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Arbeitswissenschaft Bearbeitet von Christopher M. Schlick, Ralph Bruder, Holger Luczak 3., vollst. überarb. u. erw. Aufl. 2010. Buch. xxii, 1194 S. Hardcover ISBN 978 3 540 78332 9 Format (B x L): 15,5 x 23,5 cm Weitere Fachgebiete > Ethnologie, Volkskunde, Soziologie > Diverse soziologische Themen > Wirtschaftssoziologie, Arbeitssoziologie, Organisationssoziologie Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

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Page 1: Arbeitswissenschaft - ReadingSample€¦ · Arbeitswissenschaft verstanden (sensu LAURIG 1990) und in den Folgekapiteln hinsichtlich der Gestaltung im Detail behandelt. Die ergonomische

Arbeitswissenschaft

Bearbeitet vonChristopher M. Schlick, Ralph Bruder, Holger Luczak

3., vollst. überarb. u. erw. Aufl. 2010. Buch. xxii, 1194 S. HardcoverISBN 978 3 540 78332 9

Format (B x L): 15,5 x 23,5 cm

Weitere Fachgebiete > Ethnologie, Volkskunde, Soziologie > Diverse soziologischeThemen > Wirtschaftssoziologie, Arbeitssoziologie, Organisationssoziologie

Zu Inhaltsverzeichnis

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

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10 Ergonomische Gestaltung

Die früheste historisch nachweisbare Verwendung des Begriffs Ergonomie erfolg-te, wie zuvor in Kapitel 1.2.1 dargestellt, bereits 1857 durch den polnischen Wis-senschaftler Jastrzebowski (JASTRZEBOWSKI 1857). Er verwendet das Kunstwort Ergonomie (aus dem griech. ergon = Arbeit, Werk und nomos = Gesetz) synonym zu dem Begriff der Arbeitswissenschaft.

Wie in MÜLLER (2001) ausführlich analysiert, finden sich in der Literatur un-terschiedliche Auslegungen des Begriffs: Diese reichen nach SCHULTE et al. (1974) von der Berücksichtigung der rein menschlichen Seite über die Gleichset-zung von Ergonomie und Arbeitswissenschaft bis hin zur Betrachtung der Ergo-nomie als Teilgebiet der Arbeitswissenschaft. Weitere Analysen finden sich bspw. in GÖBEL (2009), STRASSER (2009) und ZINK (2009).

Eine im August 2000 durch die International Ergonomics Association (IEA) verabschiedete Definition beschreibt Ergonomics als „... the scientific discipline concerned with the understanding of interactions among humans and other elements of a system, and the profession that applies theory, principles, data and methods to design in order to optimize human well-being and overall system performance” (IEA 2000).

Den letztgenannten Auslegungen folgend wird Ergonomie als Teilgebiet der Arbeitswissenschaft verstanden (sensu LAURIG 1990) und in den Folgekapiteln hinsichtlich der Gestaltung im Detail behandelt.

Die ergonomische Gestaltung beinhaltet die Gestaltung von Arbeitssystemen, -plätzen, -mitteln, Produkten und Prozessen nach Kriterien, die durch die physio-logischen Leistungen und psychologischen Bedingungen des Menschen sowie dessen Abmessungen bestimmt werden.

Die ergonomische Gestaltung ist mit der Aufzählung dieser Gesichtspunkte al-lerdings nur unzureichend zu erklären, deckt sie doch eine Reihe weiterer The-mengebiete wie bspw. die Arbeitsumgebung (Kap. 9) sowie Gruppen- und Team-arbeit (Kap. 5) ab (sensu LAURIG 1997) und führt sie unter Berücksichtigung der Fähigkeiten und Fertigkeiten des Menschen zu wissenschaftlich abgesicherten Gestaltungslösungen.

Am Anfang dieses Kapitels stehen zunächst die energetischen, informatori-schen und anthropometrischen Prinzipien, die sich mit der Gestaltung der Schnitt-stelle zwischen dem Menschen und technischen Elementen, die für eine zielge-richtete Interaktion im Arbeitssystem notwendig sind, befassen (sog. Mensch-Maschine-Schnittstelle). Anschließend wird am Beispiel des sog. „Usability Engi-neering“ ein eher pragmatischer Ansatz zur benutzerzentrierten Auslegung und Bewertung von Produkten in einem bestimmten Nutzungskontext behandelt. Im Weiteren wird mit der Softwareergonomie ein im Anwendungszusammenhang der Mensch-Computer-Interaktion wichtiges Teilgebiet der ergonomischen Gestaltung

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eingeführt. Schließlich werden innovative Technologien und Werkzeuge zum „Prototyping“ von Arbeitsmitteln und -objekten vorgestellt, die im Rahmen der virtuellen Produktentwicklung sowie Prozess- und Fabrikplanung eingesetzt wer-den.

In Bezug auf eine umfassende Gestaltungslösung unter Beachtung und Anwen-dung der genannten Prinzipien und Aspekte führt dieses Kapitel die Erkenntnisse schließlich zu einem ganzheitlichen Gestaltungsansatz zusammen, der sowohl in der Produktergonomie als auch in der Produktionsergonomie (BRUDER et al. 2009) seine Anwendung findet. Somit wird dem Ziel der ergonomischen Arbeitsgestal-tung, die menschzentrierte Auslegung technischer Systeme, Rechnung getragen, welches sich am besten erreichen lässt, wenn bereits in der Planungsphase eines Arbeitssystems ergonomische Erkenntnisse angewendet werden (SCHLICK 2009). Man spricht in diesem Fall von „prospektiver Ergonomie“ (siehe Kap. 1.5.3.2). Eine Nachbesserung vorhandener Systeme („korrektive Ergonomie“) ist dagegen in der Regel nur unter Kompromissen bezüglich der für die Arbeitsperson erziel-baren Ergebnisse und der wirtschaftlichen Aspekte möglich. Wenn jedoch keine andere Möglichkeit besteht, sollte dennoch mit korrektiven Maßnahmen versucht werden, unzulängliche Arbeitsbedingungen zu verbessern (LAURIG 1990).

10.1 Gestaltungsprinzipien

10.1.1 Energetisch-effektorisch

Höchste Priorität bei der Gestaltung energetisch-effektorischer Arbeit hat der Schutz der Gesundheit der Arbeitsperson (siehe auch Kap. 1.5.2). Hierbei ist zu prüfen, ob eine Gesundheitsgefährdung möglich bzw. wahrscheinlich ist. In die-sem Falle sind akute Maßnahmen einzuleiten, die sich auf die technisch-physiologische Gestaltung der Arbeitsprozesse oder der Arbeitsmittel beziehen können.

Auch wenn keine Gesundheitsgefährdung zu befürchten ist, bieten sich eine Reihe von Potenzialen, die Arbeitstätigkeit effizienter und einfacher zu gestalten. Hierzu zählt zunächst die Minimierung der zu leistenden physikalischen Arbeit im Sinne einer Reduktion der energetischen Belastung in Relation zum bewirkten Arbeitsergebnis.

Weitere Schritte beziehen sich auf die Optimierung des Wirkungsgrades hin-sichtlich einer Minimierung der Beanspruchung im Verhältnis zur Belastung. Im Kontext des Arbeitsprozesses können schließlich Ansätze zur Optimierung der Beanspruchungswirkungen im Sinne von geeigneten Arbeitsmethoden, Arbeitsab-folge- und Pausenregimen beitragen.

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10.1.1.1 Schutz der Gesundheit

Eine Gesundheitsgefährdung bei energetisch-effektorischen Arbeitsformen tritt vor allem beim Handhaben von Lasten auf.

Den Konsequenzen möglicher Schädigungen Rechnung tragend, wurde 1993 die Liste der Berufskrankheiten um die bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten (BK 2108) und um Erkrankungen der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen von Lasten auf der Schulter (BK 2109) erweitert (siehe auch BOLM-AUDORFF 1993).

Darüber hinaus fordert die EU-RICHTLINIE 269/90 bezüglich der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes bei der manuellen Handhabung von Lasten: „präventive Maßnahmen zur Vermeidung einer Gefährdung durch das Handhaben von Lasten zu ergreifen und Arbeitsplätze, die mit der Handhabung von Lasten verbunden sind, bezüglich ihrer Gefährdung für den Mitarbeiter zu bewerten".

Hierzu können vier Kriterien herangezogen werden (z.B. MITAL et al. 1993; STEINBERG et al. 2000): (1) Epidemiologisches Kriterium: Tätigkeitspezifischer Risikofaktor (LAURIG et

al. 1985) (2) Physiologisches Kriterium: Physiologische Grenzwerte (3) Biomechanisches Kriterium: Abschätzung der mechanischen Belastung des

Skeletts, der Muskulatur oder der Bandscheibe über biomechanische Modelle (4) Psychophysikalisches Kriterium: Subjektive Einschätzung eines Menschen

über die Erträglichkeit und Zumutbarkeit der Durchführung einer Tätigkeit. Die Anwendung eines einzigen der genannten Kriterien erweist sich jedoch als

wenig praktikabel, da dann entweder keine präzisen Aussagen für den Einzelfall möglich sind (z.B. bei 1.) oder ein unverhältnismäßiger Überprüfungsaufwand entstehen würde (bei 3.). Darüber hinaus ist mit unterschiedlichen Grenzwerten bei den verschiedenen Ansätzen zu rechnen.

