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kon traste Presse- und Informationsdienst für Sozialpolitik ZUKUNFT DER PFLEGE SPEKTRUM BUCHTIPPS VERANSTALTUNGEN 7 September 2011

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k o n t r a s t ePresse- und Informationsdienst für Sozialpolitik

ZUKUNFT DER PFLEGE

SPEKTRUM

BUCHTIPPS

VERANSTALTUNGEN

SPE KTRUM

7 September 2011

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Zukunft der Pflege

Pflege neu? 4

Pflege und Pflegepolitik in Mittelost- und Südosteuropa 7

Lebensqualität in Pflegeoasen untersucht 10

Gestaltungsmöglichkeiten des Wohnumfelds älterer Menschen 12

24-Stunden-Betreuung zwischen Legalität und Leistbarkeit 18

Freiheitsbeschränkungen dank Sturzprävention reduziert 20

Care-Ökonomie 21

Spektrum

Gewerkschaften in der Krise 24

Es gibt Strategien zur Überwindung des Hungers 29

Fair Play - eine Frage des Selbstbildes? 30

Shopping am Sonntag? 31

Buchtipps 32

Veranstaltungen 34

I N HA L T

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E D I T O R I A L

Ungewisse Zukunft

Anfang Juli, noch vor der parlamentarischen Som-merpause, wurde das Pflegefondsgesetz beschlossen,das die Pflegefinanzierung in Österreich bis auf wei-teres sicherstellen soll. Eckpunkt des Gesetzes ist dieÜbernahme bisheriger Landeskompetenzen durch denBund, bei dem ein Pflegefonds eingerichtet wird. Die-ser ist mit 686 Mio. Euro dotiert und soll die Kosten-steigerungen der Länder und Gemeinden bis 2014decken. Der Bund wird für zwei Drittel der Mittel auf-kommen, Länder und Gemeinden für ein Drittel. DieEinigung, insbesondere die Kompetenzverlagerung,ist wohl nur aufgrund der massiven finanziellen Not-lage zustande gekommen. Dauerlösung wurde damitzwar keine erreicht, eine Vereinbarung über die lau-fende Finanzausgleichsperiode hinaus wäre laut So-zialminister Hundstorfer allerdings nicht möglich ge-wesen. Er will aber in Verhandlungen mit den Ländernbis Ende 2012 eine Gesamtlösung finden, die ab demJahr 2015 gelten soll (vgl. ParlamentskorrespondenzNr. 653, 28.06.2011). Dadurch, dass der Bund die Ge-setzgebungs- und Vollziehungskompetenz komplettan sich zieht, soll es beim Pflegegeld zu einer Verwal-tungsvereinfachung kommen. Eine solche war auchvom Rechnungshof angeregt worden. Statt 280 Lan-des- und 23 Bundesstellen werden nur noch acht In-stitutionen (mehrheitlich die Pensionsversicherungs-anstalt) für Pflegegeldangelegenheiten zuständigsein. Die durchschnittliche Verfahrensdauer solldurch die Neuregelung von 90 auf 60 Tage sinken(vgl. www.orf.at, 04.07.2011).

Die Zusammenführung des Pflegegeldes bei einer ad-ministrativen Einheit, dem Bund, wird in Fachkreisendurchwegs positiv gesehen; ebenso die Zweckwid-mung der Gelder für die Pflege, denn aus dem Fondssollen mobile, teilstationäre und stationäre Betreu-ungs- und Pflegedienste, die Kurzzeitpflege in sta-tionären Einrichtungen, alternative Wohnformensowie Case- und Care-Management unterstützt wer-den. Und dass von der Statistik Austria ab 2012 eineeinheitliche österreichweite Pflegedienstleistungsda-tenbank eingerichtet und geführt wird, bewertetetwa die Diakonie-Sozialexpertin Katharina Mei-chenitsch als “großen Wurf”, zumal die bisherigenLänderdaten aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit oftnicht vergleichbar waren. Kritisiert wird von Mei-chenitsch, dass mit der getroffenen Vereinbarung dieangestrebte Harmonisierung der Dienstleistungen inder Langzeitpflege noch immer nicht erreicht wird,sondern die bestehenden Unterschiede bei den Pfle-gekosten und dem Angebot fortgeschrieben werden.Auch Beratungs- und Unterstützungsleistungen fürpflegende Angehörige hätten keine Berücksichtigunggefunden (vgl. Beitrag S. 4).

Inwieweit diese Kritikpunkte in der nachfolgend an-gestrebten Dauerlösung berücksichtigt werden, wirdsich weisen. Fest steht, dass der Pflegebedarf weiterzunehmen wird. Denn laut WIFO-Prognose wird derBevölkerungsanteil der über 80-Jährigen, für die einGroßteil der Pflegeleistungen anfällt, von zuletzt 4,8Prozent auf 7 Prozent (2030) bzw. auf 11,5 Prozent(2050) anwachsen. Aber auch soziodemografischeVeränderungen wie sinkende Geburtenraten, stei-gende weibliche Erwerbsquoten und eine Zunahmeder Single-Haushalte bewirken einen zunehmendenBedarf an Pflegedienstleistungen. Natürlich stehthier zunächst die Finanzierungsfrage im Vordergrund,eine Heranziehung (allerdings noch zu realisierender)vermögensbezogener Steuern wäre durchaus denk-bar. Davon abgesehen geht es nicht zuletzt um dieAufteilung der Care-Tätigkeiten (vgl. BeitragWeißböck). Nach wie vor werden drei Fünftel derPflegebedürftigen ausschließlich von Angehörigenbetreut - vor allem von Frauen. Aber auch in der pro-fessionellen Pflege finden sich kaum männliche Ar-beitskräfte. Mehr Gendergerechtigkeit wäre hiersomit dringend vonnöten, meint

Ihre Kontraste-Redaktion

Wertvolle Arbeit - Vollwert-Arbeit

Anlässlich des WUK Bildungs- und Beratungs-tages 2011 beschäftigt sich eine Fachtagungmit der Notwendigkeit neuer Arbeitsmodelle.Unter dem Motto "Wertvolle Arbeit – Vollwert-Arbeit" wird der Frage nachgegangen, welcheVisionen, Strategien und praktische Vorausset-zungen ein Arbeitsmarkt braucht, der einerStigmatisierung von ausgrenzungsgefährdetenMenschen entgegensteuert.

Termin: 4. Oktober 2011, 14.00 - 19.00 UhrOrt: WUK Saal, WUK Werkstätten- und

Kulturhaus, Währinger Str. 59, 1090 Wien

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ZUKUN F T D E R P F L E G E

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Pflege neu?Der beschlossene „Pflegefonds“ bringt zu-sätzliche finanzielle Mittel für die Betreuungälterer Menschen. Aber sind dadurch die ak-tuellen Probleme im Pflegesystem gelöst?

