Eine Ausnahme wird der Beitrag Klaus Müllers zum Katalog

„Schrumpfende Städte“ sein, da der Ausgangspunkt seiner Arbeit dem meiner ähnelt,

das Verständnis jedoch ein grundsätzlich anderes ist.

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Unter Punkt 3 soll schließlich versucht werden, die unter (2.) vorgestellten Thesen in

einer Synthese zu vereinen und eine alternative Herangehensweise an schrumpfende

Städte zu entwickeln. Dabei wird es leider ebenso zu verallgemeinernden, wie zu

weit ausholenden Behauptungen kommen, die ich mich nicht zu vermeiden in der

Lage sah, da Präzisierungen, Herleitungen und differenzierte Betrachtungen den

Umfang der Arbeit erheblich vergrößert hätten, ohne in der Aussage eindeutiger oder

unbestreitbarer zu werden. Mir ist bewusst, dass ich mich bis zum Schluss hin auf

sehr dünnem Eis bewege, das noch dazu glatt ist.

1.1 Eingrenzung

Wenn in dieser Arbeit von „Schrumpfenden Städten“ die Rede ist, so wird dieser

Begriff auf einen Kern von Bedeutung reduziert verwendet. Dabei beziehe ich mich

auf Gatzweiler et al, die zwei Prozesse als charakteristisch herausstellten: „der

massive dauerhafte Verlust an Arbeitsplätzen durch wirtschaftlichen Strukturwandel

(Deindustrialisierung) und der Verlust an Einwohnern.“1 Philipp Oswalt formuliert es

noch pointierter als einen „Verlust von städtischer Bevölkerung und von

wirtschaftlicher Aktivität“2. Es soll in diesem Sinne auf ökonomische und

demographische Niedergangsprozesse fokussiert werden, ohne jedoch die

schwammigen Schlagwörter „Urbanität“ bzw. „urbane Kultur“ ganz aus den Augen zu

verlieren.

Die Gründe für den Schrumpfungsprozess bleiben dabei unbeachtet – ob

Suburbanisierung, Deindustrialisierung, ein Geburtenknick oder der Zusammenbruch

des Ostblocks als Ursache angenommen wird oder werden, spielt für die Betrachtung

keine Rolle. Auch nur am Rande Bezug nehmen werde ich auf verschiedene Versuche

der Intervention, wobei darüber nachgedacht werden soll, in welchem Sinn die

jeweiligen Projekte sinnvoll zu sein verheißen und welche Beweggründe und

Erwartungen daran gekoppelt sind. Doch wie oben eingeführt, soll es sich zentral um

das Umdenken von Raum handeln und Lösungsansätze sollen hauptsächlich aus

dieser Perspektive betrachtet werden.

1 Gatzweiler, Hans-Peter et al: Schrumpfende Städte in Deutschland? Fakten und Trends, in: Informationen zurRaumentwicklung, Heft 10/11, 2003; S.558.2 Oswalt, Philipp (Hg.): Schrumpfende Städte, Bd.1; Ostfildern-Ruit, Hatje Cantz, 2004; S.12.

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2. Beispiele verschwindender und immaterieller Städte

2.1 Paul Virilio: Der überwundene Raum

Als ausgebildeter Architekt und Städtebauer steht Virilio vermutlich unter den

zeitgenössischen Denkern dem Thema Stadt besonders nahe. Bekannt ist er jedoch

für die von ihm ins Leben gerufene „Dromologie“ als einer Wissenschaft von der

Geschwindigkeit. Er möchte damit darauf hinweisen, dass wir einer wesentlichen

Veränderung unseres Weltbildes aufgrund einer sich wandelnden Wahrnehmung

unterliegen – einerseits durch Transportmittel, die mit immer größerer

Geschwindigkeit Strecken zurücklegen, andererseits vermittels Kommunikations-

technologien, dank derer Entfernungen in Echtzeit überwunden werden können. Als

Folge dessen nimmt der physische bzw. geographische Raum (und damit auch der

Stadt als ein im Raum definiertes Phänomen) in seiner Bedeutung für uns stetig ab,

er schrumpft – Virilio nennt diesen Prozess der Wahrnehmungsveränderung und

Abwertung Entortung.3 In Folge rät Virilio zu überdenken, welchen Sinn eine

abstrakte Wissenschaft des Raums wie die Geographie denn noch habe4.

An die Stelle der Stadt im Raum tritt eine sogenannte teletopische Metastadt, deren

nur in ihr sesshafte Bewohner für alternative Aktionsmuster ausgerüstet sind: „Der

Bewohner der teletopischen Metastadt, der so ausgerüstet ist, daß er seine Umwelt

kontrollieren kann, ohne sich physisch zu bewegen, dieser Teleakteur seiner Lebenswelt,

der ohne die exotischen Prothesen auskommt, mit denen früher das Stadtviertel bestückt

war, unterscheidet nicht mehr eindeutig zwischen hier und anderswo, Privatsphäre und

Öffentlichkeit. (…) Infolgedessen zielt die Sesshaftwerdung darauf ab, endgültig, absolut

zu werden, denn die traditionellerweise über den Realraum der Stadt verteilten

Funktionen füllt jetzt die Echtzeit der Ausrüstung des menschlichen Körpers aus.“5

Verknüpft mit diesem Gedanken ist bei Virilio ein sich ebenso wandelndes Körperbild

der Akteure – der Körper gilt als Funktionsträger der Aufgaben, die in dieser

entorteten Umwelt funktionieren muss, wobei das ursprünglich Wesenhafte, das

Körperliche des Körpers, ebenso an Bedeutung verliert. Medizinischer, sowie

technischer Fortschritt, Prothesen und penetrante Technologien „erlösen“ den Körper

3 Virilio, Paul: Vorwort; in: Thilo Hilpert: Town in Mind, Berlin, form+zweck Verlag, 2004; S.7; sowie:Fluchtgeschwindigkeit; Frankfurt am Main, Fischer, 1999; S.80f.4 ders.: Fluchtgeschwindigkeit, S.86.

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aus seiner Einzigartigkeit und ermöglichen Wartung, „Ersatzteile“ und

Adaptierbarkeit, was jedoch im vorliegenden Zusammenhang nur von peripherer

Bedeutung ist - wesentlicher für das Thema der Arbeit ist der Verweis, dass

zahlreiche Funktionen der Stadt aus dem Raum heraus verlagert wurden und selbst

unter der Bedingung ständiger Bewegung das Gefühl der Sesshaftigkeit erreicht

werden kann.

2.2 Vilém Flusser: Nomadismus und Stadt als Wellental

Ebenso für die Ablösung der Geographie als einziger Wissenschaft der

Lagebestimmung plädiert Vilém Flusser – auch er sieht in den

Kommunikationstechnologien Potential für vielerlei Veränderungen angelegt,

allerdings weniger kulturpessismistisch als Virilio. Eher entwirft er Szenarien, welch

verschiedene Möglichkeiten offen sind und legt sich nicht auf einen bestimmten

Entwurf fest. Zwei Spekulationen, auf die er öfter zu sprechen kommt, möchte ich

herausgreifen: einerseits das entworfene Bild eines neuen Nomadismus, andererseits

das auf physikalischen Theorien basierende Modell der „Stadt als Wellental in der

Bilderflut“.