Grundsätzlich ist an Verfahren zur Beurteilung der Belastung die Anforderung der einfachen Durchführbarkeit im Betrieb zu stellen. Da damit eine Ermittlung der Beanspruchung nur näherungsweise möglich ist, werden solche Abschätzun-gen zunächst konservativ angelegt, d.h. es erfolgt eine Prüfung auf mögliche Überbelastung.

Zur Abschätzung des Interventionsbedarfes bezüglich der Körperhaltungen und mit Einschränkungen bezüglich der bewegten Lasten kann z.B. die OWAS-Methode (OVAKO WORKING POSTURE ANALYSING SYSTEM) zur Kör-perhaltungsanalyse herangezogen werden (KARHU et al. 1977, STOFFERT 1985).

Für die spezifische Problematik der Lastenbewegung stellt sich nach Kenntnis der Druckbelastbarkeit (siehe Kap. 3.2.11) die praktische Frage nach dem Zusam-menhang zwischen den Beschreibungsgrößen der Arbeitsaufgabe und der dabei zu erwartenden mechanischen Belastung der Wirbelsäule. Da nicht für jeden Einzel-fall eine biomechanische Analyse durchgeführt werden kann, erweist sich eine Abschätzung nach der BAuA-Leitmerkmalmethode (STEINBERG u. WINDBERG 1997; CAFFIER et al. 1999; STEINBERG et al. 2000, 2007) als nützlich.

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Die Leitmerkmalmethode stellt eine Methode zur Beurteilung der Gesundheits-gefährdung dar und stützt sich auf eine Bewertung der Arbeitsbedingungen bei der manuellen Handhabung von Lasten anhand der vier Merkmale 1) Lastgewicht, 2) Zeitdauer, 3) Körperhaltung und 4) Ausführungsbedingungen. Bei der Anwen-dung der Leitmerkmalmethode stehen Arbeitsblätter zur Verfügung, die über Piktogramme, Beschreibungen und Rangzahlen eine Bewertung und Beurteilung einer manuellen Lastenhandhabung erlauben. Die Bewertung eines manuellen Lastenhandhabungsprozesses erfolgt anhand von Risikobereichen, die die Höhe einer potenziellen Schädigungsgefahr für die Wirbelsäule repräsentieren und ggf. auf die Erfordernis von Gestaltungsmaßnahmen hinweisen. Neben der Leitmerk-malmethode wurde eine Vielzahl von Methoden zur Beurteilung der Belastung des Muskel-Skelett-Systems bei der manuellen Lastenhandhabung entwickelt, denen verschiedene Belastungs-Beanspruchungsmodelle zugrunde liegen. Weit verbreitet ist z.B. das NIOSH-Verfahren, ein vom National Institute for Occupational Safety and Health (NIOSH) in den USA entwickeltes Verfahren zur Abschätzung der Maximallast. Es handelt sich hierbei um eine Methode zur sicherheitstechnisch-betriebsärztlichen Betreuung auf Basis der Lastenhandha-bungsverordnung (Screening Verfahren). Als Belastungsgrenzwert wird hierbei unter optimalen Handhabungsbedingungen eine Druckkraft von maximal 3,4 kN auf den Lenden-Kreuzbein-Übergang (L5-S1) als tolerabel angesehen. Das NIOSH-Verfahren basiert auf der Berechnung des Recommended Weight Limit (RWL). Das RWL ist für ein bestimmtes Set an Arbeitsbedingungen definiert als das Gewicht einer Last, das nahezu alle gesunden Arbeitspersonen über eine be-stimmte Zeit (z.B. die Dauer einer 8-Stunden-Schicht) ohne erhöhte Gefahr von Rückenverletzungen bewältigen können. Die Bestimmung der Maximallast erfolgt anhand der multiplikativen Verknüpfung einer Lastkonstanten mit den sechs Fak-toren 1) Kopplungsfaktor Hand-Last, 2) horizontaler Abstand Wirbelsäule-Last, 3) vertikaler Abstand Hand-Boden, 4) vertikal zu überbrückende Hebedistanz, 5) Asymmetrie-Faktor zur Berücksichtigung von Verdrehungen des Körpers bei der Lastenhandhabung sowie 6) Häufigkeit, d.h. die Frequenz der Lastenhandha-bung. Zur Bestimmung der einzelnen Faktoren stehen Tabellen und Formeln zur Verfügung (NIOSH 1981; NTIS 1991; WATERS et al. 1993). Eine Weiterentwicklung des NIOSH-Verfahrens, welche auch Konstitutions- und Dispositionsmerkmale der Arbeitspersonen (Geschlecht und Alter) berücksichtigt, stellt der Ansatz nach JÄGER (1996, 2001) dar.

Zur Abschätzung der Zumutbarkeit der Krafterzeugung kann das Siemens-Burandt-Verfahren angewendet werden (in modifizierter Form auch als Burandt-Schultetus-Verfahren bekannt, BURANDT 1978, SCHULTETUS 1987), welches wegen seiner vergleichsweise einfachen Handhabbarkeit häufig auch in Industrieunter-nehmen eingesetzt wird (siehe auch VDI 1980, REFA 1987). Dieses Verfahren ba-siert zunächst auf einer tabellarischen Auflistung von Maximalkräften in Abhän-gigkeit der Kraftangriffspunkte und -richtungen sowie der Körpergrundhaltungen. Aus den so ermittelten Maximalkräften für einen bestimmten Arbeitsvorgang werden mit Hilfe von Multiplikatoren zur Berücksichtigung des Geschlechts und

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des Alters der Person, der Ausübungsdauer und der Ausübungsart (statisch, dyna-misch) die im Einzelfall zulässigen Kräfte abgeschätzt (siehe Kap. 3.2.8).

Ein ähnliches Verfahren wird in der DIN EN 1005-3 dargestellt. Die einfache Durchführbarkeit dieses Verfahrens und die prinzipielle Anwendbarkeit für nahe-zu alle Tätigkeiten bedingen, dass die situativen Faktoren nur verhältnismäßig grob gestuft berücksichtigt werden. Die mit einem solchen Verfahren ermittelten Ergebnisse sind daher nicht als exakte Grenzwerte zu verstehen, sondern eher als Anhaltspunkte, ob kritische Grenzen möglicherweise erreicht werden.

Abb. 10.1: Grenzlasten als Funktion der Griffentfernung (links) und als Funktion der Hebe-frequenz bei verschiedenen Ermittlungsverfahren (aus VEDDER u. LAURIG 1994)

Vergleicht man die ermittelten Grenzwerte verschiedener Verfahren, so werden die unterschiedlichen Ansätze deutlich (Abb. 10.1). Das Siemens-Burandt-Verfahren kommt bei Zugrundelegung gleicher Arbeitsbedingungen zu höheren Grenzlasten – da auf die Maximalkräfte bezogen – als die an der Wirbelsäulenbe-lastbarkeit orientierten NIOSH-Methoden.

Für die Lastenhandhabung sind grundsätzlich folgende Gestaltungsregeln zu beachten (siehe auch Abb. 10.2):

Körpernahe Handhabung der Last Heben durch Beinarbeit bei möglichst geradem Rücken beidhändig symmetrische Handhabung Vermeidung der Torsion des Oberkörpers Gleichmäßiger, nicht ruckartiger Bewegungsverlauf. Der umfassenden Unterweisung der Arbeitspersonen zur Befolgung solcher

Handlungsrichtlinien kommt deswegen große Bedeutung zu, da das Heben „aus dem Rücken heraus“ energetisch ökonomischer und damit subjektiv leichter er-scheint, da die mechanische Belastung der Wirbelsäule normalerweise nicht direkt wahrnehmbar ist. Daher muss mit einer beständigen Tendenz zum „Rückfall" gerechnet werden, wenn – wie in der Regel der Fall – das richtige Verhalten durch

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die Gestaltung der Arbeitsaufgabe bzw. des Arbeitsplatzes selbst nicht vorgegeben werden kann.

Abb. 10.2: Bewegungsabfolge beim Heben einer Stange und beim Heben und Absetzen einer Kiste (aus ROHMERT 1983a)

Neben der Gestaltung der Arbeitsaufgaben und der geeigneten Ausführungs-weise spielt auch die Ausführungshäufigkeit und -dauer eine erhebliche Rolle. Durch die Wahl der Arbeitsabfolge und die Abwechslung mit anderweitigen Be-lastungen, je nach Beanspruchungsengpass durchaus auch andere energetisch-effektorische Tätigkeiten, kann die Schädigungsgefahr weiterhin über arbeits- organisatorische Maßnahmen verringert werden.

Die Ausführung energetisch-effektorischer Arbeit kann jedoch nicht uneinge-schränkt allen potenziell geeigneten Personen zugemutet werden. Je nach persön-licher Konstitution und Disposition (ggf. bereits beeinträchtigt durch in früheren Jahren ausgeführte Tätigkeiten) ist mit Einschränkungen bezüglich der schädi-gungslosen Zumutbarkeit solcher Arbeitsformen zu rechnen. Daher sind alle Ar-beitspersonen vor der Tätigkeitsausführung bei hohen Belastungen in ihrem eige-nen Interesse auf die körperliche Eignung hin zu überprüfen und regelmäßig zu überwachen.