Fast 20 Jahre nach Einführung des Pflegegeldeshaben sich die Anforderungen an eine moderne Pfle-gelandschaft in Österreich gewandelt. WachsendeAnteile von älteren Menschen sowie weitere gesell-schaftliche und soziale Umwälzungen (vor allem ge-ringere Fertilitätsraten, höhere weibliche Erwerbs-quoten sowie vermehrt Single-Haushalte) erfordernsozialpolitische Anpassungen. (Österle, Meichenitsch,Mittendrein 2011) Nach wie vor werden aber inÖsterreich drei Fünftel aller Pflegebedürftigen aus-schließlich von Angehörigen betreut, ein Fünftel be-zieht zusätzlich zur häuslichen Betreuung mobileDienste und ein weiteres Fünftel ist in stationärer Be-treuung. Daten der OECD zeigen zusätzlich, dass 30Prozent der pflegenden Angehörigen in Österreichsogar mehr als 20 Stunden pro Woche für Betreuungaufwenden, in Dänemark sind dies nur 15 Prozent derAngehörigen. (Colombo et al. 2011) Aber nicht nur er-wartbare Rückgänge der so genannten informellenAngehörigen-Pflege, sondern auch rasante Steige-rungen bei sehr spezifischen Pflege-Bedürfnissenbringen die Pflegesysteme europaweit unter Druck.Für Österreich wird die Zahl der an Demenz und Alz-heimer erkrankten Personen von heute etwa 130.000Personen auf 260.000 im Jahr 2050 steigen. (Berlin-Institut 2011) In Kombination mit eher niedrigen Be-schäftigungsraten im Gesundheits- und Sozialsektor(knapp 9% in Österreich) im Vergleich zu nordischenStaaten (bis zu 20% in Norwegen) erscheint ein Aus-bau von Pflegedienstleistungen unabdingbar. Vorallem die Schließung der so genannten Pflegelücke istein wesentlicher Schritt, um das österreichische Pfle-gesystem auf die kommenden Herausforderungenvorzubereiten.

Noch immer stehen pflegebedürftige Menschen inÖsterreich vor dem Problem, dass entweder Dienstenicht angeboten werden oder das Angebot nichtleistbar ist. Es braucht daher zur Schließung der Pfle-gelücke z.B.:

� Tagesstätten, die Betreuung während des (Ar-beits-)Tages bieten und so Angehörige entlasten

� vermehrt mobile Dienste, die Unterstützung zuHause in einer enormen Bandbreite von Haus-

haltstätigkeiten über klassische Pflege bis hin zumobilen Pallitativteams bieten

� innovative Modelle wie Hausgemeinschaften, diein Form moderner WGs für pflegebedürftige Men-schen gemeinsame Aktivitäten im zentralenRaum, aber auch Rückzug in die privaten Zimmerermöglichen

Aber nicht nur ein Ausbau von Sachleistungen wirdimmer wieder von ExpertInnen gefordert, sondernauch eine Harmonisierung der großen Unterschiedezwischen den einzelnen Bundesländern. Laut 15aBVG-Vereinbarung „pflegebedürftige Personen“, dieAnfang der 1990er Jahre zwischen Bund und Ländernabgeschlossen wurde, sind die Länder dazu verpflich-tet, für „einen Mindeststandard von Sachleistungen“für die Pflege zu sorgen. Zwischen den Bundesländernvariiert jedoch die Quantität und Qualität der Dien-ste, da man sich nicht auf einheitliche Standards ei-nigen konnte. Dies lässt sich an Indikatoren, wie z.B.Selbstbehalte der KundInnen, Versorgungsgrade etc.,festmachen. Lebt man z.B. im Burgenland, so müssen3,6 Prozent der Kosten für eine Stunde mobile Dien-ste selbst gezahlt werden, in Salzburg jedoch 59 Pro-zent. (Schneider et al. 2006) Aber auch die Stunden-anzahl von mobiler Hilfe pro PflegegeldempfängerInvariiert stark, von 14 Stunden in der Steiermark bis 60Stunden pro Monat in Wien. Die Anzahl der Heim-plätze pro 100 PflegegeldbezieherInnen reicht von 10im Burgenland bis 27 in Vorarlberg. (BAG 2010)

Auch die Finanzierungen für Anbieter von sozialenDienstleistungen variieren stark, und das nicht nur imlaufenden Betrieb. Ob z.B. für die Errichtung eines Al-tenheimes eine Wohnbauförderung, eine Bedarfszu-weisung oder Mittel aus dem Sozialbudget beantragtwerden können, hängt davon ab, in welchem Bundes-land man tätig ist. In Kombination mit den unter-schiedlichen KundInnenbeiträgen existieren demnachin den Bundesländern sehr verschiedene Modelle derPflegefinanzierung, wobei auf die Situation der Ge-meinden ebenfalls nochmals Rücksicht genommenwerden muss (für genauere Darstellungen siehe z.B.Trukeschitz, Buchinger 2007).

Das Pflegefonds-Modell der Hilfs-organisationen geht weiter als …Angesichts dieser vielschichtigen Probleme wurdeauch die BAG (Bundesarbeitsgemeinschaft FreieWohlfahrt), ein freier Zusammenschluss der fünfDienstleistungsorganisationen Caritas, Diakonie,Hilfswerk, Rotes Kreuz und Volkshilfe, aktiv und hat inden letzten Monaten ein eigenes Modell des Pflege-

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ZUKUN F T D E R P F L E G E

fonds präsentiert, das eine einheitliche und gesi-cherte Pflegevorsorge in Österreich garantieren soll.

Wesentliche Ziele des BAG-Pflegefonds-Modellessind:

� Die langfristige Finanzierung des vor allem demo-grafisch bedingten Mehraufwandes

� Die Verbesserung des Risikoausgleiches zwischen(a) den Gebietskörperschaften (und hier vor allemdie Entlastung der Gemeinden) sowie (b) den Be-troffenen und der Solidargemeinschaft (Selbstbe-halte)

� Die Verbesserung der Planungsgrundlagen undSteuermöglichkeiten für den einzelnen sowie dasganze System

� Die Erhöhung von Transparenz und Vereinfachungder Abläufe

� Der Ausgleich der starken regionalen Unter-schiede bei Pflegegeldeinstufung, Selbstbehaltenund Versorgungsniveaus

� Das Ziel, dass Pflegebedürftigkeit nicht in dieArmut führen soll

Ein garantierter Rechtsanspruch auf Unterstützungmit Sachleistungen soll umgesetzt werden, beigleichzeitiger Beibehaltung des Pflegegeldes. In einerneuen Einstufung (Assessmentinstrument auf Basisvon internationalen Erfahrungen) soll nicht mehr nurder Bedarf für das Pflegegeld, sondern auch der Un-terstützungsbedarf hinsichtlich Sachleistungen er-hoben werden. Die Leistungsstunden sollen dann sei-tens der öffentlichen Hand gefördert werden. Derdamit einhergehende Ausbau vonDienstleistungsangeboten erwirktnicht nur eine verbesserte Versor-gungssituation von pflegebedürfti-gen Menschen, sondern entlastetauch Angehörige und bringt wirt-schaftliche Impulse in ländlichenRegionen, weil Dienste vor allemdort gebraucht werden.