Für Flusser befinden wir uns am Ende (oder kurz nach dem Ende) des Neolithikums,

der einzigen von der Sesshaftigkeit geprägten Epoche der Menschheit. Dass die

Sesshaftigkeit überwunden wird ist begrüßenswert, da zu Hoffen ist, dass auch

andere Nachteile der Sesshaftigkeit wie Heimat und Besitz mit ihr überwunden

werden mögen6. Kennzeichnend für die Sesshaftigkeit war das von Hegel

festgestellte Pendeln zwischen Privatem und Öffentlichkeit. Dieses Pendeln heißt

„unglückliches Bewusstsein“, da man nur dank der Gewöhnlichkeit des Privaten das

Ungewöhnliche der Öffentlichkeit für sich verarbeiten konnte, anders ausgedrückt:

man konnte sich nicht die Welt nach Hause holen und sich außerhalb seines Hauses

nicht wohl fühlen. Durch Fernsehen, Telefon, Computer, etc. hat sich die Situation

gewandelt7. Man muss sein Haus nicht mehr verlassen, um neue Informationen zu

bekommen und gleichzeitig wird der vormalig öffentliche Raum aus verschiedenen

5 ders.: Fluchtgeschwindigkeit, S.80f.6 Flusser, Vilém.: Von der Freiheit des Migranten; S.16.7 ders.: Nachgeschichten; S.32.

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Gründen (ökologische Unzumutbarkeit, redundante und entpolitisierte Massenkultur,

etc.) immer kleiner. Die ehemals lineare Schnittstelle zwischen dem privaten „Innen“

und dem öffentlichen „Außen“ wird flächenhaft, was sich in

Suburbanisierungsprozessen ausdrückt. Die Suburbanisierung an sich ist jedoch nur

als Beispiel interessant: „Ich bin davon überzeugt, dass die Stadt im Westen auf eine

Sicht von 100 bis 150 Jahren zum Verschwinden verdammt ist. Und zwar nicht durch

Suburbanisation, sondern durch Telepräsenz.“8

Die Emanzipation von der räumlichen Bindung eröffnet die Möglichkeit, in der

Raumzeit zu wohnen, ein nomadisches Dasein zu führen. Dies kann im

herkömmlichen Sinne geschehen, z.B. in der Art eines Wohnwagenbesitzers oder

aber auch unbewegt, da sich die Umwelt derart dynamisch verändert, dass man

stetig mit dem „Ungewohnten“ konfrontiert ist (bzw. sich selbst dem Ungewohnten

aussetzen kann), ohne die Wohnung zu verlassen9.

Peter Sloterdijk räumt der Nomadismusthese Flussers therapeutische Perspektiven

ein, da der bisherige Wohnbegriff eng mit Nichtweggehenkönnen verknüpft war. Er

stellt daher die Frage, was aus dem Wohnwesen Mensch alles werden kann, „…wenn

es die Erfahrung macht, dass Wohnen Hier - und - anderswo - Sein können

bedeutet“10.

Gleichermaßen kann man trotz ständiger Bewegung im Raum das Gewohnte um sich

herum generieren: die Familie nur einen Anruf entfernt, die Heimat auf dem

Fernsehschirm präsent. Der Unterschied zur Interaktion oder Wahrnehmung vor der

Nutzung dieser Medien verschwimmt oder erlischt ebenso mittels Gewöhnung – man

nimmt die Nähe zum anderen durch das Telefon als selbstverständlich wahr, als

normal.

Er entwirft im Wesentlichen drei Möglichkeiten dessen, was an die Stelle des

„unglücklichen Bewusstseins“ treten könnte: einerseits die Vereinsamung am Ende

eines Informationsstrangs (was er mit Faschismus gleichsetzt), ebenso wie ein

Streben nach Glück basierend auf dem niedrigstmöglichen Konsens darüber, was

Glück sei (= Massenkultur)11 und andererseits eine dialogische Medienschaltung,

durch die weit verzweigte Netzwerke und bodenlose Städte entstehen, „topologische

8 ders.: Ende der Geschichte, Ende der Stadt?, S.54.9 ders.: Nachgeschichten, S.58.10 Sloterdijk, Peter: Sphären III, Schäume; Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2004; S.509.11 ders.: Nachgeschichten, S.156, 160.

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Städte“. Dabei plädiert Flusser für das letztgenannte Modell, wobei jedoch wichtig zu

erwähnen ist, dass er ein Befürworter der Katastrophe als eines Ereignisses ist, deren

Folgen nicht berechenbar sind12 - die konservative Angst vor dem Neuen stellt für ihn

ein zu überwindendes Denken der fortschrittsorientierten (auf das Hergebrachte

aufbauenden, berechenbaren) Moderne dar.

Eine topologische Stadt befindet sich nicht im geographischen Raum, sondern

innerhalb eines Beziehungsgeflechts an der Stelle, wo die Knoten des Netzwerks

besonders dicht gestreut sind und das Geflecht überdurchschnittlich bewegt ist. Eine

solche Stadt ist an keinem geographischen Ort zu finden und doch überall

gleichzeitig13. Selbstverständlich kann sich eine topologische Stadt mit einer

geographischen Stadt decken, was jedoch irrelevant ist. Das Wichtige daran ist für

Flusser vor allem der zwischenmenschliche Aspekt – die Möglichkeit, dass durch eine

Loslösung vom Raum und damit verbundenen Denkmustern eine neue Erfahrung des

Mitseins mit anderen möglich wird: die topologische Stadt besteht nicht einmal aus

Individuen und noch weniger aus Gebäuden, Verkehrswegen und Ähnlichem,

sondern ausschließlich aus Beziehungen14. Die „ästhetische Krankheit“ des

Patriotismus, wie er an anderer Stelle ausführt, könnte so überwunden werden15.

Materialität spielt eine immer unwesentlichere Rolle, wohingegen Strukturen,

Verhältnisse und Fantasie immer mehr an Bedeutung zunehmen sollen, wobei die

neuen Technologien hilfreich so eingesetzt werden müssten, dass man ihnen die

„unwichtigen“ Aufgaben überträgt, nämlich die wirtschaftliche Produktion und die

politische Entscheidungsfindung. Der Mensch wird in dem Sinne frei, dass er sich

ausschließlich der Theorie (im weitesten, nicht-wissenschaftlichen Sinne) und dem

Anderen widmen kann – die ganze Stadt wird zu Tempelberg, was letztendlich das

Motiv der Wandlung des homo faber zum homo ludens ist16. Eine solche Stadt ist

nicht mehr ein Raum, der Menschen aufnimmt und beherbergt, sondern wird erst

durch Menschen konstituiert, ist ohne Menschen inexistent.

12 Dies bezieht sich auf die „Katastrophe“ in der Geometrie als einen Punkt, ab dem der Verlauf einer Kurvenicht mehr berechenbar ist.13 Theweleit, Klaus und Höltschl, Rainer (Hg.): absolute – Vilém Flusser; Freiburg, orange press, 2003; S.183.14 ebd., sowie: ders.: Bodenlos, S.260, 264.15 Von der Freiheit des Migranten, S.29.16 ders.: Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung; S.54-59, 67-73.