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10.1.1.2 Minimierung der zu leistenden Arbeit

Vor der Optimierung von Arbeitsbewegungen stellt sich zunächst die Frage, ob nicht die zu leistende physikalische Arbeit insgesamt verringert werden kann. Diese Überlegung stützt sich auf die Tatsache, dass menschliche Arbeit immer positiv gerichtet ist, d.h. einwirkende Kräfte nicht wie bei mechanischen oder elektro-mechanischen Systemen in Energie zurückgewandelt werden können, und dass sich physiologische Arbeit entgegen der klassischen Mechanik aus dem Pro-dukt von Kraft und Zeit bemisst (siehe Kap. 3.2.5.1).

Beispielsweise lässt sich der menschliche Energiebedarf in erheblichem Maße durch die Verringerung der Hubhöhe beim Be- und Entladen von Lasten verrin-gern. Ein unverändertes Gewicht der Objekte vorausgesetzt, wäre in diesem Fall die physikalisch erbrachte Gesamtleistung stets gleich Null. In Bezug auf die menschliche Arbeit ist jedoch eine positiv gerichtete Arbeit beim Heben der Werkstücke und eine negativ gerichtete Arbeit beim Absenken der Werkstücke zu leisten. Im Beispiel aus Abb. 10.3 führt die Verringerung der Hubhöhe in Lösung II gegenüber Lösung I zu einer erheblichen Verringerung des Arbeitsenergieum-satzes und infolgedessen zur Beanspruchung des Herz-Kreislauf-Systems, bei gleichzeitig leicht gesteigerter Arbeitsleistung, hier im Wesentlichen mit dem kürzeren Bewegungsweg zu begründen. Die Anordnung auf etwa gleicher Höhe (Lösung III) führt zu einer nochmals geringfügig niedrigeren Beanspruchung, geht aber mit einer erheblichen Leistungssteigerung einher.

Abb. 10.3: Beschickung eines Durchlaufofens; Einfluss der Betriebsmittelgestaltung auf Leistung und biologische Parameter (nach SCHULTE und LARUSCHKAT 1980)

Bei Betrachtung der zu leistenden Arbeit ist dabei nicht nur die äußere Masse, sondern die gesamte bewegte oder zu haltende Masse zu berücksichtigen. Dies ist insbesondere bei – im Vergleich zum mitbenutzten Körperteilgewicht – kleinen Lasten von Bedeutung. So ist es unerheblich, ob eine Person ein Blatt oder zwan-

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zig Blätter Papier bewegt, da das Gewicht des eigenes Arms ein Vielfaches der äußeren Last beträgt und bei Auf- und Abwärtsbewegungen positiv und negativ gerichtete Arbeit ebenso für die Körperteilgewichte zu leisten ist (siehe auch Abb. 10.4).

Die unvermeidlichen Schwerkräfte können unterstützend wirken, wenn die aus-zuübenden Kräfte (wenigstens teilweise) nach unten gerichtet sind. Dies macht man sich zum Beispiel bei der Pedalbetätigung zu Nutze, bei der das Beingewicht den Druck auf das Pedal auf natürliche Weise unterstützt und somit zu einer gleichmäßigeren Kraftaufbringung beigetragen wird (Abb. 10.5).

Abb. 10.4: Stark vereinfachte Darstellung des unterschiedlichen energetischen Aufwands für gleiche Arbeit infolge des Mittransports des eigenen Körpergewichts (aus HETTINGER und WOBBE 1993)

Abb. 10.5: Rechts: Kräftespiel beim Betätigen eines Pedals im Sitzen durch die Wirkung der Eigengewichte (nach JENIK 1979); links: Durchschnittliche maximale Tretkraft eines Beines im Sitzen in verschiedene Wirkrichtungen bei unterschiedlichen Distanzen der Sitzebene zur Krafteinleitungsstelle und bei Vorhandensein einer Rückenlehne (aus HETTINGER u. WOBBE 1993)

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An dem Beispiel der Pedalkräfte wird weiterhin deutlich, dass bei der Auf-bringung von großen Kräften die entsprechenden Abstützungsmöglichkeiten (hier: Rückenlehne) von großer Bedeutung sind, da sonst zusätzliche innere Arbeit zur Schwerpunktverlagerung und zur Aufrechterhaltung der notwendigen Körperposi-tion („Versteifung“) zu leisten ist. Durch die Abstützungswirkung der Rückenleh-ne verschiebt sich die Maximalkraft erheblich nach oben, allerdings in einer wenig bequemen Körperhaltung. In der Praxis sollten Pedale daher etwas niedriger, ca. 30° nach unten positioniert werden.

Wie bereits in Kap. 3.2.5.1 aufgeführt, ist der physiologisch sinnvolle Arbeits-begriff durch das Produkt von Kraft und Zeit gekennzeichnet. Weiterhin ist die Bewegungsmuskulatur des Menschen für statische Kraftaufbringung außerordent-lich ermüdungsempfindlich. Im Gestaltungskontext bedeutet dies, dass jegliche Art von statischer Muskelarbeit möglichst zu vermeiden ist. Dabei spielt es nur eine untergeordnete Rolle, ob Haltearbeit, Haltungsarbeit oder statische Kontrak-tionsarbeit zu verrichten ist.

Wenn das Halten von Objekten unvermeidlich ist, so sollte dies körpernah er-folgen (kleine Momentwirkung), und die Körperteile sollten gleichsinnig zur Schwerkraft gerichtet sein (Zugbelastung).

In Bezug auf die kräftemäßige Belastung des Menschen muss natürlich berück-sichtigt werden, dass die angreifenden Kräfte nicht grundsätzlich identisch mit den durch die Last hervorgerufenen Kräften sind, sondern – entsprechend der klassi-schen Mechanik – ein vektorielles Kräftegleichgewicht besteht.

Wenn die Angriffsrichtungen der äußeren Last und die der aufgebrachten Kraft nicht entgegengesetzt, sondern spitzwinklig zueinander gerichtet sind, entsteht eine weitere Kraftkomponente senkrecht zur Angriffsrichtung der äußeren Kraft. Bei symmetrisch beidhändiger Arbeit sind diese Komponenten genau entgegen gesetzt, weswegen keine zusätzliche Kraft auf den Rumpf einwirkt (Abb. 10.6).

Abb. 10.6: Günstige und ungünstige Armhaltung beim Tragen einer gleich schweren Last mit unterschiedlichem biologischen Kraftaufwand je nach Spreizwinkel der Arme (HETTINGER u. WOBBE 1993)

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Allerdings steigt die in Richtung der Kraftaufbringung notwendige Kraft mit dem Kehrwert des Kosinus des Winkelversatzes an. Infolgedessen nehmen die Zugkräfte in den Armen und die Haltekräfte an den Händen mit größerem Spreiz-winkel stark zu. Aus physiologischer Sicht ist daher eine möglichst senkrechte Armhaltung beim Heben von Gewichtslasten anzustreben (Abb. 10.6 und Abb. 10.7). Noch günstiger wären im gezeigten Fall der Abb. 10.7 Jochkonstruktionen, die die eingesetzte Muskelmasse verringern und die Krafteinleitung auf die Wir-belsäule vertikal gestalten.

Abb. 10.7: Einfluss von zwei gleichen Lasten auf die statische Beanspruchung des Trägers bei Verwendung von Normaleimern und innen abgeflachten Eimern (aus HETTINGER u. WOBBE 1993)

Bei asymmetrischer Kraftausübung beider Hände wird dadurch eine Kraft und ein Moment auf den Rumpf erzeugt, denen durch Stabilisierungskräfte zur Auf-rechterhaltung der Körperposition entgegengewirkt werden muss (Abb. 10.8 und Abb. 10.9).

Abb. 10.8: Addition der einzelnen Kraftwirkungen bei beidhändiger gleichzeitiger Betäti-gung einer ungünstig gestalteten Vorrichtung. (in Anlehnung an STIER u. MEYER 1957 aus SCHMIDTKE 1989)

Diese Gesetzmäßigkeiten gelten in analoger Weise auch für die Kraftübertra-gung mittels der Hand (Abb. 10.10). Ist die Angriffsrichtung der äußeren Kraft ge-

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genüber dem Unterarm versetzt, so entsteht auch bei gleicher Kraftrichtung ein Drehmoment im Handgelenk, welches über eine zusätzliche Muskelanspannung stabilisiert werden muss.