Das Pflegefonds-Modell der BAGsieht vor, dass bestehende Doppel-gleisigkeiten abgebaut werden.Durch eine zentrale Datenerfassungsowie Assessment- und Eva-luierungsinstrumente sollen Pla-nungsgrundlagen und Steuerungs-möglichkeiten für den Pflegebereichverbessert werden. Neben den be-stehenden Mitteln zur Pflegefinan-zierung werden in den nächsten

Jahren etwa 5 Mrd. Euro an zusätzlichen Mitteln not-wendig sein, um die demografisch bedingten Mehr-kosten sowie den Ausbau des Systems zu finanzieren.Diese Zahlen lassen sich aus den Bedarfsmeldungender Bundesländer sowie aus umfangreichen Studien(siehe Mühlberger et al. 2008a sowie Mühlberger etal. 2008b) berechnen. (Für eine genauere Darstellungdes Pflegefonds-Modells der BAG siehe BAG 2010)

… der Beschluss zum so genannten„Pflegefonds“ der öffentlichen HandNach den Budgetkürzungen im Herbst 2010 (er-schwerter Zugang zu Pflegestufe I und II, Verlänge-rung der Fristen für barrierefreien Ausbau von öffent-lichen Gebäuden, erschwerter Zugang zur 24-Stun-den-Betreuung etc., insgesamt etwa 650 Mio. Eurobis 2014) einigten sich Bund und Länder im März2011 auf einen so genannten „Pflegefonds“. Bis zumJahr 2014 sollen 685 Mio. Euro für das Pflegesystembereitgestellt werden – mit dieser Zwischenfinanzie-rung werden die aktuellen Bedarfe der Bundesländerbezüglich Sachleistungen abgedeckt. Positiv bei die-ser Einigung sind vor allem drei Punkte: die vorgese-hene Zweckwidmung der Gelder für die Pflege, dieRealisierung einer gemeinsamen Pflegedienstlei-stungs-Statistik sowie die Zusammenführung desPflegegeldes bei einer administrativen Einheit, demBund. Insbesondere die Verwirklichung einer gemein-samen Statistik über Pflegedienstleistungen kann alsgroßer Wurf bewertet werden, waren doch die bishe-rigen Länderdaten aufgrund ihrer Unterschiedlichkeitoft nicht vergleichbar.

In den Diakonie-Hausgemeinschaften wird selbst gekocht. Foto: Diakoniewerk, Haus für Senioren Mauerkirchen

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Das im Pflegefondsgesetz formulierte Ziel der Har-monisierung der Dienstleistungen in der Langzeit-pflege wird jedoch nicht erreicht. Die bestehendenLänderunterschiede bei Pflegekosten oder Angebotwerden fortgeschrieben, ein Ausgleich der regionalenUnterschiede findet nicht statt. Eine zentrale Pla-nung oder Koordinierung bzw. ein strukturierter Aus-bau der Dienste kann nicht festgemacht werden undgemeinsame Qualitätsmerkmale sind noch in weiterFerne. Die Gelder des Pflegefonds sind an mobile,stationäre und teilstationäre Betreuung und Pflege,Kurzzeitpflege, Case- und Care-Management sowiealternative Wohnformen gekoppelt. Leistungen fürpflegende Angehörige (z.B. Beratung, Information,Austausch, Unterstützungsangebote) wurden nichtberücksichtigt.

Eine Arbeitsgruppe soll laut Pflegefondsgesetz bisEnde nächsten Jahres Szenarien für die Absicherungder Pflege ab dem Jahr 2015 erarbeiten. Wichtig ist,dass in diesem Rahmen auch auf bereits bestehendeExpertise aus früheren Arbeitsgruppen, Studien undBerichten zurückgegriffen wird.

Pflege noch immer privates RisikoInsgesamt wurden in Österreich für das Jahr 2008etwa 3,9 Mrd. Euro für die Pflege seitens der öffent-lichen Hand ausgegeben, das sind etwa 1,3 Prozentdes BIP. Zum Vergleich werden in den nordischenStaaten bis zu 3,5 Prozent des BIP für die Pflege vonder öffentlichen Hand finanziert. (BAG 2010, Co-lombo et al. 2011) In Österreich würde man in etwaauf die gleiche Größenordnung stoßen, würde mandie bestehenden KundInnenbeiträge sowie einenSchätzungswert der informellen Betreuungsarbeitdurch Angehörige miteinrechnen. (Schneider et al.2006)

Gleichzeitig schlägt im Falle von Pflegebedürftigkeiteine 100-prozentige Vermögenssteuer zu – Barver-mögen, Wertpapiere und Eigentum des pflegebedürf-tigen Menschen werden verwertet, bevor die öffent-liche Hand als Financier einspringt. Im Fachjargonspricht man von Eigenregress. Dass in Österreich diePflege zu einem Großteil in den privaten Haushaltengeleistet und finanziert wird, zeigt sich auch immerwieder in der öffentlichen Debatte, wenn z.B. über dieWiedereinführung von Angehörigen-Regressen ineinzelnen Bundesländern diskutiert oder jährlich derWertverlust des Pflegegeldes infolge unterlassenerInflationsanpassungen fortgeschrieben wird.

Das Lebensrisiko Pflege ist demnach noch immer einprivates Risiko, dessen Absicherung durch soziale

Dienstleistungen nur teilweise und für wenige Men-schen erfolgt. Eine umfassende Finanzierung fürPflege und Betreuung in Österreich muss jedochselbstverständlich werden, um den Lebenssituationender Menschen gerecht zu werden.

Katharina Meichenitsch

Die Autorin ist Sozialexpertin der Diakonie Österreich undMitglied der Arbeitsgruppe „Pflegefonds“ innerhalb derBAG (Bundesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrt)

LiteraturBAG (2010) BAG-Pflegefonds-Modell, verfügbar unter

www.freiewohlfahrt.atBerlin-Institut (2011) Demenz-Report, Wie sich die Regio-

nen in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf dieAlterung der Gesellschaft vorbereiten können, Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Berlin.

Colombo, Francesca; Llena-Nozal, Ana; Mercier, Jérôme;Tjadens, Frits (2011) Help Wanted? Providing and Pay-ing for Long-Term Care, OECD Health Policy Studies,OECD Publishing.

Mühlberger, Ulrike; Knittler, Käthe; Guger, Alois (2008a)Mittel- und langfristige Finanzierung der Pflegevor-sorge, Studie des Österreichischen Instituts für Wirt-schaftsforschung im Auftrag des Bundesministeriumsfür Soziales und Konsumentenschutz.

Mühlberger, Ulrike; Guger, Alois; Knittler, Käthe; Schrat-zenstaller, Margit (2008b) Alternative Finanzierungs-formen der Pflegevorsorge, Studie des ÖsterreichischenInstituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag des Bun-desministeriums für Soziales und Konsumentenschutz.

Österle, August; Meichenitsch, Katharina; Mittendrein Lisa(2011) Long-term Care in Austria: Between Family Ori-entation, Cash for Care and Service Provision, in:Österle, August (eds.) Long-term Care in Central andSouth Eastern Europe, Peter Lang: Wien.

Schneider, Ulrike; Österle, August; Schober, Doris; Schober,Christian (2006) Die Kosten der Pflege in Österreich,Ausgabenstrukturen und Finanzierung, Forschungsbe-richt 2/2006, Institut für Sozialpolitik, Wirtschaftsuni-versität Wien.

Trukeschitz, Birgit; Buchinger, Clemens (2007) ÖffentlicheFörderungen am Beispiel von Dienstleistungen der Al-tenpflege und –betreuung, Eine Bestandsaufnahme fürÖsterreich, in: Schneider, Ulrike; Trukeschitz, Birgit(Hrsg.) Quasi Märkte und Qualität, Die Qualität arbeits-marktpolitischer und sozialer Dienstleitungen im Kon-text öffentlicher Beschaffungspolitik, Nomos: Baden-Baden.