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2.3 Exkurs: Cyberspace

Ein Schlagwort, dass sich an dieser Stelle und auch noch in Folge aufdrängt, ist der

sogenannte „Cyberspace“. Ihm wird das Potential zugeschrieben, neue Lebenswelten

und neue Formen der Sozialintegration zu schaffen, eine Auflösung unserer

gewohnten Auffassung von Zeit und Raum zu bewirken, ebenso wie darin die

Mutation des Computers zur quasi-biologischen Umwelt angelegt ist. Es handelt sich

um eine neue räumliche und soziale Matrix, einen alternativen Bewusstseinsraum

ohne Wände. Man benötigt keine Stadtplaner und Architekten mehr, sondern die

digitale Stadt wird von den an ihr Teilnehmenden selbst konstruiert, wobei in

Zusammenhang mit Cyberspace dessen digitale Konsistenz als wesentlich anzusehen

ist17.

Er steht zwar mit den geschilderten Prognosen des Bedeutungsverlusts des Raums

durchaus in Zusammenhang, ist jedoch kein synonymer Begriff, sondern nur ein

Aspekt dessen. Virtuelle Realitäten finden nicht nur in Computern, sondern auch in

Köpfen statt, genauso wie Vernetzung über Mobil- oder Festnetztelefone stattfinden

kann, allerdings auch zwischen Wohnwagenbesitzern. Eine zu knappe

terminologische Auslegung würde dem eigentlichen Horizont des Themas nicht

gerecht werden und Instrumenten würde eine größere Bedeutung zukommen als den

Funktionen, denen sie dienen (sollen/ können).

2.4 Marc Augé: Nicht-Orte

Die Auswirkungen der Telepräsenz entfernter Weltregionen und der Reduzierung des

Planeten Erde auf einen Punkt in dem weitaus größeren Raumgefüge des Weltraums,

der durch Raumfahrt und –forschung erfahrbar wurde, beschreibt der Anthropologe

Marc Augé als ein gewandeltes Bedürfnis nach Sinngebung und einen Wechsel der

Größenordnungen. Nicht mehr einer Sippe oder einem Stamm gilt es einen Sinn zu

geben, sondern dem überwältigenden Übermaß an Informationen und Nachrichten,

die in einem globalen Rahmen zu Geschichte verarbeitet werden müssen18.

17 Hartmann, Frank: Under Construction – Architektur, Virtualität und Cyberspace; 1997 (Internetquelle).18 Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte; Frankfurt am Main, S. Fischer, 1994; S.38ff.

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Marcel Mauss bezeichnete eine in Zeit und Raum lokalisierte Kultur einst als „Ort“

und dieser Begriff diente in der Ethnologie über lange Zeit als Mittel zur Vermessung

der Welt. Mittlerweile jedoch vermehren sich „Nicht-Orte“: „Zu den Nicht-Orten

gehören die für den Verkehr von Personen und Gütern erforderlichen Einrichtungen

(Schnellstraßen, Autobahnkreuze, Flughäfen) ebenso wie die Verkehrsmittel selbst oder

die großen Einkaufszentren oder die Durchgangslager, in denen man die Flüchtlinge

kaserniert. Denn wir leben in einer Epoche, die auch in dieser Hinsicht paradox ist: Im

selben Augenblick, da die Einheit des irdischen Raumes denkbar wird und die großen

multinationalen Netze an Stärke gewinnen, verstärkt sich auch der Lärm der

Partikularismen, all derer, die für sich bleiben wollen, oder derer, die nach einem

Vaterland suchen, als wäre der Konservativismus der einen und der Messianismus der

anderen dazu verdammt, dieselbe Sprache zu sprechen: die des Bodens und der

Wurzeln.“19 Um den daraus erwachsenden Anforderungen zumindestens

wissenschaftlich zu begegnen, beschwört er die Tradition der Ethnologie, die doch

aus der Erfahrung ferner Gesellschaften geschlossen haben könnte, dass eine

Dezentrierung der Betrachtung von großem Nutzen ist20.

Der Raum muss umgedacht werden, ohne vorschnell entdifferenziert auf Parolen wie

„Homogenisierung der Kultur“ und „Schaffung einer Weltkultur“ zu schwören,

sondern vielmehr Singularitäten und Rekompositionen das Augenmerk zu widmen21.

Er beschreibt nun den Ausdruck des anthropologischen Ortes als jene konkrete und

symbolische Konstruktion des Raumes, „…die für sich allein nicht die Wechselfälle und

Widersprüche des sozialen Lebens zum Ausdruck zu bringen vermöchte, auf die sich

jedoch all jene beziehen, denen sie einen Platz zuweist, so niedrig oder bescheiden er

auch sein mag.“ Erst ein kollektives Raumverständnis ermöglicht eine auf Identität

beruhende Gruppenbildung, wobei Identität im konstruierten Raum, Relation zu

anderen Räumen und Individualität innerhalb des eigenen Raumes immer zugleich zu

denken sind22.

Wenn die Verknüpfung von Identität und Relation von einem Minimum an Stabilität

geprägt ist, wird der Ort in dem Sinne historisch, dass er die eigene Identität ohne

eine hinzugewonnene Erkenntnis zu bestätigen vermag – im Gegensatz zu

Erinnerungsorten, die Identität über die Erkenntnis schaffen, wie man nicht (mehr)

ist. Ändert sich der eigene Ort des Alltags, wird man Zuschauer seiner selbst, Tourist

19 ebd., S.44f.20 ebd., S.45.21 ebd., S.46, 50.

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im allernächsten Nahbereich23 – was Flusser als den statischen Nomadismus

innerhalb der Raumzeit bezeichnete. Aufgrund längerer Lebenserwartung,

beschleunigter Transformationsprozesse verschiedenster Bereiche und

technologischer Möglichkeiten hat sich der individuelle Erfahrungsbereich in dem

Maße erweitert, dass man dem Wort „Individualtourismus“ eine weitere Bedeutung

zuschreiben könnte.

Die „Übermoderne“, also jene durch ein Übermaß24 geprägte Gegenwart, bringt

solche Nicht-Orte in dem Sinne hervor, dass sie keine „anthropologischen Orte“ sind,

in denen das Hergekommene integriert ist, sondern nurmehr ein über Abgrenzung

definierter „Erinnerungsort“. Bezeichnend für diese Nicht-Orte ist das Transitorische,

Ephemere und Provisorische, wobei der Ort ebenso wenig verschwindet, wie sich der

Nicht-Ort in reiner Gestalt vollständig herstellt. Trotzdem bilden Nicht-Orte das Maß

unserer Zeit25.

Dabei bezieht er sich auf die Unterscheidung Michel de Certeaus zwischen Orten als

Menge von Elementen in einer gewissen Ordnung und Raum als Belebung des Ortes

durch die Veränderung der beweglichen Elemente. Dieser Raumbegriff kann helfen,

eine negative Definition des Nicht-Ortes zu überwinden, wobei das Wort Raum allein

durch seine Plastizität hilfreich ist, wie seine Verwendung zeigt (Ausdehnung,

Zeitraum, Luftraum, Rechtsraum, …)26. „Mit dem Raum umzugehen bedeutet also, die

fröhliche und stille Erfahrung der Kindheit zu wiederholen; es bedeutet, am Ort anders zu

sein und zum anderen überzugehen.“27

Der Raum ist danach Umgang mit Orten als eine fiktive Beziehung zwischen

Sinneswahrnehmung und Umgebung, nicht mit dem Ort, z.B. zwischen Blick des

Reisenden und der durchreisten Landschaft. Der Nicht-Ort ist dementsprechend ein

auf bestimmte Zwecke hin konstituierter Raum (Verkehr, Handel, Freizeit, …), ebenso

wie die Beziehung, die das Individuum zu diesem Raum unterhält, was sich jeweils

wechselseitig bedingt. Anthropologische Orte bringen Organisch-Soziales hervor,

Nicht-Orte hingegen eine solitäre Vertraglichkeit28.