Abb. 10.9: Der Kraftfluss bei der einhändigen Betätigung eines asymmetrisch angeordne-ten Hebels und bei der beidhändigen Betätigung zweier symmetrisch angeordneter Hebel (nach STIER 1957)

Abb. 10.10: Pistolengriff für geradlinigen Kraftfluss vom Unterarm über eine normale Handhaltung auf die Arbeitsseite von Werkzeugen bei Vermeidung von Kippmomenten (oben und unten) sowie zum Abfangen von auf das Handgelenk wirkenden rotatorischen Drehmomenten bei Versatz der Griffposition (Mitte, aus HETTINGER u. WOBBE 1993)

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10.1.1.3 Optimierung des Wirkungsgrades

Wie in Kap. 3.2.10.2.3 bereits deutlich wurde, hängt der Wirkungsgrad der me-chanischen Energieerzeugung in starkem Maße vom „Arbeitspunkt“ der beteilig-ten Muskeln ab. Dies betrifft die Länge des Muskels (von außen: die Gelenkstel-lung), die mechanische Last und die Bewegungsgeschwindigkeit. Die beiden letztgenannten Größen werden darüber hinaus durch die Massenträgheitskräfte der bewegten Körperteile und Objekte mit beeinflusst.

In Bezug auf geeignete Körperstellungen ist nahezu grundsätzlich eine Lage im mittleren Bereich des Bewegungsbereiches anzustreben, da die Effizienz der mus-kulären Krafterzeugung bei großer und bei kleiner Muskellänge abnimmt. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach der Wahl der eingesetzten Muskelgruppen. Grö-ßere Muskelgruppen ermüden weniger schnell, bringen aber größere Massenbe-wegungen mit sich, wofür u.U. zusätzlicher energetischer Aufwand benötigt wird.

Die Komplexität der Zusammenhänge und die teilweise entgegengesetzten Wirkungen bezüglich der verschiedenen Zielgrößen erlauben es nicht ohne wei-teres, einen relativ optimalen Wirkungsgrad für eine bestimmte Arbeitsaufgabe über biomechanische Modelle herzuleiten. Auf experimentellem Wege kann aller-dings über die Messung des Energieumsatzes oder die der Kreislaufbeanspru-chung (siehe Kap. 3.2.10.2.1 und 3.2.10.3) eine – zumindest vergleichende – Be-wertung und Beurteilung verschiedener Gestaltungslösungen vorgenommen wer-den.

Da der Mensch zur Optimierung seiner Gesamtleistung bestrebt ist Ermüdungs-erscheinungen durch Anpassung der Arbeitsleistung – wenn möglich – zu verhin-dern, kann in manchen Fällen auch die Leistungserbringung Aufschluss über die Effizienz der Tätigkeitsausführung geben.

Wie die Abb. 10.11 und Abb. 10.12 zeigen, wirkt sich eine günstige Körperstel-lung erheblich auf die erbrachte Arbeitsleistung aus.

Neben einer geeigneten Körperstellung haben weiterhin die mechanische Last und die Arbeitsgeschwindigkeit einen Einfluss auf die energetische Effizienz. Die physikalisch erbrachte Leistung ist proportional zum Produkt beider Faktoren, weswegen die Arbeitsgeschwindigkeit bei einem größeren mechanischen Ar-beitswiderstand theoretisch im gleichen Verhältnis verringert werden kann, ohne dass die erzeugte Leistung sich verändert.

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Abb. 10.11: Auswirkungen des seitlichen Abspreizwinkels der Oberarme auf Energiever-brauch und Leistung bei repetitiven manuellen Tätigkeiten (nach GRANDJEAN 1991)

Abb. 10.12: Leistung (L) beim Feilen in Abhängigkeit von der Arbeitshöhe (H) in cm für kleine und große Personen (nach LYSINSKI 1926; SCHMIDTKE 1989)

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Aus physiologischer Sicht hat dagegen eine Reihe von Faktoren einen Einfluss auf den Wirkungsgrad: (1) Die Bewegung von Massen ist mit sog. Blindleistungen verbunden. Beim

Beschleunigen muss Energie zur Überwindung der Massenträgheit aufge-wendet werden, welche beim Verringern der Geschwindigkeit durch aktive Gegenkräfte neutralisiert werden muss. Darüber hinaus haben Muskeln, Seh-nen und Bänder eine elastische Charakteristik (Federwirkung). Je nach Ge-schwindigkeit sind mehr oder minder große Blindleistungen zunächst aufzu-bringen und anschließend durch entsprechende Gegenkräfte wieder zu neut-ralisieren.

(2) Im Bereich von „mittleren“ Geschwindigkeiten (je nach Zusammensetzung der Impedanzen) ergibt sich in der Regel ein Minimum solchermaßen verlus-tiger Energieaufwendung (PFAHL 1924; ROHMERT u. RUTENFRANZ 1983) (siehe auch Abb. 10.13). Eine Steigerung der Arbeitsgeschwindigkeit über diesen Bereich hinaus muss mit einer erhöhten Erzeugung und Vernichtung von Blindleistung und folglich mit einer geringeren Effizienz erkauft wer-den.

Abb. 10.13: Arbeitsenergieumsatz pro m beim Gehen in der Ebene in Abhängigkeit der Schrittlänge und der Schrittgeschwindigkeit (Veranschaulichung der Punkte 1. und 2.; Diagramm nach ATZLER u. HERBST, aus LEHMANN 1962)

(3) Die zu erzeugende Energie zur Kompensation von Schwerkräften bzw. zum Erzeugen von isometrischen Kräften hängt neben der Größe der Last von der Dauer der Ausübung ab. Daraus leitet sich ein zeitbezogener Anteil ab, wes-wegen ein besonders langsames Arbeiten zunehmend ineffizient wird (Abb. 10.14). Dieser Effekt ist anschaulich zu belegen beim Tragen von Lasten, bei dem eine Verlangsamung des Arbeitsvorgangs die Gesamtbelastung für eine bestimmte Wegstrecke noch erhöht.

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schneller relative Umsetzzeit langsamer Abb. 10.14: Arbeitsherzschlagfrequenz beim Umsetzen verschiedener Steingewichte ab-hängig von der relativen Umsetzzeit (aus KLIMMER u. KYLIAN 1995)

(4) Wesentlich für die umgesetzte Energie ist auch die technische Gestaltung der Arbeitsmittel, nachfolgend am Beispiel Leiter, Treppe und schiefe Ebene zur Überwindung von Höhendifferenzen dargestellt. Abb. 10.15 gibt eine ver-gleichende Darstellung des menschlichen Energieumsatzes je mkp Arbeit für Leiter, Treppe und schiefe Ebene in Abhängigkeit von Steigung, Auftritt und Neigungswinkel wieder (ROHMERT u. RUTENFRANZ, 1983). In den Schnitt-punkten der untersuchten Kombinationen von Steigung und Neigungswinkel sind die gefundenen cal/mkp – Werte (1 cal/mkp = 0,427 J/Nm) eingetragen. Die Punkte gleichen Energieumsatzes sind zu Kurven verbunden. Die Gera-de „MN“ in Abb. 10.15 stellt Gleichung (10.1) und die Gerade „AZ“ die Gleichung (10.2) dar. Längs der gestrichelten Geraden beträgt der Auftritt konstant 24 cm.

Auftritt Steigung 12cm (10.1)

2 Steigung Auftritt 63cm (10.2)

(5) Die innere Reibung bei Veränderung der Muskellänge vertilgt einen Teil der erzeugten Kraft bereits im Muskel, welcher in etwa proportional zum zu-rückgelegten Weg ist. Beim Arbeiten mit geringer äußerer Last (und hoher Geschwindigkeit) ist dieser Anteil dementsprechend größer als bei hoher Last (und niedriger Geschwindigkeit).

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964 Arbeitswissenschaft

Abb. 10.15: Vergleichende Darstellung des Energieumsatzes je mkp (1 mkp = 9,807 Nm) für Leiter, Treppe und schiefe Ebene in Abhängigkeit von Steigung, Auftritt und Nei-gungswinkel (in Anlehnung an ROHMERT u. RUTENFRANZ 1983)

Die hinter diesen Einflüssen steckende Gesetzmäßigkeit wird nach dem Entde-cker des Prinzips als Johannson'sche Regel bezeichnet:

Misst man bei verschieden großem Arbeitswiderstand den notwendigen Ener-gieumsatz pro Arbeitseinheit (dicke Linie in Abb. 10.16), so findet sich im mittle-ren Lastbereich ein linearer Anstieg (Punkte A, B und C auf der Kurve). Dieser ist auf einfache Weise durch die mit steigendem Arbeitswiderstand vergrößerte Ar-beitsleistung zu erklären. Bei einem Arbeitswiderstand von Null ist trotzdem ein positiver Energieumsatz zu leisten (E0), welcher aus den Leerbewegungen resul-tiert. Bei sehr großem Arbeitswiderstand (oberhalb des Punktes G nach Abb. 10.16) steigt die Funktion nicht mehr linear, sondern exponentiell. Dies liegt da-ran, dass die Muskeln zur Ausführung der Bewegung zu hoch beansprucht wer-den, woraus eine weniger ökonomische Arbeitsweise aufgrund von Muskelermü-dung oder der ergänzenden Inanspruchnahme weniger ökonomisch wirkender Muskeln resultiert.

Auch bei konstantem Wirkungsgrad der Muskeln und des Herz-Kreislauf-Systems sinkt der Gesamtwirkungsgrad aufgrund der immer zusätzlich zu leisten-den Leerarbeit mit kleiner werdendem Arbeitswiderstand linear ab. Oberhalb der Grenzlast G wirkt dem der fallende Arbeitswirkungsgrad entgegen.