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ZUKUN F T D E R P F L E G E

Pflege und Pflegepolitik inMittelost- und SüdosteuropaDie Länder in Mittelost- und Südosteuropastehen in der Pflegepolitik vor demografischenHerausforderungen, die mit denen in anderenRegionen Europas durchaus vergleichbar sind.Allerdings wurde Pflegepolitik im Transforma-tionsprozess lange nicht als sozialpolitischesThema wahrgenommen. Öffentlich ko-finan-zierte Pflege- und Betreuungsinfrastruktur istin weiten Teilen der Region nur in Ansätzenvorhanden. Hintergründe, Entwicklungen undPerspektiven der Pflegepolitik in Mittelost-und Südosteuropa werden im folgenden Bei-trag diskutiert.

Die Sicherstellung von Pflege- und Betreuungslei-stungen ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten zueiner der großen sozialpolitischen Herausforderungenin Europa geworden. (Colombo et al. 2011; Österle,Rothgang 2010) Zahlreiche Länder haben bestehendepflegepolitische Instrumentarien ausgebaut oderneue Pflegepolitiken implementiert. Wenig bekanntist allerdings darüber, welchen pflegepolitischen Kon-zepten die Länder Mittelost- und Südosteuropas fol-gen. In einer von der ERSTE Stiftung geförderten Stu-die wurde die Situation in dieser europäischen Regionfür die Länder Kroatien, Rumänien, Serbien, Slowe-nien, Slowakei, Tschechien und Ungarn daher genaueranalysiert.1

Die HerausforderungenIm Hinblick auf die pflegepolitischen Herausforde-rungen weisen die Länder in Mittelost- und Südost-europa eine durchaus mit Westeuropa vergleichbaredemografische Entwicklung auf. Nach Eurostat-Be-völkerungsprognosen wird der Anteil der älteren Be-völkerung in den kommenden Jahrzehnten auch indieser Region in absoluten Zahlen wie auch in Rela-tion zur Gesamtbevölkerung rasch ansteigen.Während beispielsweise im EU27-Durchschnitt derAnteil der über 80-jährigen von 4,7 Prozent im Jahr2010 auf knapp 7 Prozent im Jahr 2030 und auf 11Prozent im Jahr 2050 ansteigen soll, steigt der Anteilin den mittelosteuropäischen EU-Mitgliedsländernvon aktuell unter 4 Prozent auf etwa 9 Prozent bis 10Prozent. (Eurostat 2008) Und auch wenn der Anteilälterer Menschen in den mittelosteuropäischen Län-dern aktuell geringer ist als in den westeuropäischen

Ländern, ist von durchaus vergleichbaren Anteilenpflegebedürftiger Menschen auszugehen, da Pflege-bedürftigkeit nicht durch das absolute Alter be-stimmt wird, sondern in der letzten Lebensphase ver-stärkt auftritt. Gleichzeitig sind die Fertilitätsratenim europäischen Vergleich sehr gering. Im Jahr 2009lagen sie in allen mittelosteuropäischen EU-Mit-gliedsländern (mit Ausnahme Estlands) unter demEU27-Durchschnitt von 1,60. Hinzu kommt, dass Mi-grationsbewegungen aus ländlichen in städtischeRegionen und Migrationsbewegungen nach Westeu-ropa dazu beitragen, dass der Anteil älterer Men-schen in ländlichen Regionen noch höher ist, wasden Druck auf informelle Betreuungspotenziale zu-sätzlich erhöht.

Es kann also im mittelost- und südosteuropäischenRaum von einem mit westeuropäischen Ländern ver-gleichbaren Bedarf an Pflege- und Betreuungslei-stungen ausgegangen werden. Gleichzeitig macheninternationale Daten deutlich, dass das Niveau deröffentlichen Pflegeausgaben in dieser Region deutlichunter dem EU-Durchschnitt liegt. (OECD, Eurostat,Huber et al. 2010) Die öffentlichen Ausgaben fürPflege belaufen sich in den nordeuropäischen Län-dern Schweden oder Dänemark auf einen Anteil vonmehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), inÖsterreich oder Deutschland auf jeweils deutlichmehr als 1 Prozent. In den mittelost- und südosteu-ropäischen Ländern werden für das Niveau der öf-fentlichen Pflegeausgaben in den meisten verfügba-ren Quellen hingegen Werte unter 0,5 Prozent des BIPangegeben. In Rumänien oder Bulgarien belaufen sichdie öffentlichen Pflegeausgaben auf nur etwa 0,1Prozent als Anteil am BIP. Dies legt bereits nahe, dassdie Unterstützung von pflege- und betreuungsbe-dürftigen Menschen in Mittelost- und Südosteuropavor allem in der privaten familiären Verantwortungliegt.

Die Transformation und deren Bedeutung fürdie PflegepolitikDie Länder Mittelost- und Südosteuropas erlebten inden vergangenen zwei Jahrzehnten massive gesell-schaftliche, politische und wirtschaftliche Umbrüche.Auch in der Sozialpolitik wurden wesentliche Neuori-entierungen vorgenommen, insbesondere in den Be-reichen Pensionen, Gesundheit und Arbeitsmarktpoli-tik, aber auch im Bereich der Sozialhilfe. Pflege wurdedemgegenüber lange Zeit nicht als eigenständiges so-ziales Risiko angesprochen. Allerdings hatte die Re-form der Sozialhilfegesetze, die in dieser Region bisheute den wichtigsten Rahmen für die öffentliche

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(Ko-)Finanzierung von Pflegeleistungen darstellen,bedeutende Auswirkungen.

Vor allem waren es grundlegende Prinzipien, die demTransformationsprozess zugrunde lagen und die be-trächtliche Auswirkungen für die Entwicklung derPflegepolitik mit sich brachten. Dezentralisierungwurde frühzeitig zu einem wichtigen Grundsatzwohlfahrtsstaatlicher Reformen. Während die Ge-sundheitssysteme in der Regel einen starken zentra-len Charakter behielten, wurde die finanzielle und or-ganisatorische Verantwortung für Pflege im Kontextvon Sozialhilfereformen auf die regionale und vorallem auf die lokale Ebene verlagert. Das Fehlen adä-quater finanzieller Ausstattung, teilweise überlap-pende Zuständigkeiten, aber auch ein fehlendes Be-wusstsein für pflegepolitische Agenden haben dieEntwicklung neuer pflegepolitischer Modelle vielfachbis heute gehemmt. Privatisierung bzw. Pluralisierungwaren zwei weitere wesentliche Leitlinien der wohl-fahrtsstaatlichen Reformaktivitäten. Im Bereich derPflege hat sich diese Orientierung in den 1990er Jah-ren aber nur wenig niedergeschlagen. In zahlreichenLändern wurden erst im vergangenen Jahrzehnt dieMöglichkeiten für private Akteure verbessert, als An-bieter von Pflege- und Betreuungsleistungen aufzu-treten und dabei nach gleichen Kriterien beurteilt zuwerden wie die öffentlichen Anbieter.