22 ebd., S.62f.23 ebd., S.66-68.24 Überfülle der Ereignisse, Überfülle des Raumes, Individualisierung der Referenzen; ebd., S.127.25 ebd., S.92-94.26 ebd., S.94-98.27 Certeau, Michel de: Kunst des Handelns; Berlin (West), Merve, 1988; S.208 (Hervorhebung im Original).28 Orte und Nicht-Orte, S.102f, 110f.

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„Der Raum des Nicht-Ortes schafft keine besondere Identität und keine besondere

Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit.“ Der Nicht-Ort beherbergt keinerlei

organische Gesellschaft, sondern zu Passagieren, Kunden, Benutzern oder

Rezipienten homogenisierte Individuen, die lediglich am Ein- oder Ausgang nach

konventionellen und offiziellen Kriterien identifiziert werden29.

2.5 Manuel Castells: Raum der Ströme

Manuel Castells stellt eine andere Hypothese auf – er geht davon aus, dass in einer

Netzwerkgesellschaft der Raum die Zeit organisiert. Jeder ökonomische Prozess lässt

sich auf Wissensgewinnung und Informationsströme reduzieren, doch trotz der

technischen Möglichkeiten, sich über den gesamten Erdball verstreut anzusiedeln, ist

vielmehr eine gleichzeitige Streuung und Konzentration der spezialisierten

Dienstleistungen zu beobachten30, die jedoch entlang dieser Kapital-, Interaktions- &

Informationsströme verläuft.

Dadurch wird das Kommunikationsnetzwerk zur grundlegenden räumlichen

Konfiguration: „Orte verschwinden nicht, sondern ihre Logik und Bedeutung gehen im

Netzwerk auf.“31 Die Technologie-Infrastruktur definiert den Raum in dem Maße, wie

dies die Eisenbahn im Zeitalter der Industrialisierung tat oder noch früher die Regeln

der Bürgerschaft für den Raum konstituierend wirkten32. Der Raum der Ströme stellt

zwar nicht die einzige räumliche Logik unserer Gesellschaft dar, doch ist er die

dominierende räumliche Logik, da ihm gleichzeitig auch die dominierenden

Interessen und Funktionen unserer Gesellschaft zugrunde liegen33. Und obwohl man

nach wie vor an geographischen Orten lebt und arbeitet, wird deren Bedeutung und

Dynamik, und damit ebenso ihre physische Gestalt und ihre erwünschten und

unerwünschten Funktionen, von der Logik des Raums der Ströme gestaltet oder

mindestens beeinflusst34.

29 ebd., S.121, 130f.30 Castells, Manuel: Space Flow – der Raum der Ströme; in: Bollmann, Stefan (Red.):Kursbuch Stadt – Stadtleben und Stadtkultur an der Jahrtausendwende; Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt,1999; S.41.31 ebd., S.65.32 ebd., S.66.33 ebd., S.68f.34 ebd., S.78f.

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Eine inhärente Gefahr dessen ist das Nebeneinander verschiedener räumlicher

Logiken: der Bewohner eines Ortes verfolgt andere Interessen als es ein Akteur im

Raum der Ströme tut, selbst wenn es sich dabei um Nachbarn oder Eheleute handelt.

Hier stehen kulturelle Selbstverortung, Identitätssuche und historisches Bewusstsein

den zerstreuenden, ahistorischen und homogenisierenden Tendenzen gegenüber.

Eine kleine globale Elite könnte sich vollständig vom Raumbezug und gemeinsamen

kulturellen Codes abkoppeln35.

2.6 Saskia Sassen: Neue Zentralität der Global Cities

Saskia Sassens „Global Cities“ sind ein viel besprochenes Konzept der Gegenwart, da

sie aufgrund einer neuen Konzentration und Spezialisierung der Finanz- und

Dienstleistungsbranche eine ebenso neuartige Raumordnung feststellt, sowohl was

die Stadt-Umland-Beziehung betrifft, als auch und besonders in Bezug auf

interurbane Beziehungen. Eine wichtige Bedingung dieser Entwicklungen stellen die

neuen Informationstechnologien dar. Ihre Überlegungen stoßen auf vergleichsweise

geringen kritischen Widerstand36, sondern vielmehr auf breite Rezeption und

Verarbeitung.

Sassens Ziel ist es, Städte als Produktionsstandorte der führenden Dienstleistungs-

industrien zu begreifen, welche aufgrund einer Agglomerationsdynamik auf einen

städtischen Standort angewiesen sind und dies von der globalen bis zur regionalen

Ebene. Dabei liegt der Fokus besonders auf den Praktiken globaler Kontrolle als der

Produktion und Reproduktion der Organisation und des Managements eines globalen

Produktionssystems und Finanzmarktes unter den Bedingungen wirtschaftlicher

Konzentration, wobei die Erzeugung der relevanten Informationen und die damit

verbundenen Infrastrukturen von Beschäftigungsverhältnissen einbezogen werden.

Dadurch gelangt man zu Erkenntnissen über die Städte als Standorte ebenso wie

über deren soziale Ordnung. Bisher seien diese Dimensionen nicht untersucht

worden, sondern wurde unter Schlüsselbegriffen wie Globalisierung, Informations-

35 ebd., S.69-71, 79f.36 Ein seltenes Beispiel der Kritik ist Peter Nollers Einschränkung, dass bei Saskia Sassen als auch bei derGlobal-City-Forschung im Allgemeinen ein ökonomistischer Überhang festzustellen ist, wodurch ein zueinseitiges Erklärungsmodell entsteht. Noller, Peter: Globalisierung, Stadträume und Lebensstile; Opladen,Leske + Budrich, 1999; S.123ff.

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gesellschaft und Telekommunikationstechnologien ein Bedeutungsverlust des Raums

konstatiert, obwohl räumliche Gebundenheit und räumliche Konzentrationsprozesse

eine bedeutsame Komponente der globalen Informationswirtschaft darstellen37.

Dies gilt jedoch hauptsächlich für das Stadtzentrum bzw. das Gebiet innerhalb der

Stadt, in der sich jene Dienstleistungen konzentrieren. Da die Interaktion

hauptsächlich zwischen dem Dienstleistungsunternehmen und Großunternehmen

oder dem Finanzmarkt stattfindet, bleibt dieser Sektor der Wirtschaft von

Entwicklungen in der Stadt und deren Umland, z.B. ein Niedergang des

verarbeitenden Gewerbes unberührt – diese Dienstleister bauen auf einer

veränderten Wachstumsdynamik auf, die ziemlich unabhängig von der regionalen

Wirtschaft ist. Das enge Wechselverhältnis zwischen Stadt und Umland scheint

überwunden38.