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Ergonomische Gestaltung 965

Aus arbeitsgestalterischer Sicht ist daher zunächst ein verhältnismäßig hoher Arbeitswiderstand mit entsprechend verringerter Lastzahl und ein möglichst ge-ringer Aufwand für die Leerbewegung (z.B. durch kleine bewegte Körpermassen) anzustreben.

sein

heit

Wirkungsgrad von Muskeln und Herz-Kreislaufsystem

Ener

gieu

msa

tz / A

rbeit

s

Wirk

ungs

grad

E0

AB

CG

G

Arbeitswiderstand

E Gesamter Wirkungsgrad

Abb. 10.16: Johannson'sche Regel: Abhängigkeit des Wirkungsgrades vom Arbeitswider-stand, Einfluss der Leerbewegung bei geringem Arbeitswiderstand

10.1.1.4 Arbeitsabfolge und Pausenregime

Wie aus dem vorangehenden Abschnitt deutlich wurde, ist es energetisch nicht sinnvoll, durch eine geringe Belastung (Arbeitswiderstand und Arbeitsgeschwin-digkeit) zu einer Verminderung der Beanspruchung beizutragen. Im Gegenteil ist es sogar insgesamt effizienter, die Leistungsfähigkeit des Menschen weitgehend auszuschöpfen.

Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass hohe Leistungen wegen der Erschöpfung der Energiespeicher nicht unbegrenzt lange erbracht werden können. Der zeitlichen Verteilung der Belastung im Sinne einer ergonomischen Arbeitsab-folge kommt daher eine große Bedeutung für eine ökonomische Ausführungswei-se und Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit zu.

Grundsätzlich findet sich – wie bei statischer Arbeit, Kurbelergometerarbeit sowie Umsetzen von Gewichten in Abb. 10.17 zu ersehen – oberhalb der Dauer-leistungsgrenze ein hyperbolischer Zusammenhang zwischen der Höhe der Leis-tung und der maximalen Arbeitszeit bis zum Eintreten der Erschöpfung. Für ver-schiedene Ausführungsbedingungen unterscheiden sich die Zusammenhänge in ihrem Verlauf, nicht aber in ihrer typischen Charakteristik (siehe Kap. 3.2).

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966 Arbeitswissenschaft

Statische Haltearbeit:NDLG = 0.15 Maximalkraft

Kurbelergometerarbeit:60 und 72 U/min45 und 90 U/min

150

]

Umsetzen von Gewichtenmit gestrecktem Arm:60 Wdh/min90 Wdh/min

50

100

ximale

Arb

eitsz

eit [m

in]

0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0

Eff kti L i t (N ) i Vi lf h d D l i t (N )

0

Max

effNEffektive Leistung (Neff) in Vielfachen der Dauerleistung (NDLG) eff

DLGN

Abb. 10.17: Grenzen der Ausdauer bei Muskelarbeit (aus ROHMERT 1962)

Beim Arbeiten oberhalb der Dauerleistungsgrenze müssen also rechtzeitige Er-holungspausen vorgesehen werden.

Wegen des nichtlinearen Charakters der Ermüdungs- und Erholungsphasen (siehe auch LUCZAK 1983b) ist es allerdings nicht zweckmäßig, bis zum Eintreten der Erschöpfung zu arbeiten, da dann unverhältnismäßig lange Erholungsphasen notwendig sind. Vielmehr erweist es sich als physiologisch und ökonomisch güns-tiger, kurzzyklische Arbeits- und Erholungsphasen vorzusehen (Abb. 10.18).

Die Bemessung von notwendigen Erholzeiten (siehe auch Kap. 2.4.3) orientiert sich an der Rekonstitution des Körpers, welche üblicherweise bei körperlichen Arbeitsformen über die Rückkehr der Herzschlagfrequenz auf das Ruheniveau nachgewiesen wird, da das Herz-Kreislauf-System wegen seiner integralen Stabi-lisationsfunktion die Gesamtheit des Erholungsprozesses weitgehend widerspie-gelt (siehe Abb. 10.19).

Die erforderlichen Erholzeiten wurden – ähnlich wie die Ausdauer – in auf-wendigen Untersuchungen für statische und dynamische Arbeitsformen ermittelt (ROHMERT 1960 und 1962, Abb. 10.20). Die zugrundeliegende Gesetzmäßigkeit hinsichtlich des Ermüdungszustandes wurde bereits in Kapitel 2.4.3 erläutert.

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Ergonomische Gestaltung 967

Abb. 10.18: Verhalten der Herzschlagfrequenz während und nach der Arbeit mit kurzen und längeren Pausen bei gleichem Verhältnis zwischen Arbeitsphase und Pause (aus REFA 1993)

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968 Arbeitswissenschaft

Abb. 10.19: Rückkehr von Herzfrequenz, Blutdruck, Atmung, Sauerstoffverbrauch und CO2-Ausscheidung nach anstrengender Arbeit (aus LEHMANN 1962)

Mit Bezug auf Abb. 10.20 wird deutlich, dass der Erholungsbedarf mit zuneh-mender Länge der Arbeitsphasen in Form einer Potenzfunktion überproportional zunimmt. Weiterhin wurde festgestellt, dass die Erholung nach statischer Arbeit erheblich mehr Zeit beansprucht als nach dynamischer Arbeit.

Für die praktische Prozessgestaltung ergeben sich aus diesen Gesetzmäßigkei-ten von Ermüdung und Erholung zwei wichtige Konsequenzen: (1) Die dem Körpergefühl folgende Handlungsweise des Arbeitens bis zur of-

fensichtlichen Ermüdung ist, wegen des dann unverhältnismäßig langen Er-holungszeitraums, nicht sinnvoll, vielmehr sollten die Arbeitspersonen zu früheren Arbeitspausen angehalten werden.

(2) Die Erholung von energetisch-effektorischer Arbeit bezieht sich primär auf die über die Dauerleistungsgrenze beanspruchten Organe. Insofern können während der Erholungsphase dieser Organe durchaus andere Tätigkeiten ausgeführt werden, z.B. durch den Wechsel auf andere Muskelgruppen, so-fern keine schwere Arbeitsform mit primärem Beanspruchungsengpass im Herz-Kreislauf-System vorliegt. Die Rekonstitution des Stoffwechsels im Muskel bedingt jedoch eine möglichst ungehinderte Durchblutung zum Ab-transport der Stoffwechselprodukte und zur Wiederherstellung der lokalen Energievorräte. Bereits eine geringe Muskelanspannung verzögert diesen Prozess in erheblichem Maße, abgesehen vom dadurch unmittelbar verlang-samten Rekonstitutionsverlauf durch den gleichzeitigen Verbrauch von Energiestoffen. Daher muss darauf geachtet werden, dass die erholungsbe-dürftigen Muskeln auch wirklich völlig erschlaffen.

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Ergonomische Gestaltung 969

240

280

320de

r Arb

eitsz

eit 1,40,1451,9 1 100eff

arbDLG

NEZ t

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Arb

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0

40

100 120 140 160 180 200 220

Effektive Leistung in % der Dauerleistung 100eff

DLG

NN

Erho

lu

Abb. 10.20: Erholungszuschläge bei dynamischer Muskelarbeit am Fahrradergometer (nach ROHMERT 1962)

10.1.2 Informatorisch-mental

Bei der Steuerung, Regelung oder Überwachung von technischen Systemen be-steht die Aufgabe des Menschen darin, auf der Grundlage unmittelbar oder mittel-bar übertragender Information den Zustand der Maschine zu erfassen, die zukünf-tige Entwicklung der essentiellen Variablen zu antizipieren und erforderlichenfalls durch Handlungen eine Zustandsänderung zu bewirken. Unter informatorischer (auch informationstechnischer) Gestaltung versteht man allg. die Gestaltung von Komponenten der Mensch-Maschine-Schnittstelle (auch Benutzungsschnittstelle, engl. human-machine interface), die den Informationsaustausch zwischen Mensch und Maschine in einem Arbeitssystem gewährleisten sollen.

Grundanforderung für eine ergonomische Gestaltung der Mensch-Maschine-Interaktion ist die Anpassung der technischen Subsysteme an die Fähigkeiten und Fertigkeiten des Menschen. Bei der informationstechnischen Gestaltung müssen demzufolge zum einen die Merkmale und Anforderungen der Arbeitsaufgabe, zum anderen die Fähigkeiten und Grenzen des Menschen in physiologischer und psy-chologischer Hinsicht und seine Eigenschaften bei der Informationsverarbeitung (siehe. Kap. 3.3) berücksichtigt werden. Dieses von einigen Autoren wie bspw. RASMUSSEN et. al. (1994) in Hinblick auf die zentralen Prozesse menschlicher Informationsverarbeitung auch als Cognitive Engineering bezeichnete Arbeitsfeld der Ergonomie betrifft somit alle arbeitstechnischen und -organisatorischen Ele-mente, die der aufgaben- und benutzergerechten Kommunikation zwischen Mensch und Maschine dienen.