Pflege und Pflegepolitik heuteDie eingangs erwähnten Daten zu den öffentlichenPflegeausgaben sind ein deutliches Indiz dafür, dassnur ein geringer Teil des Pflege- und Betreuungsbe-darfs öffentlich (ko-)finanziert ist und Pflege undBetreuung vor allem im familiären bzw. informellenBereich erbracht und finanziert werden muss.Während in der kommunistischen Ära ein durchausdichtes Netz an Kinderbetreuungseinrichtungen an-geboten wurde (z.B. Klenner, Leiber 2010), wurde dieBetreuung und Pflege älterer Angehöriger auch hi-storisch als familiäre Verantwortung gesehen. DieseFamilienorientierung zeigt sich auch in internationa-len Einstellungsuntersuchungen. Wenn nach präfe-rierten Betreuungsarrangements gefragt wird, zeigenLänder in Mittelost- und Südosteuropa die relativhöchsten Werte für die Betreuung innerhalb der Fa-milie. Auch bei Fragen nach dem erwarteten Betreu-ungsarrangement wird die Betreuung durch Famili-enangehörige häufiger genannt als in anderen eu-ropäischen Ländern. Dies ist allerdings auch Aus-druck des Fehlens von Alternativen. Während die Un-terstützung und Entlastung innerfamiliärer Betreu-ung durch außerhäusliche Betreuungsleistungen ex-

trem eingeschränkt und vielfach nicht existent ist,werden pflegende Angehörige in zahlreichen Ländernder Region durch Geldleistungen unterstützt. Auchwenn diese Geldleistungen in der Regel nach Sozial-hilfeprinzipien und nur in geringer Höhe bezahltwerden, können sie in Haushalten mit geringem Ein-kommen oder bei Langzeitarbeitslosigkeit von Haus-haltsangehörigen einen wesentlichen Einkommens-bestandteil darstellen.

Das öffentliche Pflegesystem ist durch das Neben-einander von Leistungen des Gesundheitssystemsund des Sozialsystems charakterisiert. Das Gesund-heitssystem bietet in den meisten Ländern einflächendeckendes Angebot an stationären und am-bulanten Pflegeangeboten, wobei allerdings die Kri-terien für die Nutzung in der Regel nur eine vorüber-gehende Betreuung ermöglichen. Die stationäre Be-treuung von pflegebedürftigen PatientInnen findet ingeriatrischen Abteilungen, in Kurzzeitpflegeeinrich-tungen, aber auch in verschiedenen akutmedizini-schen Bereichen statt. Mit dem Ziel der Kosten-dämpfung im Gesundheitswesen wurden in zahlrei-chen Ländern der Region Programme zur Reduktionvon Spitalsbetten umgesetzt. Dieser Bettenabbau hatauch die Möglichkeiten der Betreuung von pflegebe-dürftigen Menschen in Krankenhäusern massiv ein-geschränkt, während gleichzeitig nicht für einenadäquaten Ausbau von Langzeitpflegeeinrichtungengesorgt wurde. Im ambulanten Bereich werden pfle-gerische Angebote nach medizinischer Anordnungauf befristete Zeit finanziert, häufig das einzigeflächendeckende ambulante Angebot. Die im Ver-gleich zum Sozialsektor geringen Selbstbehalte ma-chen die Angebote attraktiv, stehen aber nur zeitlichbefristet zur Verfügung.

Die im Sozialsektor finanzierten Pflege- und Betreu-ungsleistungen sind mit beträchtlichen, in der Regelnach Sozialhilfeprinzipien gestalteten Eigenleistun-gen verbunden. Historisch waren stationäre Einrich-tungen die einzige Alternative, wenn familiäre undinformelle Pflege nicht zur Verfügung stand. Im Sozi-alsystem finanzierte ambulante Einrichtungen wur-den in den 1990er Jahren – wenn überhaupt – nur inden städtischen Metropolen angeboten. Vergleichbarmit den Entwicklungen in Westeuropa wurde aberauch hier ein verstärkter Fokus auf ambulante Be-treuungsangebote gefordert. Massive Probleme, be-reits bestehende Angebote im Bereich der sozialenDienste zu finanzieren, ließen allerdings nur wenigRaum für einen systematischen Auf- und Ausbau die-ser Dienste. Entsprechende Bemühungen wurden erstim letzten Jahrzehnt verstärkt.

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Eine Alternative zur traditionellen Familienpflege undzu stationären und mobilen Leistungsangeboten wirdvor allem in Südosteuropa, und hier vor allem inKroatien, gefördert. Ältere Menschen können dort inPflegefamilien betreut werden. Die Familien erhaltenfür die Betreuung einer nicht familienangehörigenPerson eine finanzielle Unterstützung durch denStaat. Um die Gefahren des Missbrauchs hintanzu-halten und gleichzeitig die Qualität der Angebote zufördern, wurden mit einer aktuellen Reform Richt-werte für die Zahl der in Pflegefamilien betreutenPersonen etabliert, Ausbildungserfordernisse für diebetreuenden Personen geschaffen und eine Lizenzie-rung eingeführt. 2007 lebten in Kroatien ungefähr3.500 ältere betreuungsbedürftige Menschen in Pfle-gefamilien.

Die Rolle des privaten SektorsWie bereits erwähnt, hat sich die Rolle des privatenSektors als Anbieter von Pflege- und Betreuungslei-stungen nur langsam entwickelt. Gründe dafür sinddie fehlende Erfahrung als Anbieter von entsprechen-den Dienstleistungen, der in vielen Ländern gegen -über öffentlichen Anbietern lange restriktivere Zu-gang zu öffentlichen Finanzierungsmitteln, aber auchder nur kleine Teil der Bevölkerung, der sich denBezug von professionellen Leitungen als Selbstzahlerleisten kann. Trotzdem ist die relative Bedeutung, vorallem von Nonprofit-Organisationen, in den vergan-genen Jahren beträchtlich gestiegen. Der Stellenwertvon Nonprofit-Organisationen variiert allerdingsstark zwischen den einzelnen Ländern in Mittelost-und Südosteuropa. (Osborne 2006) So konnte die Ent-wicklung von Nonprofit-Organisationen als Anbietervon Pflegeleistungen in einzelnen Ländern stärker anhistorische Rollen in diesem Bereich anknüpfen. Vorallem in südosteuropäischen Ländern wie Rumänienoder Serbien wurden neue Pflegeangebote des Non-profit-Sektors häufig in Kooperation mit internatio-nalen Partnern entwickelt. Eine nachhaltige Entwick-lung dieser Initiativen steht nach dem Rückzug dieserPartner dann aber vielfach unter enormem finanziel-lem Druck. Andererseits wurden in der Region auchinnovative Modelle der Förderung von Nonprofit-Or-ganisationen eingeführt. In Ungarn, der Slowakeioder Rumänien haben Steuerzahler im Rahmen vonsogenannten „percentage laws“ beispielsweise dieMöglichkeit, einen kleinen Teil der von ihnen zu ent-richtenden Einkommensteuer einer für diesen Zweckregistrierten Nonprofit-Organisation zu widmen,unter anderem auch Organisationen, die im Bereichder Pflege und Betreuung tätig sind. In Ungarn wurdedieses System bereits 1997 eingeführt, wobei der An-

teil, der einer Nonprofit-Organistaion gewidmet wer-den kann, mit 1 Prozent der Einkommensteuer fest-gelegt wurde.