Ebensowenig muss die Konzentration dieser Tätigkeiten unbedingt im Stadtzentrum

oder (wenn vorhanden) in einem bisherigen Wirtschafts- oder Finanzdistrikt

stattfinden. Auch hier werden hergebrachte Muster durchbrochen. Dies kann Folge

einer Nachfrage nach speziellen Räumen sein, die den diversifizierten Bedürfnissen

angepasst sind (und neue Gebäude erfordern), aber ebenso verkehrstechnische

oder andere Gründe haben. Beispiele sind vorörtliche Bürostädte, „edge cities“ und

„exopoles“, die als Knotenpunkte mittels elektronischen Medien mit zentralen

Standorten verbunden sind. Dabei ist noch ungeklärt, ob man diese dezentralen

Knotenpunkte als eine neue Form der Organisierung des Zentrums bewerten kann

oder lediglich als Nebenphänomen der Suburbanisierung39.

Festzustellen ist jedoch auch unabhängig von diesen Kommunikationszentren die

Formierung eines „transterritorialen Zentrums“, welches sich aus digitalen

Kommunikationslinien und verdichteten Wirtschaftstransaktionen bildet. Es handelt

sich dabei um körperlose Zentralitätszonen, die kein territoriales Gegenstück haben

und im Cyberspace liegen. Einige Teilbereiche der Finanzindustrie sind in diesem

Raum angesiedelt und erzeugen Profite, die wiederum Macht begründen. Die in

diesem immateriellen Raum erfolgenden Aktionen haben Einfluss auf ganze

37 Sassen, Saskia: Neue Zentralität; in: Noller, Peter, Prigge, Walter, Ronneberger, Klaus (Hg.): Stadt-Welt;Frankfurt am Main, Campus, 1994; S.136f.38 ebd., S.140f.39 ebd., S.143ff.

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Volkswirtschaften und können sich in den daraus resultierenden Folgen positiv bis

verheerend materialisieren40.

Insgesamt kann man aus diesen Umständen auf eine Reorganisation der

raumzeitlichen Dimensionen der urbanen Wirtschaft schließen, was gleichzeitig eine

neue Geographie des Zentrums hervorbringen wird. Diese wird wesentlich

Knotenpunkte höchstentwickelter Kommunikationseinrichtungen untersuchen

müssen, welche eine neue Form oder einen neuen Raum der Zentralität bilden41.

2.7 Klaus Müller: Globale Geographie42

Dass immaterielle Räume für schrumpfende Städte nicht irrelevant sind, beweist der

Beitrag von Klaus Müller im Katalog zur Ausstellung „Schrumpfende Städte“. Er

stimmt auch dem Ansatz zu, dass sich unser Verhältnis zu Raum und Zeit im Wandel

befindet, vor allem in Berufung auf den Globalisierungsprozess: „Globalisierung

erscheint mit anderen Worten als Emanzipation von Raum und Zeit durch Kommunikation

und Geschwindigkeit. Dass diese Entwicklungen die räumliche Ordnung von

Gesellschaften transformieren, dass sie auf die geografische Verteilung wirtschaftlicher

Aktivitäten, auf die Prozesse der Urbanisierung und die Ordnung der Städte einwirken,

wurde früh erkannt.“43 Insgesamt lehnt er jedoch die Entropie der geographischen

Orte als scharfsinniges, aber überzogenes intellektuelles Konstrukt ab und möchte

den gegenwärtig ablaufenden Prozess vielmehr als eine Rekonfiguration denn als

eine Auflösung verstanden wissen.

Er räumt zwar ein, dass ein Funktionsverlust für städtische Zentren vorliegt, ebenso

wie eine geringer werdende Dichte von Menschen und Anziehungspunkten

(Arbeitsplatz, Bildung, Verwaltung, Konsum, Freizeitangebote, etc.), damit jedoch

gleichzeitig ein Zugewinn an Lebensqualität verbunden ist (weniger Kriminalität,

geringere Umweltbelastung, niedrigere Grundstückskosten, etc.), was auf

Marktprozesse und politische Entscheidungen zurückzuführen sei44.

40 ebd., S.144.41 ebd., S.145.42 Müller verwendet die Schreibweise „Geografie“ – die von mir verwendete abweichende Schreibweise„Geographie“ hat jedoch keinerlei terminologisch distinguierende Bewandtnis.43 Müller, Klaus: Globale Geografie; in: Oswalt, Philipp: Schrumpfende Städte, Bd.1; Ostfildern-Ruit, HatjeCantz Verlag, 2004; S.35.44 ebd., S.36.

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Von diesen Suburbanisierungsprozessen schlägt er den Bogen in die sogenannten

Entwicklungsländer und Länder der Dritten Welt, wo ein rasantes Wachstum der

Städte (tlw. gleichzeitig zu einem ebenso rasanten urbanen Wirtschaftswachstum)

mit enormen Problemen (vor allem Slumsiedlungen) verbunden ist und gleichzeitig

eine extreme Ungleichverteilung von Wohlstand und Wachstum zu verzeichnen ist.

Aufgrund dessen bedarf es unbedingt einer raumbezogenen Betrachtungsweise, da

entscheidende regionale Differenzen ansonsten verschleiert würden. Die

Beobachtung der Neuen Ökonomischen Geographie, dass ein Drittel des globalen

Sozialprodukts auf 3% der Fläche der bewohnbaren Erde verteilt sind, widerlegt

sowohl die These von der Auflösung von Raum und Zeit, als auch des

Neoliberalismus45.

Ebenso greift er Saskia Sassens „Global Cities“ auf, die er als betont materielle Städte

beschrieben sieht und die aufgrund der in ihnen transnational agierenden Konzerne

und der herrschenden Nachfrage nach hochspezialisierten Dienstleistungen nur im

Raum existieren können. Einschränkend gibt er allerdings zu bedenken, dass nur

sehr wenige Städte das Potenzial haben, sich als Zentren globaler Aktivitäten zu

profilieren46.

Aufgrund der genannten Aspekte verbietet sich nach Meinung Müllers eine Auflösung

des Raums der Orte, da die Geographie eine sehr wichtige Grundlage für die

Beobachtung von Machtkonstellationen ist47. Dem kann man so nicht widersprechen,

doch scheint seiner Argumentation die Annahme zugrunde zu liegen, dass die

Auflösung des uns umgebenden Raums im Sinne der umgebenden Luft und der uns

gravitätisch bindenden Erde prognostiziert wurde. Wie sonst wäre seine kontrastive

Gegenüberstellung der Rekonfiguration mit der Auflösung zu verstehen? Es ist jedoch

zu bezweifeln, dass Konzepte von der Auflösung des Raums jemals als eine

atomisierende Apokalypse verstanden sein wollten, sondern waren ebenso bildhafte

Formulierungen einer Rekonfiguration. Wenn dem so ist, wird es jedoch schwierig

herauszufinden, gegen was Müller argumentiert – klar wird lediglich, dass er eine

Globale Geographie befürwortet.

45 ebd., S.38f.46 ebd., S.39f.47 ebd., S.41: hier und an anderer Stelle den Worten Sassens sehr nahe, allerdings anders gedeutet.