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970 Arbeitswissenschaft

Die Vorgehensweise bei der benutzerzentrierten Gestaltung von Mensch-Maschine-Systemen ist in DIN EN ISO 13407 festgelegt und sieht auf Grundlage des Nutzungskontextes einen iterativen Prozess von Anforderungsermittlung, Gestaltungsentwurf und Systembewertung vor. Allerdings macht sie verständli-cherweise keine Vorgaben, wie Systeme im Detail zu gestalten sind. Eine formale Beschreibung des Gestaltungsprozesses findet sich in Kapitel 10.3.1.2.

Mögliche Gestaltungsdimensionen ergeben sich aus dem Verständnis der psy-chophysiologischen Mechanismen, die beim Menschen bei der Informationsverar-beitung ablaufen. Dementsprechend sind die von der Arbeitsperson (bzw. Opera-teur) für die Aufgabendurchführung erforderlichen Informationen so darzustellen, dass die schnelle und einfache Wahrnehmung der Information und die Extraktion der wesentlichen Merkmale sichergestellt sind. Ergonomisch gestaltete Anzeige-systeme sollen zudem die kognitive Weiterverarbeitung erleichtern, d.h. eine schnelle und zuverlässige Informationsverarbeitung unter geringem Bedarf menta-ler Ressourcen ermöglichen. Im Weiteren gilt es, die Umsetzung der menschlichen Entscheidungen in das System durch Interaktionsverfahren zu gewährleisten, die vom Operateur als „intuitiv“ beurteilt werden, indem sie z.B. adäquat an sein natürliches Verhalten angepasst oder unmittelbar verständlich sind. Aufgrund der je nach Anwendungskontext zum Teil immensen Informationsquantität sind darü-ber hinaus Verfahren für eine benutzergerechte Automation zu realisieren, die eine Einbindung des Menschen in den Prozess sicherstellen.

Prinzipiell soll also durch eine ergonomische Gestaltung der Mensch-Maschine-Schnittstelle der Informationsverarbeitungsprozess des Menschen in den in Kapitel 3.3.2 beschriebenen Phasen Entdecken, Erkennen, Entscheiden und Informationsabgabe unterstützt werden.

Zur gerichteten Informationsübertragung von einer technischen Einrichtung zum Menschen werden Anzeigen eingesetzt, die Hinweise auf die Zustände des technischen Systems, Arbeitsobjekts oder Prozesses geben (siehe Abb. 10.21).

Darüber hinaus nimmt der Mensch andere, direkt vermittelte Informationen (z.B. Maschinengeräusche, -schwingungen und -gerüche) über seine Sinnesorgane wahr. Die Informationsübertragung vom Menschen zur Maschine erfolgt durch Eingabegeräte der Mensch-Maschine-Schnittstelle, die der Mensch durch gezielte Handlungen oder sein natürliches Verhalten, z.B. Bewegungen, benutzt. Die Ge-staltung beider Komponenten sowie ihr Zusammenwirken im Aufgabenkontext hat großen Einfluss auf die schnelle und fehlerfreie Mensch-Maschine-Interaktion.

Mensch-Maschine-Schnittstellen beeinflussen durch ihre Gestaltung den In-formationsverarbeitungsprozess des Menschen in all seinen Phasen. Mit welchen Methoden und Technologien hier eine Unterstützung erzielt werden kann, wird in den folgenden Abschnitten beschrieben. Zuvor soll allerdings auf Gestaltungsan-sätze eingegangen werden, die dieser Vorgehensweise übergeordnet sind.

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Ergonomische Gestaltung 971

Maschine Mensch-Maschine-Schnittstelle

Mensch

InformationsabgabeInformationsaufnahme

haptischvisuell auditivkinäs-

thetisch

olfak-

torisch

Informationsausgabe

optisch akustisch taktil

Informationseingabe

manuell verbal gestikulär Bewegung

Stellteile /

Bedien-

elemente

Sprach-

eingabe

Gesten-

erkennung

Tracking-

system

Erkennen /Entscheiden

EingabegeräteAnzeigen

unmittelbare

Informations-

übertragung

Abb. 10.21: Informationsübertragung in Mensch-Maschine-Systemen

10.1.2.1 Übergeordnete Gestaltungsansätze

10.1.2.1.1 Kompatibilität von System und Benutzungsschnittstelle In seiner allg. Form besagt das Kompatibilitätsprinzip, dass Information in einer Form zu vermitteln ist, die möglichst weitgehend dem zur Bewältigung der Ar-beitsaufgabe gebildeten mentalen Modell (siehe Kap. 3.3.2.2.4) des Menschen entspricht, um einen sonst notwendigen Transformationsaufwand zu vermeiden. Informationstheoretischer Hintergrund dieses Prinzips ist, dass die Transinforma-tion genau dann maximal ist, wenn die Menge an zu rekodierender Information für das Individuum am geringsten ist (WILLIGES et al. 1987). Es wird also im Umkehr-schluss davon ausgegangen, dass je geringer die Inanspruchnahme mentaler Res-sourcen für Umstellungs- oder Umkodierungsoperationen ist, die Arbeitsaufgabe selbst um so effizienter bearbeitet werden kann (HACKER 2005). Die Anwendung dieses Prinzips bei der Gestaltung von Mensch-Maschine-Systemen bedeutet, dass die Schnittstelle mit der menschlichen Wahrnehmung, dem Gedächtnis, der Prob-lemlösungsfähigkeit, dem menschlichen Handeln sowie den menschlichen Kom-munikationsarten und Möglichkeiten kompatibel gestaltet werden muss. In der häufigsten Form bezieht sich die Kompatibilität auf die räumliche, die Bewe-gungs- und die konzeptuelle Übereinstimmung von Stimulus und Response, die S-R-Kompatibilität. Entscheidend sind oft aber auch Stimulus-Stimulus- und Res-ponse-Response-Kompatibilitäten.

Eine Stimulus-Stimulus-Inkompatibilität ist in jedem Kraftfahrzeug gegeben. Eine wichtige Information ist der Bremsweg des Fahrzeugs. Angezeigt wird je-doch die Geschwindigkeit. Daher sollte ständig aus der gefahrenen Geschwindig-keit, der Reaktionszeit und der Bremsverzögerung unter Berücksichtigung des Straßenzustands (trocken, nass, glatt) der Bremsweg berechnet werden. Technisch realisieren lässt sich eine Bremsweganzeige z.B. durch ein sog. „Head-Up

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972 Arbeitswissenschaft

Display“, das einen Balken in die Windschutzscheibe einblendet. Dieser erscheint dem Fahrer dann an der Stelle der Straße, wo das Fahrzeug zum Stehen kommen würde (siehe SCHMIDTKE 1993). Ein ähnliches Beispiel aus der Flugführung zeigt Abb. 10.22, bei der die gegenwärtigen translatorischen und rotatorischen Be-schleunigungen eines Flugzeugs in eine zukünftige Position und Lage verrechnet werden, die im Head-Up Display angezeigt wird.

Abb. 10.22: Integrierte Flugführungsanzeige im Head-Up Display. Der in Bildmitte er-kennbare rautenförmige Prädiktor zeigt die vorausberechnete Position und Lage des Flug-zeugs (GRANDT 2004a)

Eine Response-Response-Inkompatibilität erleben häufig Segelanfänger. Vom Fahrrad ist bekannt, dass bei einer Rechtsbewegung des Lenkers bzw. des Vorder-rads das Rad auch nach rechts fährt. Wird hingegen die Pinne des Segelbootes nach rechts bewegt, segelt die Jolle nach links.

10.1.2.1.2 Multimodale Schnittstellen Auch heute noch wird die Mehrzahl von Mensch-Maschine-Schnittstellen unimodal konzipiert, d.h. ein spezifischer Kanal zur Informationsaufnahme, meist der visuelle, und ein weiterer zur Informationsabgabe, in der Regel der manuelle, bereitgestellt. Während dies bei einfach strukturierten Aufgaben ausreichend ist, führt diese Auslegung bei der Benutzung komplexer Systeme, die häufig mit si-multan auszuführenden Mehrfachtätigkeiten einhergeht, zu Schwierigkeiten. Die gleichzeitige Ausführung ähnlich strukturierter Aufgaben auf demselben Informa-tionsverarbeitungskanal kann zu Interferenzeffekten und damit verbundenen Leis-tungseinbußen führen. Das Modell der multiplen Ressourcen (siehe Kap. 3.3.1.1.2.3) impliziert die Mehrkanaligkeit der menschlichen Informations-

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Ergonomische Gestaltung 973

verarbeitung. Dem Modell folgend kann z.B. eine perzeptiv-kognitive Aufgabe, bei der räumlich kodierte Informationen vom Benutzer auditiv aufgenommen und verbal abgegeben werden, besser mit einer reaktiven Tätigkeit, bei der sprachlich kodierte Informationen visuell aufzunehmen und manuell abzugeben sind, kombi-niert werden als mit einer gleichartigen Aufgabe.

Das Prinzip der Stimulus-Kognition-Reaktions Kompatibilität (S-C-R Kompa-tibilität) (WICKENS u. HOLLANDS 1999) wird durch dieses Modell der multiplen Ressourcen unterstützt. Danach werden räumliche Informationen am besten visu-ell wahrgenommen und aus der Informationsverarbeitung resultierende Handlun-gen manuell durchgeführt. Für verbal kodierte Informationen hingegen ist die auditive Wahrnehmung in Verbindung mit einer sprachlichen Reaktion am besten geeignet (TSANG u. VIDULICH 1989).