Perspektiven für die Entwicklung derPflegepolitikDie pflegepolitischen Debatten wurden in den ver-gangenen Jahren auch in der mittelost- und südost-europäischen Region intensiviert. Der steigende Be-darf an außerfamiliären Pflege- und Betreuungslei-stungen, die Notwendigkeit der Entwicklung des Poli-tikbereiches und der Ausbau der Service-Infrastruktur– dies allerdings im Kontext angespannter öffentli-cher Budgets – sind zentrale Themen dieser Debatten.Eine grundlegende Reform des Pflegesystems wurdebislang allerdings nur in Tschechien umgesetzt. Dortwurde 2007 einerseits eine Pflegegeldleistung in vierStufen eingeführt, die sich auch am österreichischenModell orientiert. Daneben wurde der Sachleistungs-bereich reformiert. Wichtige Elemente dieser Reformsind unter anderem eine zentrale Registrierung vonAnbietern, Qualitätssicherungsmaßnahmen und dieGleichstellung von öffentlichen und privaten Anbie-tern in Finanzierungsmodalitäten. Auch in anderenLändern der Region wurde eine Neustrukturierungdes Pflegesektors vorgeschlagen und teilweise auchim Detail entwickelt. Dies gilt insbesondere für Slo-wenien. Hier wurde ein Pflegeversicherungssystementwickelt, das sich am deutschen Modell orientiert,allerdings trotz mehrfacher Ansätze bislang nicht ge-setzlich verankert wurde. Während in westeuropäi-schen Ländern Pflegeversicherungssysteme die Aus-nahme darstellen, haben Reformdebatten in den mit-telost- und südosteuropäischen Ländern immer wie-der auf das Versicherungsmodell Bezug genommen,ohne dies aber in dem Detail zu entwickeln, wie es inSlowenien der Fall war.

Die mangelhafte Entwicklung der Pflegeinfrastrukturist durch die finanziellen Engpässe ebenso bedingtwie durch den fehlenden politischen Willen, diesenPolitikbereich tatsächlich zu einem vorrangigen sozi-alpolitischen Reformfeld zu machen. ZusätzlicheProbleme ergeben sich im Pflegepersonalbereich. DieWanderung von in Pflege und Betreuung ausgebilde-ten Personen nach Österreich und in andere europäi-sche Länder trägt in Herkunftsländern wie etwa derSlowakei oder Rumänien auch zu Personalproblemenbei. Zusammen mit einer Hierarchie der Attraktivitätvon Anstellungen im Krankenhaus, in der stationärenLangzeitpflege und der ambulanten Langzeitpflegeführt dies vor allem im mobilen Bereich der Pflegeund Betreuung zu gravierenden Problemen der nach-

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haltigen Entwicklung entsprechender Infrastruktu-ren. Dieser Entwicklungsprozess bzw. die Etablie-rung umfassender Pflegesystemreformen wurde inden vergangen Jahren schließlich auch in Folge derwirtschaftlichen Krise erschwert bzw. überhauptverhindert.

August ÖsterleInstitut für Sozialpolitik

Wirtschaftsuniversität Wien

Anmerkung1 Weitergehende Analysen und detaillierte Länderbe-

richte finden sich in dem im Sommer 2011 erschiene-nen Buch: Österle, A. (Ed.) (2011) Long-term Care inCentral and South Eastern Europe, Frankfurt: VerlagPeter Lang.

LiteraturColombo, Francesca; Llena-Nozal, Ana; Mercier, Jérôme;

Tjadens, Frits (2011) Help Wanted? Providing and Pay-

ing for Long-Term Care, Paris: OECD Publishing.Eurostat (2008) Ageing Characterises the Demographic

Perspectives of the European Societies. Statistics inFocus 72/2008, Brussels: European Commission.

Huber, Manfred; Rodrigues, Ricardo; Hoffmann, Frédéri-que; Gasior, Katrin; Marin, Bernd (2009) Facts and Fi-gures on Long-term Care. Europe and North America,Vienna: European Centre for Social Welfare Policy andResearch.

Klenner, Christina; Leiber, Simone (Eds.) (2010) WelfareStates and Gender Inequality in Central and EasternEurope, Brussels: etui.

Osborne, Stephen P. (Ed.) (2009) The Third Sector in Eu-rope. Prospects and Challenges, London: Routledge.

Österle, A. (Ed.) (2011) Long-term Care in Central andSouth Eastern Europe, Frankfurt: Verlag Peter Lang.

Österle, August; Rothgang, Heinz (2010) Long-term Care.In: Castles, Francis G.; Leibfried, Stephan; Lewis, Jane;Obinger, Herbert; Pierson, Christopher (Eds.) The OxfordHandbook of the Welfare State, Oxford: Oxford Univer-sity Press.

Lebensqualität in Pflege-oasen untersuchtDie Pflegewissenschaftliche Fakultät der Phi-losophisch-Theologischen Hochschule Vallen-dar (PTHV) hat im April die Ergebnisse einerStudie zu Pflegeoasen veröffentlicht. ImSchwerpunkt geht es dabei um eine Versor-gungsform, bei der drei bis sieben Menschenmit schwerer Demenz in einem Raum gepflegtwerden.

Ziel der Studie „(K)Ein Lebensraum für Menschen imAlter mit schwerer Demenz!?“, oder kurz POLA-SD,war es, mögliche Auswirkungen der Pflegeoase aufdie Lebensqualität der betroffenen alten Menschenund die Belastung der Pflegenden zu untersuchen.Darüber hinaus wurden Einschätzungen weiterer be-teiligter Berufsgruppen und der Angehörigen erfasst.Hermann Brandenburg, Inhaber des Lehrstuhls fürGerontologische Pflege und Leiter der Studie, hobanlässlich der Vorstellung der Projektergebnisse her-vor: „Einerseits war es uns wichtig, für die von unsuntersuchte Pflegeoase konkrete Vorschläge zu for-mulieren, andererseits haben wir auch Empfehlungen

für die Weiterentwicklung von Pflegeoasen inDeutschland herausgearbeitet.“ Dabei geht es z.B.um die Förderung der Mobilität der Bewohner, dieQualifikation der Mitarbeiter sowie den Einbezugvon Fallbesprechungen.

Eine zentrale Herausforderung sehen die Autoren derStudie in der Weiterentwicklung der Rahmenbedin-gungen der Altenpflege, um eine adäquate Versor-gung von Menschen mit schwerer Demenz in der Zu-kunft zu sichern. Sie fordern die Politik auf, die Rah-menbedingungen für die professionelle Altenpflegezu verbessern sowie das zivilgesellschaftliche Enga-gement in den Einrichtungen zu fördern und zu un-terstützen.

Zentrale Ergebnisse der StudieFür die Messung von Lebensqualität der Bewohnermit schwerer Demenz wurde das QUA-LID Instrument(Quality of Life in late stage Dementia) eingesetzt. Eshandelt sich dabei um ein Beobachtungsinstrument,welches von den Pflegenden - nach systematischerEinführung und Unterweisung - ausgefüllt wurde. ImErgebnis wurde die Lebensqualität der Bewohner inder Pflegeoase (geringfügig) höher eingeschätzt als inder Vergleichseinrichtung. Eine Vertiefung der Be-funde findet sich im qualitativen Teil der Studie. InGruppendiskussionen mit Angehörigen und Pflegen-

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den wurde umfassend analysiert, wie die Lebensqua-lität von BewohnerInnen mit schwerer Demenz beur-teilt wurde. Seitens der Pflegenden sind Mimik, Gestikund Geräusche, aber auch der Grad der Entspannungund das Nichtvorhandensein von Nervosität, Aggres-sivität oder herausforderndem Verhalten genanntworden. Seitens der Angehörigen gilt die ständigeAnwesenheit und Ansprechbarkeit der Pflegenden alswichtigstes Qualitätsmerkmal. Die Privatsphäre fürMenschen mit Demenz wurde als nicht so bedeutsambeurteilt. Entscheidend ist das Gefühl, dass die Be-wohner gut versorgt und nicht alleine sind.