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Allerdings drängt sich mir der Verdacht auf, dass die Schlagworte Globalisierung und

Vernetzung dazu dienten, zahlreiche Fakten ebenso zu globalisieren und zu

vernetzen, bis der Bedeutungsverlust eintrat. So führt er an, dass zahlreiche

Regionen der Erde wie z.B. das subsaharanische Afrika sowohl wirtschaftlich, als

auch in Datenströme unterintegriert sind. Dies ist kein neues Argument gegen die

Globalisierung als nur vermeintlich globales Phänomen, steht jedoch in keinem

Zusammenhang mit der Auflösung des Raums, solange man davon ausgehen kann,

dass eine in Europa formulierte Idee auch dann eurozentrisch ist, wenn dies nicht

explizit einschränkend formuliert wurde. Natürlich sind Theorien des Cyberspace und

der Schrumpfung des Raumes aufgrund von Beschleunigung nicht auf Südafrika

bezogen und mittel- bis langfristig für diese Weltregion nicht gültig.

An anderer Stelle preist er das Potential der dichten Städte der „Entwicklungsländer“

(obwohl er zwei Seiten vorher eine räumliche Streuung in den „entwickelten

Ländern“ deutlich befürwortete), unter anderem, dass sich im urbanen Umfeld

repressive Kulturnormen eher lockern würden. Dies ist wohl kaum global gedacht,

obwohl er vorher das globale Denken als argumentativen Hebel nutzte und darf in

der Aussage bezweifelt werden48.

Bezieht man sie jedoch auf die ökonomisch hochgradig integrierten Weltregionen,

sind Müllers Gegenargumente schwer haltbar bzw. von ihm selbst widerlegt: er

beschreibt Suburbanisierung, welche zu den oben geschilderten Phänomen der

Auflösung der Bedeutung des Raumes (und nicht des Raums an sich, wie Müller

schreibt) gehört. Die von ihm genannten Vorteile einer weniger dichten Stadt kann

man annehmen oder bezweifeln, doch was diese und die folgenden Ausführungen

mit dem Bedeutungsverlust des Raums zu tun haben, ist schwer rekonstruierbar.

„Global Cities“ konstituieren sich gerade über transnationale Datenströme in

gewaltigem Umfang, wohingegen die umgebende Region an Bedeutung verliert.

Susanne Hauser führt Sassen z.B. ganz im Gegensatz zu Müller als Referenz

zugunsten der nicht-geographischen Räume an, indem sie Global Cities als

48 Mein ebenso wenig empirischer Einwand ist, dass eine repressive Kultur unabhängig vom Ort repressiv ist undebenso innerhalb jeder Kultur sowohl das urbane als auch das rurale Umfeld spezifische Freiheiten bietet wieTabus aufweist. Der repressive Charakter einer Kultur wird meines Erachtens eher dann überwunden, wenn dieKultur an sich abgelehnt oder wesentlich transformiert wurde, was in der Regel mit sozialer Exklusion, obgewählt oder erzwungen, verbunden ist. Desintegration mag sicherlich positives Potential bergen, dochmindestens ebensoviel Negatives. Von daher ist dieses Argument Müllers entgegen seinem Anspruchkeineswegs universell, noch für mich in irgendeiner Art akzeptabel.

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ökonomische Zentren versteht, die sich in einer extrem intensiven und dichten

Informationsschleife befinden49.

Man kann Müller in vielen einzelnen Punkten Recht geben, doch letztendlich hat er,

meiner Meinung nach, durch ein falsches oder ungnädiges Verständnis des Konzepts

über das Ziel hinausgeschossen. Der globalen Geographie muss selbstverständlich

auch weiterhin Bedeutung zur Untersuchung räumlicher Zusammenhänge

zukommen, doch ergänzt durch Theorien jenseits des Raumes könnten die

errungenen Erkenntnisse noch wertvoller werden.

Doch es wird ersichtlich, welche Schwierigkeit das Thema beinhaltet: es ist dringend

erforderlich, „Realität“ ebensowenig global wie unilateral und auf keinen Fall solitär

zu denken. Die Rede von sich überlagernden oder widerstreitenden Realitäten kann

zwar vielerorten vernommen werden, dient jedoch häufig als schmückende Vokabel

oder als rhetorisches Ausweichmanöver. Es kann allerdings hilfreich sein, den

Realitätsbegriff vorsichtig zu verwenden, ohne unbedingt im gleichen Atemzug den

Kosmos in der Beliebigkeit der Relationen aufzulösen.

Schrumpfende Städte sind für jene, die in einem solchen Ort leben, durchaus eine

Realität, sinnlich wahrnehmbar und mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft,

wobei letztere sich beharrlich zu verdüstern scheint. Subjektive Realität zu ändern

muss nicht bedeuten, Rahmenbedingungen zu ändern, sondern kann ebenso mittels

Wahrnehmung geschehen. Welche Möglichkeiten sich von dieser Seite ergeben, soll

in Folge versucht werden darzustellen, wobei die „Nähe zur Realität“ sicherlich der

schwierigste Aspekt sein wird.

3. Gegenüberstellung der Konzepte und Synthese

3.1 Ein wirtschaftliches Problem

Bekanntermaßen sind schrumpfende Städte ein gravierendes wirtschaftliches

Problem, dass (sehr grob dargestellt) letztendlich in einer mangelnden Nachfrage

besteht: zu wenig Nachfrage nach Immobilien, zu wenig Nachfrage nach

49 Hauser, Susanne: Spielsituationen – Über das Entwerfen von Städten und Häusern, hg. v._Vilém_Flusser_Archiv, Kunsthochschule für Medien Köln; Köln, Verlag der Buchhandlung Walther König,2001; S.24f.

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Konsumgütern, zu wenig Nachfrage nach Dienstleistungen, als dass sich die

Infrastruktur lohnen würde (vom Abwasser bis zu Zubringerstraßen). Die Regierung,

ob auf Bundes-, Landes- oder kommunaler Ebene ist in der Pflicht, die Fehlbeträge

auszugleichen, da sie diese Grundversorgung gewährleisten muss. Es widerspricht

unserer Logik und Ethik, Räume stillzulegen, was eine kulturelle Errungenschaft ist

und keineswegs aus sich heraus schlüssig. Ein offizielles Umdenken diesbezüglich

scheint momentan weit entfernt. Die Wanderungsbewegungen der Bevölkerung aus

diesen Landstrichen weg sprechen eine pragmatischere Sprache – man betrachtet

den Wegzug jedoch als Teil des Problems, der die Situation wiederum verschlechtert.

Die Rede ist von einer Spirale der Abwärtsdynamik.

Man muss jedoch einräumen, dass Migration insgesamt keine Lösung des Problems

darstellen kann, da es sich um eine Bewegung zu Verdienstmöglichkeiten hin

handelt, wobei die Zahl ebendieser Verdienstmöglichkeiten geringer ist als die Zahl

der Unbeschäftigten. Der gegenwärtige Lösungswille zielt auf eine Schaffung von

mehr Arbeitsplätzen in den betroffenen Regionen oder die Ausmusterung der

Betroffenen aus der Statistik. Ein hoher materieller Standard, der gehalten werden

will und damit verbundene kulturelle Werte verbieten die Rückkehr zur

Subsistenzwirtschaft.