Für die informationstechnische Gestaltung ergibt sich demzufolge die Forde-rung nach einer Anpassung der bereitgestellten Anzeige- und Eingabeelemente an die Art der zu übermittelnden und vom Menschen zu verarbeitenden Information. In komplexen Systemen folgt daraus der Ansatz der multimodalen Schnittstellen, welche die Vielfalt der bereitgestellten Information durch die Bereitstellung unter-schiedlicher Anzeige- und Eingabeelemente berücksichtigen (siehe GÄRTNER 2000; TROUVAIN u. SCHLICK 2007). Auch für einfachere Systeme sind multimo-dale Schnittstellen bedeutsam, wenn ein barrierefreier Zugang zu Informationen auch für behinderte Arbeitspersonen gewährleistet werden muss.

10.1.2.1.3 Virtuelle Umgebungen In der jüngeren Literatur wurden zunehmend „intuitiv“ benutzbare Technologien der Mensch-Maschine-Interaktion wie Virtual Reality (VR, dt. Virtuelle Realität) und Augmented Reality (AR, dt. Erweiterte Realität) als aussichtsreiche Unterstüt-zungsverfahren für Arbeitsprozesse betrachtet (KISSNER u. RICHTER 2005; KLIN-KER et al. 1999; REICHWALD 2003; REUSE u. GOERDELER 2003). Augmented Reality besitzt hinsichtlich einer anzustrebenden software-ergonomischen Gestal-tung von Mensch-Maschine-Schnittstellen das Potenzial, bspw. durch multimoda-le Interaktionstechniken wie Sprachverarbeitung oder Gestikerkennung (FRIED-RICH u. WOHLGEMUTH 2004), eine besonders erwartungskonforme und aufga-benangemessene Mensch-Maschine-Kommunikation zu ermöglichen.

Während VR eine vollständig computergenerierte Welt bezeichnet, die der Be-trachter mit seinen sensorischen Modalitäten wahrnimmt und mit der er in Echt-zeit interagieren kann (BULLINGER et al. 1997; BURDEA u. COIFFET 1994; ELLIS et al. 1997; KUHLEN 2003; SCHOOR et al. 2005), nutzt AR die reale Arbeitsumgebung und reichert diese mit zusätzlichen computergenerierten Informationen an, die situationsgerecht und mit Kontextbezug zur betrachteten Realität direkt in das Sichtfeld des Betrachters eingeblendet werden (AZUMA 1997; AZUMA et al. 2001; BEU et al. 2002; KLINKER et al. 1997;FRIEDRICH 2004; MILGRAM u. COLQUHOUN 1999; NORMAND et al. 1997; RENKEWITZ u. CONRADI 2005).

Die Unterschiede zwischen Erweiterter und Virtueller Realität und ihr Ver-schmelzen zur sog. Mixed Reality werden bei MILGRAM u. KISHINO (1994) erläu-

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tert. Der Grad der Einbindung des Menschen in eine Virtuelle Umgebung wird als Immersion bezeichnet.

Gegenüber physischen Prototypen (Mock-Ups) oder der klassischen 3D-Bilddarstellung in Form von Animation bieten VR-/AR-Systeme besonders viel-fältige Möglichkeiten der Informationsdarstellung und (im Unterschied zu Anima-tionen) der Mensch-Maschine-Interaktion, wie z.B. die Interaktion des Benutzers mit virtuellen Objekten im dreidimensionalen virtuellen bzw. realen Raum oder eine die natürlichen Umweltinformationen ergänzende Visualisierung abstrakter Daten (siehe auch HACKER u. LINDEMANN 2002; ALEXANDER u. GOLDBERG 2007; ODENTHAL et al. 2009, SCHLICK et al. 2009).

10.1.2.1.3.1 Virtuelle Realität

Durch eine umfassende künstliche Nachbildung synthetischer Umgebungsreize und die Verwendung auf möglichst natürliche Weise vom Menschen ansprechba-rer Interaktionsverfahren soll der Benutzer vollständig in eine virtuelle Realität eintauchen. Typische Anwendungen dieser Technologie ergeben sich im Design, z.B. von Fahrzeugen, in der Architektur oder im Bereich des simulationsgestützten Trainings (siehe Kap. 10.2.3).

Bei der Virtuellen Realität soll ein möglichst hoher Immersionsgrad erzielt werden. Ob dies gelingt, hängt im Wesentlichen davon ab, wie naturgetreu die virtuelle Umgebung durch Anzeigesysteme dargestellt werden kann und in wel-chem Maße der Benutzer auf diese Weise von der realen Umgebung entkoppelt wird.

In Bezug auf Anzeigesysteme sind für die Darstellung visueller, akustischer und auch haptischer Reize entsprechende Systeme am Markt verfügbar. Die Nut-zung olfaktorischer (Geruchs-) und auch thermaler Reize zur Informationsüber-mittlung wird erforscht (RENKEWITZ u. ALEXANDER 2007; LINDNER 2006). Zur Informationsausgabe vom Benutzer an die Virtuelle Umgebung werden häufig dreidimensionale Eingabegeräte, Verfahren zur Gestenerkennung oder Sprachein-gabe benutzt. Wichtig für das Erreichen der Immersion ist ferner die örtliche und zeitliche Synchronisation von Körperhaltungen und -bewegungen des Benutzers mit der Darstellung visueller Umgebungsinformation, insbesondere die Wiederga-be einer korrekten Perspektive.

10.1.2.1.3.2 Erweiterte Realität

Um in Anwendungen der erweiterten Realität einen realitätsnahen Eindruck zu gewinnen, müssen die der realen Szene überlagerten Informationen für den Be-trachter leicht wahrnehmbar sein und auch bei Kopfbewegungen an der richtigen Position eingeblendet werden. Für die ortsreferenzierte und perspektivisch korrek-te Einblendung der Zusatzinformationen ist bei uneingeschränkter Beweglichkeit des Benutzers ggf. die Registrierung der Kopfposition sowie der Position und Lage von Objekten im Umfeld mittels unterschiedlicher Trackingverfahren und Bildverarbeitungsverfahren erforderlich (ALEXANDER et al. 1999; RENKEWITZ u. CONRADI 2005).

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Ergonomische Gestaltung 975

Arbeitswissenschaftlich interessante Anwendungsbereiche für AR ergeben sich insbesondere dann, wenn der Mensch zur Durchführung von Aufgaben situiert auf Hintergrundinformationen zurückgreifen muss. Exemplarisch sind hier zu nennen:

Fertigung: Visualisierung der jeweils folgenden Arbeitsschritte bei der ma-nuellen Montage oder von Prozessparametern beim Lichtbogenschweißen

Wartung und Instandhaltung/-setzung: Einblendung von Reparaturanleitun-gen zur Erleichterung der Fehlersuche und -behebung

Logistik: Leichteres Auffinden von Artikeln bei der Kommissionierung Fahrzeug- und Flugführung: Anzeige von Navigationsinformationen, Stre-

ckengeboten/-verboten, sensoriell festgestellten Hindernissen etc. (Abb. 10.23)

Architektur / Städtebau: Überlagerung von Gebäude- oder Gestaltungsent-würfen in die natürliche Außensicht

Medizin: Überlagerung der realen Sicht auf den Operationssitus mit compu-terbasierten Patienteninformationen bei operativen Eingriffen

Militär: Einblendung von georeferenzierten Lageinformationen in die Au-ßensicht des operierenden Infanteristen.

Weitere Beispiele finden sich in OEHME 2004; PARK 2007; SCHMIDT 2005; WIEDENMAIER et al. 2003.

Abb. 10.23: Darstellung von wichtigen Informationen für den Pkw-Fahrer in der Außen-sicht (Quelle: VDO Automotive AG)

Obwohl die Nutzung von AR-Technologien in komplexen Arbeitsprozessen ein großes Potenzial zur Erhöhung der Arbeitsleistung und Systemsicherheit sowie zur Verminderung der mentalen Beanspruchung aufweist und auch für Ausbil-dungs- und Trainingszwecke sinnvoll erscheint, werden AR-Systeme in industriel-

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976 Arbeitswissenschaft

len Anwendungen u.A. aufgrund bestehender ergonomischer Gestaltungsmängel bislang hauptsächlich im Rahmen von Forschungs- und Vorentwicklungsprojekten prototypisch eingesetzt. Weitere Anwendungsbeispiele für VR/AR im Rahmen des sog. Prototyping finden sich in Kapitel 10.2.3.

10.1.2.2 Unterstützung der Informationsaufnahme

Die von der Informationstechnik zur Verfügung gestellten Möglichkeiten zur Informationsdarstellung sind nahezu unbegrenzt. Die Aufgabe des Systemgestal-ters besteht u.A. darin, die Information im Aufgabenkontext so auszuwählen und darzustellen, dass die Schnittstelle der menschlichen Informationsverarbeitung angepasst ist und dadurch zu einer möglichst hohen Systemleistung beiträgt. Es geht also um die Gestaltung der für den Operateur über die Schnittstelle dargebo-tenen Information im Hinblick auf die Merkmale und Grenzen der Wahrnehmung und zentralen Informationsverarbeitung des Menschen (BOFF u. LINCOLN 1988).