Zur Einschätzung der Versorgung wurden die subjek-tiven Perspektiven der Pflegenden und der Angehöri-gen umfassend untersucht. Für die Pflegenden ergibt

sich mit der Pflegeoase ein Freiraum, der es ihnen er-laubt, ihre Arbeit weitgehend nach eigenen Prioritä-ten zu gestalten und dort am ehesten zu erfahren undzu realisieren, was „eigentlich“ Pflegearbeit bedeutet.Pflegende, die diese Herausforderung annehmenwollten und konnten, waren von der Pflegeoase über-zeugt und äußerten sich positiv. Den Vorteil der Pfle-geoase zur herkömmlichen Versorgung sehen die An-gehörigen in der Tatsache, dass der zu Pflegendenicht mehr alleine und isoliert im Einzelzimmer liegtund dass dadurch die Befindlichkeiten des Bewohnersbesser beobachtet und kontrolliert werden können.

Nach den Ergebnissen des Belastungsscreenings fürHumandienstlleistungen (BHD) liegt ein eindeutig ge-ringeres Belastungsniveau der MitarbeiterInnen in

Demenz-Report

Nach dem 65. Lebensjahr steigt die Wahrschein-lichkeit, an Alzheimer oder einer anderen Formvon Demenz zu erkranken. Die Alterung der Ge-sellschaft bringt es deshalb mit sich, dass der An-teil der Menschen mit Demenz an der Gesamtbe-völkerung steigt. In Deutschland liegt er heutebei etwas über 1.600 je 100.000 Einwohner. Erdürfte sich binnen der nächsten dreißig Jahreverdoppeln. Österreich und die Schweiz habendank anhaltender Zuwanderung noch etwas jün-gere Bevölkerungen. Doch auch in diesen beidenLändern schreitet die Alterung voran, nimmt alsoauch die Zahl der Menschen mit Demenz zu.Gleichzeitig wachsen immer weniger Junge nach.Es gibt also künftig weniger Menschen, die sichum die steigende Zahl demenziell Erkrankterkümmern können, ob als Kinder, Schwiegerkinderoder als professionell Pflegende.

Allerdings fällt diese Entwicklung regional sehrunterschiedlich aus. Im “Demenz-Report” legtdas Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwick-lung “Landkarten der Demenz” für Deutschland,Österreich und die Schweiz vor. Daraus lassensich für jede einzelne Region der heutige Stand(auf Grundlage der Daten von 2008) und die Pro-gnose für 2025 ablesen.

Warum regionale Demenz-Szenarien? Entschei-dungsträger in Kommunen, Kreisen, Kantonenoder Bezirken benötigen diese kleinräumigen

Daten, um planen und Vorkehrungen treffen zukönnen. Denn Demenz stellt Gesellschaft und Po-litik vor neue Herausforderungen. Diese sind ge-rade dort am größten, wo die Jungen abwandernund die zurückbleibenden Älteren zum Teil vonArmut bedroht sind. In solchen dünn besiedeltenLandstrichen ist es schwierig, eine angemessenemedizinische Versorgung aufrecht zu erhalten.Und wo die Kommunen heute schon Haushalts -probleme haben, werden sie in Zukunft deutlichweniger finanzielle Mittel zur Verfügung haben,um etwa Heimplätze und Pflegepersonal bereit-zustellen. Dies trifft vor allem auf den OstenDeutschlands zu. Es gilt aber, wenn auch noch ingeringerem Ausmaß, ebenfalls für die GebieteÖsterreichs, die entlang des ehemaligen EisernenVorhanges gelegen sind. Auch manche ländlichenRegionen am Alpenrand, deren Bewohner es indie großen Agglomerationen zieht, haben schonmit einer veränderten Bevölkerungszusammen-setzung zu kämpfen.

Wie können die Regionen der Herausforderungbegegnen? Ansätze dafür gibt es bereits: Der“Demenz-Report” gibt einen Überblick über Mo-delle und Initiativen, die zeigen, wie sich dieKommunen auf die Alterung der Gesellschaft ein-stellen können.

Weitere Informationen unter: www.berlin-institut.org/studien/demenz-report.html

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Gestaltungsmöglichkeitendes Wohnumfelds ältererMenschenIn einem Forschungsbericht des Gelsenkirche-ner Instituts Arbeit und Technik werden Pro-jekte beleuchtet, die mit Hilfe von Medizin-und Haustechnik ein Leben zu Hause auch beifortschreitenden gesundheitlichen Beein-trächtigungen ermöglichen.

Historisch betrachtet kann der „GesundheitsstandortHaushalt“ auf eine lange Tradition zurückblicken. Erstim Zuge eines flächendeckenden Ausbaus des medizi-nischen Systems mit Arztpraxen, Krankenhäusern undHospizen und der damit einhergehenden besseren in-frastrukturellen Verzahnung von Akteuren und Nut-zern hatte der Haushalt den Status als wichtigster Ort

der Krankheitsbewältigung und Gesunderhaltungnach und nach eingebüßt.

Die Etablierung von professionalisierten Gesundheits-standorten hat jedoch keineswegs zu einem vollstän-digen Bedeutungsverlust des privaten häuslichenUmfeldes geführt. Bis zur heutigen Zeit hat der pri-vate Haushalt stets als „Auffangbecken für die klei-nen Krankheiten des Alltags - von der leichten Verlet-zung über Erkältungen bis hin zur ernsten Grippe“ ge-dient. Darüber hinaus ist der Haushalt in Deutschlanddie mit Abstand wichtigste Pflegeinstanz: So wurdenetwa im Jahre 2007 insgesamt mehr als zwei Drittel(68%) der 2,25 Mio. pflegebedürftigen Menschen imheimischen Haushalt versorgt.

Homecare Seit Beginn der 1990er Jahre wird im Zusammenhangmit häuslicher Pflege zunehmend der Begriff „Home-care“ verwendet, jedoch ist dieser Begriff den IAT-Au-toren Wolfgang Paulus und Sascha Romanowski zu-

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der Pflegeoase vor. Dies gilt für nahezu alle inhaltli-chen Bereiche, die mit dem BHD erfasst werden:Emotionale Erschöpfung, intrinsische Motivation, Zu-friedenheit in der Arbeit, Aversion gegen Bewohne-rInnen oder reaktives Abschirmen. Dieser Befund

bleibt über die Erhebungszeit-punkte auf der Basis von Einzel-ergebnissen hinweg konstant,Differenzierungen nach Qualifi-kationsgrad der MitarbeiterIn-nen sind nur gering ausgeprägt.

Die zweijährige Studie wurde inKooperation mit zwei Einrich-tungen der Arbeiterwohlfahrt inRheinland-Pfalz durchgeführt.Der Endbericht umfasst nebenden Ergebnissen der Studie auchEmpfehlungen für Einrichtun-gen, die eine Pflegeoase imple-mentieren möchten, sowie Hin-weise zur Verantwortung vonGesellschaft und Politik. Ab-schlussbericht und Anlagen-bände können unter der Websitewww.pthv.de heruntergeladenwerden.

Quelle: Prof. Brandenburg: „Pflegeoase ist nichtgleich Pflegeoase“. Pressemitteilung der Philosphisch-Theologischen Hochschule Vallendar, 14.04.2011

Leben in der Pflegeoase. Foto: AWO Rheinland

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folge keineswegs mit der „Häuslichen Pflege“ gleich-zusetzen. Unter dem Sammelbegriff „Homecare“ wür-den vielmehr Formen einer professionalisierten„Häuslichen Pflege“ zusammengefasst. Grundsätzlichkönnten die angebotenen Leistungen auch pflegebe-dürftigen und älteren Menschen von Nutzen sein, je-doch zielt das Konzept mehr auf chronisch Krankeund auf die langfristige Nachversorgung derselben ab.Homecare versteht sich eher als eine Variante derhäuslichen „Therapie“ und grenzt sich somit von derhäuslichen Krankenpflege ab.