Dienstleistungsnomadismus wiederum ist in der europäischen Geschichte spätestens

seit dem Auftauchen der „Zigeuner“ genannten Gruppen im Mittelalter höchst

unpopulär. Sowohl Castells als auch Sassen führen aus, dass an den

hochspezialisierten Knotenpunkten der Wirtschaft durchaus eine Nachfrage nach

billigen Dienstleistungen besteht, z.B. nach Reinigungskräften, Kinderbetreuung,

Wartungsarbeiten etc., räumen aber auch gleichzeitig ein, dass diese Aufgaben eher

ein Schattenphänomen darstellen, da diese Niedriglohnkräfte oftmals an (oder unter)

der Schwelle der Armut leben. Das soziale Versorgungsnetz ist noch dazu an

Sesshaftigkeit gebunden – über Meldetermine bei der zuständigen Agentur für Arbeit

bis hin zum an Sesshaftigkeit gebundenen Wohngeld.

Wie mehrfach zur Geltung kam, bergen die erstarkenden Global Cities zwar ein

enormes wirtschaftliches Potential, sind aber einerseits an Bedingungen gebunden,

die in den schrumpfenden Städten unmöglich hergestellt werden können und

weiterhin punktuell im globalen Raum verteilt. Die wenigen Städte wie Frankfurt,

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München oder vielleicht Berlin, die in Deutschland das Potenzial zu dieser

Entwicklung haben, können nicht als Rettungsring für hunderte niedergehende

Siedlungen dienen. Eine ökonomisch interessante Lösung der ökonomischen

Probleme anhand der vorliegenden Konzepte ist, so muss man einräumen, nicht

möglich. Je nachdem, welchen Stellenwert man der Ökonomie einräumt, ist dies von

großer oder minderer Bedeutung für die Konzepte an sich.

3.2 Ein Identitätsproblem

Wenn man das Interesse jenseits der wirtschaftlichen Entwicklungen auf die

Bewohner der betroffenen Landstriche und Städte lenkt, so eröffnet sich ein ganz

anderes und nicht minder komplexes und relevantes Problemfeld. Stadtschrumpfung

ist sinnlich sehr gut wahrnehmbar – einst belebte Einkaufsstraßen sind zu

Transitstrecken mit leerstehenden Läden verkommen, die einst begehrten

Kleingartenparzellen verwildern ebenso wie Brachflächen mitten in der Stadt. Die

wirtschaftliche Situation und die Perspektivlosigkeit drücken auf die Stimmung und

das soziale Umfeld ist faktisch durch Abwanderung und gefühlt durch „Cocooning“

gleichermaßen kleiner geworden. Der stärker ausgeprägte Individualverkehr, das

breite Angebot der Medien und die geringere Rolle der in Ostdeutschland einst weit

ausdifferenzierten Netzwerke einer (wenn man es so nennen will) „grauen

Wirtschaft“ verstärken das individuelle Gefühl der Vereinsamung.

Marc Augé hat unter dem Begriff des anthropologischen Ortes ausgeführt, dass eine

identitätsstiftende Verortung an einen zugewiesenen Platz innerhalb des

gesellschaftlichen Raumes gebunden ist – Identität wurde bisher durch ein Kollektiv

innerhalb des Raumes konstituiert. An der Stelle dessen konnte sich ein Gefühl der

Nutzlosigkeit einstellen50, gebunden an Schlagworte wie z.B. die „Soziale

Hängematte“. Es ist wenig umstritten, dass die Teilhabe an der volkswirtschaftlichen

Wertschöpfung und die Position innerhalb dieser wesentlich identitätsprägend und –

stiftend sind. In den schrumpfenden Regionen und Städten ist vielen Personen

ebendas verwehrt. Von daher kann ebenso von einem Identitätsproblem die Rede

sein, und das nicht nur in Ostdeutschland, sondern in den meisten „schrumpfenden

Gebieten“.

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Abseitig sind Identitätsprobleme jedoch nicht, selbst vom volkswirtschaftlichen

Standpunkt nicht – einerseits bedarf Unternehmergeist (der schließlich immer

gefördert werden soll) eines gesunden Selbstbewusstseins und andererseits besteht

die Gefahr, dass die Identitätsstiftung von anderen Instanzen übernommen werden

könnte (als etwas plakatives Beispiel soll hier die Mafia auf Sizilien gelten, der in den

schrumpfenden Stadtteilen Palermos von der Mehrheit der Bevölkerung noch zuerst

zugetraut wird, dass sie die Verhältnisse zum Besseren für die Anwohner wenden

könne51 oder regional greifbarer, Modefaschisten, die Gefahr laufen tatsächlich

Faschisten zu werden).

Prozesse, die durch die Kommunikationstechnologien ermöglicht werden wie sie

Castells schildert, bergen darüber hinaus die Gefahr der von ihm so bezeichneten

„digitalen Segregation“, d.h. dass Personen, die bereits wirtschaftlich unterintegriert

sind, bei einer zunehmenden Verlagerung von Aktivitäten zum Beispiel ins Internet

auch auf weiteren Ebenen den Anschluss nicht nur an eine digitale Elite, sondern

allgemein an neuere gesellschaftliche Realitäten verlieren. Die Vereinsamung im

geographischen Raum wird sozusagen von einem gleichzeitigen Ausschluss aus z.B.

dem Cyberspace begleitet werden. Ebenso betont Castells, dass die oft beschworene

Arbeit am Computer zu Hause und also unabhängig vom Raum bislang hauptsächlich

eine diskursive Beschäftigung ist, aber tatsächlich nur von sehr wenigen Personen

ausgeübt wird und das Stellenangebot begrenzt (und letztendlich nur ein Arbeit-mit-

nach-Hause-nehmen ist, aber keine umfangreich ausgeübte neue Art der

Beschäftigung). Ebenso stellt Sassen fest, dass es sich bei den von ihr beschriebenen

Dienstleistungen um hochkomplexe und hochspezialisierte Tätigkeiten handelt und

mithin für schrumpfende Städte selbst unter größtem Umschulungsaufwand nie

Bedeutung gewinnen können.

Sowohl Flusser als auch Augé kommen darauf zu sprechen, dass das Unwohlsein im

an und für sich gewohnten Ort darauf zurückzuführen ist, dass sich der Ort um die

Person herum verändert, ohne dass diese Einfluss darauf hätte. Die Veränderung an

sich wird als bedrohlich wahrgenommen und das Gewohnte überhöht bzw. versucht,

es zu konservieren. Dies mag nachvollziehbar sein, wird aber von beiden Autoren als

50 Vgl. Durkheims Anomie-Begriff.51 Nicht quantitative Umfrage der Repubblica Lokalredaktion Palermo im Jahr 2004 – es handelt sich jedoch umein überspitztes Beispiel, dass nicht übertragbar ist und sich auf eine sehr forciert durchgeführte Umfrage stützt.

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gefährliche Neigung zu Partikularismen und falsch verstandener (bzw. bei Flusser

explizit verdammenswerter) Rückwärtsgewandtheit beschrieben.

Die Auflösung der Städte schreitet jedoch fort. Es ist Augenwischerei, heile Welten

vorzugaukeln oder verzweifelt an einem Status Quo festzuhalten (oder zu

versprechen, dass frühere Niveaus wieder erreicht werden könnten). Allein die

Bevölkerungsprognosen bis 2050 müssten ausreichen, dies zu beweisen.