Obwohl die weitaus größte Informationsmenge optisch wahrgenommen wird, spielen auch andere Anzeigeformen eine bedeutende Rolle, bspw.

um in Bezug auf bestimmte Informationen (z.B. Warnhinweise) besondere Aufmerksamkeit zu erzielen und somit die Voraussetzungen für Situations-bewusstsein (situation awareness) zu schaffen,

um mittels multimodaler Schnittstellen eine Redundanz bei der Wahrneh-mung von Informationen sicherzustellen und, dem Modell multipler Res-sourcen folgend, andere Informationsverarbeitungsressourcen zu nutzen,

den visuellen Kanal bei der Informationswahrnehmung zu entlasten oder die Manipulation eines Objekts zu erleichtern. Informationen werden demzufolge in technischen Systemen vorrangig durch

Sichtanzeigen sowie durch akustische Signale (Warnsignale, Sprachübermittlung) und haptische Merkmale (Position von Stellteilen, Merkmale an Bedienelementen, Kraftrückmeldung etc.) vermittelt. Die Reproduktion olfaktorischer, gustatorischer und thermischer Merkmale zum Zwecke der mittelbaren Informationsübermittlung erfolgt im Rahmen des „affective design“ der Mensch-System- bzw. Mensch-Umwelt-Kommunikation (siehe KHALID 2006, HELANDER u. KHALID 2006) (siehe Kap. 10.1.2.2.5).

Weitere sensorisch erfassbare Informationen (z.B. Gerüche bei Überlastung von Maschinen, Beschleunigungen, Schwingungen) werden häufig unmittelbar von den technischen Systemkomponenten an den Menschen übertragen.

10.1.2.2.1 Gestaltungsrichtlinien für Anzeigen Die enorme Anzahl von Freiheitsgraden, die bei der Anzeigengestaltung zur Ver-fügung steht, zeigt die von WICKENS et al. (2004) aufgestellte, im Folgenden be-schriebene Zusammenstellung von ergonomischen Gestaltungsrichtlinien für An-zeigen. Daneben existiert eine Vielzahl von Normen (bspw. im Rahmen der DIN EN ISO 9241), auf die zurückgegriffen werden kann, um bei spezifischen Gestal-tungsproblemen Lösungshinweise zu erhalten.

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Ergonomische Gestaltung 977

10.1.2.2.1.1 Unterstützung der Wahrnehmung

Für die Wahrnehmbarkeit von Signalen ist neben dem Signal-Rausch-Abstand eine Vielzahl weiterer Faktoren von Bedeutung, insbesondere aber das Wiederer-kennen von Referenzinformationen aus dem Gedächtnis. Die hierbei ablaufenden Mechanismen und die mit ihnen verbundenen Leistungsgrößen beschreibt die Signalentdeckungstheorie (GREEN u. SWETS 1966) (siehe auch Kap. 3.3.1.2.1). Folgende Aspekte der Systemgestaltung sollten grundsätzlich Beachtung finden:

Vermeidung von Überforderungen bei der absoluten Bewertung: Der Operateur sollte nicht gezwungen sein, den Ausprägungsgrad einer dargestellten Variablen anhand einer einzigen sensorischen Variablen wie der Farbe, Größe oder Lautstär-ke zu bewerten, die mehr als fünf Stufen umfasst („magical number 7 ± 2“, MILLER 1956).

Rolle von Erfahrungen und Erwartungen: Signale werden auf der Basis ver-gangener Wahrnehmungen und den daraus resultierenden Erwartungen wahrge-nommen und interpretiert. Wenn ein Signal auftritt, das den Erwartungen wider-spricht, wie z.B. eine Warnung vor einem Ereignis mit geringer Auftrittswahrscheinlichkeit, müssen zusätzliche Hinweise dargeboten werden, um sicherzustellen, dass es richtig interpretiert wird (siehe Kap. 3.3.1.2.2).

Gewinn durch Redundanz: Wenn dieselbe Information zur gleichen Zeit mehr-fach dargeboten wird, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie richtig interpre-tiert wird. Dies gilt besonders, wenn die Information in alternativen Signalformen dargeboten wird (z.B. Tonhöhe und Lautstärke, Farbe und Form usw.). Dadurch erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit, dass diese trotz Störungen in einem Wahrnehmungsbereich (z.B. durch Geräusche überlagerte Stimmwarnung) im anderen Bereich (alphanumerischer Text) noch richtig wahrgenommen wird.

Diskriminierbarkeit: Ähnlich erscheinende Signale werden leicht verwechselt, entweder direkt bei der Wahrnehmung, besonders aber, wenn die Information zunächst im Arbeitsgedächtnis gespeichert und wieder abgerufen werden muss. Die Ähnlichkeit zweier Signale entspricht dem Verhältnis der ähnlichen Merkma-le zu den Unterschieden.

10.1.2.2.1.2 Berücksichtigung mentaler Modelle

Prinzip des bildlichen Realismus: Eine Anzeige sollte der Variablen entsprechen, die sie repräsentiert. Bspw. sollte ein Thermometer, das hohe und niedrige Tempe-raturen anzeigen kann, vertikal angeordnet sein. Wenn eine Anzeige mehrere Elemente umfasst, können diese entsprechend der Anordnung beim Echtsystem dargestellt werden (z.B. schematische Darstellung der Systemkomponenten, wie Behälter, Pumpen, Ventile, Reaktoren und die sie verbindenden Rohrleitungen einer verfahrenstechnischen Anlage).

Prinzip des bewegten Teils: Der bewegliche Teil einer Anzeige für dynamische Information sollte eine Bewegung so darstellen, dass diese sich mit dem mentalen Modell des Benutzers von dieser Bewegung deckt. So sollte sich der bewegliche Teil eines Höhenmessers beim Steigflug nach oben bewegen. Kritik: das mentale

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Modell des Benutzers kann falsch sein, d.h. von den wahren physikalischen Ver-hältnissen abweichen.

Ökologische Schnittstellengestaltung: Wenn man sowohl das Prinzip des bildli-chen Realismus als auch das Prinzip des bewegten Teils anwendet, kann man Anzeigen gestalten, die eine enge Übereinstimmung mit der Umgebung besitzen, die sie abbilden. Schnittstellen, bei denen dieser Ansatz angewendet wird, werden auch als ökologische Schnittstellen bezeichnet (siehe auch Kap. 10.1.2.3.2).

10.1.2.2.1.3 Aufmerksamkeitsprinzipien

Bei der Verarbeitung von Information aus komplexen mehrteiligen Anzeigen sind drei Aspekte der Aufmerksamkeit beteiligt:

Die selektive Aufmerksamkeit ist bei der Auswahl der Information beteiligt, die für eine Aufgabe benötigt wird.

Die fokussierte Aufmerksamkeit erlaubt die gebündelte Wahrnehmung von Information ohne Ablenkung durch andere Information.

Die verteilte Aufmerksamkeit erlaubt die gleichzeitige parallele Verarbeitung von zwei oder mehreren Informationen.

Minimierung der Informationszugangskosten: Informationszugangskosten be-schreiben die mit der Informationssuche und -dekodierung verbundene Anstren-gung des Menschen, die sich bspw. in Form mentaler Beanspruchung äußern kann. Sie entstehen z.B. beim Durchsuchen eines Menüs auf einem Bildschirm, aber auch bei Verlagerung der Aufmerksamkeit von einer Aufgabe auf eine ande-re. Eine gute Anzeigengestaltung minimiert die Informationszugangskosten, in-dem sie häufig aufgenommene Information so darbietet, dass nur geringe Augen-bewegungen erforderlich und für die Integration benötigte Informationen ähnlich kodiert sind.

Kompatibilitätsprinzip der Nähe: Die Benutzungsschnittstelle soll zu den Auf-gaben kompatible Anzeigen aufweisen. Näheres hierzu in Kapitel 10.1.2.3.1.

Nutzung multipler Ressourcen: Das Verarbeiten von großen Informationsmen-gen kann dadurch erleichtert werden, dass man diese Informationen auf verschie-dene Ressourcen aufteilt. Informationen,

die verbale Reaktion erfordern, sollten akustisch, solche, die manuelle Reaktion erfordern, sollten visuell

dargeboten werden.

10.1.2.2.1.4 Gedächtnisprinzipien

Unterstützung bei der Vorhersage: Der Mensch kann in komplexen, hochdynami-schen Systemen auf Grund seiner begrenzten Informationsverarbeitungskapazität nur schwer zukünftige Ereignisse vorhersagen. Zum großen Teil rühren diese Einschränkungen daher, dass die Vorhersage stark vom Arbeitsgedächtnis ab-hängt. Zur Vorhersage ist es erforderlich, die gegenwärtigen sowie möglichen zukünftigen Zustände zu bedenken und die Regeln zu finden, die es ermöglichen, aus der gegenwärtigen Situation die zukünftigen Bedingungen zu prognostizieren.

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http://www.springer.com/978-3-540-78332-9