Schrumpfung wird sich nicht umkehren, sondern verstärken. Wenn es nicht zu einem

dramatischen Paradigmenwechsel in der Politik kommt, wovon allerdings nicht

ausgegangen werden kann, wird Zuwanderung aus dem Ausland den allgemeinen

Bevölkerungsrückgang nur geringfügig abfedern können, ganz abgesehen davon,

dass sich die Zuzügler nicht in strukturschwachen schrumpfenden Städten ansiedeln

würden. Die Einrichtung eines Flächenfreilichtmuseums ist jedoch weder finanzierbar

noch anstrebenswert.

Kommt man an dieser Stelle auf Flusser zurück, so bietet er die oben aufgeführten

Szenarien an: das Leben in der Raumzeit und die Stadt als Wellental. Übersetzt in

Tagespolitik gibt es bereits jeweils mindestens ein Schlagwort: Flexibilität und

Netzwerkbildung. Flusser dachte allerdings weniger zweckrational und forderte

vielmehr ein Engagement für eine menschliche Größenordnung, welches aus der

Geradlinigkeit des technischen Fortschritts ins Gewundene ausbricht52. Bezogen auf

die beiden genannten Ansätze und Flussers Beschwörung der Überwindung des

Herkömmlichen kann man verstehen, dass es sich letztendlich um die Auflösung

sämtlicher existenter Ordnungsmodelle handelt: er träumt von der Auflösung der

Staaten, der Loslösung vom Heimatbegriff, dem Leben als Mitsein mit Anderen und

der Überwindung von Sesshaftigkeit, was nicht unbedingt neue Ideen sind, die

darüber hinaus noch weniger praktikabel scheinen.

3.3 Welches Problem?

Tatsächlich aber wären schrumpfende Städte kein Problem, wenn man losgelöst vom

Raum denken würde und das menschliche Dasein nicht als ein Statisches begreift,

wenn Wohnen ein, wie Sloterdijk schreibt, Hier – und – Anderswo - Sein können

bedeutet. Und die Kommunikationstechnologien mögen zwar die Auflösung der

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geographischen Städte begünstigen oder ermöglichen, dienen aber andererseits

dazu, dass urbane Kultur überall möglich wird. Illegale Technoparties auf nächtlichen

Kartoffelackern sind z.B. sicherlich als Teil urbaner Kultur zu verstehen, existieren

aber unabhängig von Stadt und werden dank SMS, eMail o.ä. selbst an verwegensten

Orten ge- und besucht. Das Identitätsproblem aufgrund des Verlusts eines räumlich

nahen Kollektivs, dass Augé diagnostiziert, kann durch Kollektive im digitalen Raum

gelöst werden. In Internetforen finden sich unwahrscheinlichste Minderheiten zu

Gruppen zusammen, in Chaträumen suchen Einsame nach Gemeinsamkeiten und

Internetspielgemeinschaften experimentieren mit Gesellschaftssystemen, selbst,

wenn es nur um die Vergabe der Punkte und nicht um Steuern geht.

Die Lobgesänge auf die Vielgestaltigkeit des Internets und sogenannter virtueller

Welten sind seit einiger Zeit weit verbreitet und haben trotzdem recht wenig mit der

Alltagsrealität einer Mehrheit zu tun. Und doch bieten sich diese Möglichkeiten und

befinden sich neue Realitäten und Gedankenwelten im Aufbau. Nicht zuletzt

beweisen die Umsätze z.B. von Telefonsex-Anbietern, dass raumunabhängige

Realitäten, die zum größten Teil auf Vorstellungskraft basieren, keineswegs

unattraktive Hirngespinste bleiben müssen und die Macht der Fantasie ebenso wenig

verloren ist.

Damit kommt man nochmals auf Flusser zurück, demzufolge die gesamte Welt der

Entropie, einem thermodynamischen Zerfallsprozess, unterliegt, so dass

schrumpfende oder verschwindende Städte nur einige unbedeutende Jahrtausende

eher in ihrem materiellen Zustand von der Oberfläche verschwinden. Der Materialität

kommt nach diesem Denkmuster wenig Bedeutung zu, den Beziehungen zwischen

den Menschen und die Fantasie jedoch sind konkret.

4. Schluss

Fantasie und Mitmenschlichkeit als der Weisheit letzten Schluss im Umgang mit den

Problemen der schrumpfenden Städte zu betrachten, erscheint poetisch und als ein

schönes Bild, aber als nutzlos innerhalb der Tagespolitik. Kommunale Finanzen lassen

sich nicht schwarz träumen und selbst bei größter Anstrengung der Vorstellungskraft

52 Nachgeschichten, S.40-46, bes. S.45f.

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findet niemand Lohn und Brot in imaginären Gewerbegebieten. Ein neuer Babyboom

stellt will sich ebenso wenig im Schlaf einstellen. Die immateriellen

Gedankengebäude wirken „nett“, aber nutzlos. Sie zeigen aber auch etwas

Konkretes: eine kulturelle Sackgasse, aus der man nicht mehr herauskommt. Das

hergebrachte Denken und der Fortschrittsglaube, und dies ist bei der

Auseinandersetzung mit schrumpfenden Städten kein neuer Gedanke, funktionieren

nicht mehr. Innerhalb dieses kulturellen und ideologischen Rahmens kann lediglich

Schadensbegrenzung betrieben werden.

Ob man Raumpioniere in die Uckermark schickt, Stadtteile perforiert oder Horden

von Künstlern über brachgefallene Flächen herfallen lässt, handelt es sich doch

immer nur um Kosmetik. Auch das wieder ein Stichwort Flussers: man ist nicht mehr

im Stande einen Kosmos zu kreieren, sondern nur dessen Diminiutiv, Kosmetik zu

betreiben. Die so rationale Tagespolitik doktort ebenso hilflos an den Problemen

herum und betet doch letztendlich irrational um einen Investoren, wie andernorts

Regenwolken beschwört werden. Sicherlich gibt es Erfolge zu verzeichnen, werden

mancherorts Gelder angelockt und Arbeitsplätze geschaffen. Das Problem in der

Breite wird damit trotzdem nur punktuell gemildert. Man muss sehr fest im Glauben

sein, heißt dieser nun China, Osterweiterung oder Eventmarketing, um sich davon

die Lösung des Problems Stadtschrumpfung zu versprechen.

In dieser Arbeit wurden nun keine griffigen Alternativen zu der recht verfahrenen

Situation und dem Umgang mit ihr dargelegt. Andererseits wurde zumindest

beschrieben, dass seit mehr als zwei Jahrzehnten ein reges Nachdenken über den

Umgang mit Raum festgestellt werden kann (wobei die Protagonisten dieses

Denkens wie Husserl, McLuhan und, noch weiter hergeholt, die Zen-Philosophie, sehr

viel länger alternativen Umgang mit Raum beschreiben). Dass ein solches Denken

Eingang in das gemeine Denken findet ist möglich, aber selbst dann ein langfristiger

Prozess, der Generationen währen kann, so er überhaupt einsetzen sollte.

Unmittelbare Erlösung ist von dieser Seite nicht absehbar. Das diese aber generell

unwahrscheinlich ist, kann jedoch festgestellt werden. Pragmatische Tagespolitik

muss währenddessen weiter betrieben werden, allerdings liegt vielleicht mehr

Potential in der „Katastrophe“ und dem Bewusstsein über eine Unumkehrbarkeit, als

in einem beständigen Suchen nach Restauration.

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