Perspektiven des GesundheitsstandortesHaushaltDie Struktur von privaten Haushalten war in den letz-ten hundert Jahren nicht nur speziell in der Funktionals Gesundheitsstandort starken Veränderungen un-terworfen, vielmehr hat sich die Zusammensetzungder Haushalte selbst gewandelt, insbesondere hin-sichtlich der Anzahl der Haushaltsmitglieder: Dieklassische „Großfamilie“ spielt innerhalb der Indu-striestaaten kaum noch eine Rolle, Partnerschaftendauern durchschnittlich weniger lang an und neue,alternative Formen des zwischenmenschlichen Zu-sammenlebens etablieren sich und gewinnen gesell-schaftliche Akzeptanz.

Die Großfamilie mit fünf und mehr Haushaltsmitglie-dern war noch Anfang des letzten Jahrhunderts derdominierende Familientyp (44% aller Haushalte),tritt aber in der heutigen Zeit nur noch als Rander-scheinung (4%) auf. Analog zum Bedeutungsverslustder Großfamilien haben Singlehaushalte gesell-schaftlich signifikant an Gewicht gewonnen, insbe-sondere in urbanen Regionen. Zu Beginn des 20.Jahrhunderts waren Einpersonenhaushalte noch eineRanderscheinung. 1950 wurde bereits in 20 Prozentaller Haushalte das Leben alleine bestritten und imJahr 2003 in 37 Prozent, zitieren Paulus und Roma-nowski den Datenreport 2004 des Deutschen Stati-stischen Bundesamts.

Bedingt durch den demografischen Wandel sind ge-rade die genannten Singlehaushalte stark durch äl-tere Menschen geprägt: Von den rund 13,8 MillionenEin-Personen-Haushalten waren im Mai 2003 knappzwei Fünftel (38%) in der Altersgruppe 65 Jahre undmehr und gut ein Fünftel (22%) in der Gruppe 75+ zufinden. Insgesamt sind die Haushalte in Deutschlandaber nicht nur kleiner und älter geworden, allge-mein lässt sich eine zunehmende Instabilität diagno-stizieren. Die steigende Scheidungshäufigkeit dient indiesem Kontext als wichtiger Indikator. So standenbeispielsweise in Deutschland im Jahr 2003 383.000

geschlossenen Ehen 214.000 geschiedene gegenüber,die Wahrscheinlichkeit einer Scheidung liegt gegen-wärtig bei 42 Prozent.

Obwohl die „traditionelle“ (Groß-)Familie scheinbarkeine gewichtige Rolle mehr spielt, sind feste Bindun-gen zwischen den verschiedenen Generationen kei-neswegs völlig abhanden gekommen. Die Ebenen derfamiliären Bindungen haben sich weniger sozial, son-dern vielmehr räumlich verschoben. Bedingt durchden Fortschritt der IuK-Medien und die damit einher-gehende Auflösung von räumlichen Distanzen könnenheutzutage soziale Kontakte auch über größere Ent-fernungen gepflegt werden. Laut IAT-Bericht über-wiegt nunmehr die sogenannte „multilokale Mehrge-nerationenfamilie“: Obwohl der größte Teil der Er-wachsenen nicht in einer Wohnung lebt, wird hiertrotzdem ein intensiver Austausch zwischen den Ge-nerationen gepflogen und die intergenerationalenVerhältnisse sind von einer engen emotionalen Ver-bundenheit, häufigen Kontakten und von vielfältigenUnterstützungsleistungen geprägt.

Vor dem skizzierten Hintergrund sehen Paulus undRomanowski folgende Perspektiven für die Zukunftdes Gesundheitsstandortes Haushalt:

� Der fortschreitende Wertewandel lässt das Inte-resse an einem gesunden Lebenswandel undsomit an Gesundheits-Selbsthilfe steigen. DerFortschritt im Bereich der IuK-Medien und diedamit einhergehenden neuen Optionen im Be-reich der Gesundheitskommunikation (etwa deröffentliche Zugang zu medizinischem Fachwissen)unterstützen diesen Trend.

� Der durch den demografischen Wandel bedingtestark steigende Pflegebedarf insbesondere ältererPersonen ist ohne das Engagement innerhalb derprivaten Haushalte kaum zu bewältigen. Zwarkönnen Kontakte auch über größere räumlicheDistanzen hinweg gehalten werden, naheste-hende Personen können aber meist nur als „Koor-dinatoren“ zwischen professionell geschulten In-stanzen fungieren. Die Bedeutsamkeit von ambu-lanten Pflegediensten wird weiter zunehmen.

� Eine Verkürzung von Liegezeiten in Akut- und Re-hakrankenhäusern führt dazu, dass Patientenzwar schneller, aber nicht unbedingt vollständiggesund in ihre Wohnungen entlassen werden.Somit steigt parallel zu den kürzeren Kranken-hausaufenthalten der Bedarf an einer anschlie-ßenden medizinischen Versorgung.

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� Der medizintechnische Fortschritt ermöglichtzwar, alters- und krankheitsbedingte Defizite zubeheben oder abzuschwächen (z.B. Heimdialysen),zieht aber gleichzeitig einen gesteigerten Bedarfan professioneller Wartung von Geräten bzw.Überwachung von (Vital-)Parametern nach sich.Dies führt zu einer gesteigerten Bedeutung vontelemedizinischen Lösungen.

Maßnahmen zur Vergrößerung der Leistungs-fähigkeit des Gesundheitsstandorts Eine gewichtige Herausforderung wird auch die Ent-wicklung neuer und innovativer Wohn- und Betreu-ungsformen darstellen. Dabei spielen zwar auchzwangsläufig technische Innovationen eine Rolle,doch sollten Aspekte wie die Reorganisation von pfle-gerischen und ärztlichen Tätigkeiten im Haushaltnicht unberücksichtigt bleiben, meinen Paulus undRomanowski. Sie beschreiben zunächst zwei sozialeund im Anschluss technische Maßnahmen, welche dieLeistungsfähigkeit des Gesundheitsstandorts Haus-halt erhöhen. Abschließend wird ein holistisches Pro-jekt vorgestellt.

Bielefelder Modell Das von der Bielefelder Gemeinnützigen Wohnungs-gesellschaft mbh (BGW) entwickelte Bielefelder Mo-dell will den MieterInnen auch bei steigender Hilf-ebedürftigkeit das Wohnen in modernen und komfor-tablen eigenen Wohnungen im vertrauten Umfeld er-möglichen sowie integratives Wohnen in den Projek-ten und im Umfeld möglich machen – für ältere Men-schen, für Behinderte, für Menschen mit geringemund hohem Hilfebedarf sowie für Demenzkranke. DesWeiteren wird eine 24-stündige Versorgungssicher-heit für die MieterInnen und das Wohnumfeld garan-tiert, ohne dass eine Betreuungspauschale anfällt.Durch eine frühzeitige Unterstützung sollen dieSelbsthilfefähigkeiten der pflegebedürftigen Men-schen und ihres Umfeldes gestärkt werden.

Um die erfolgreiche Umsetzung des „Bielefelder Mo-dells“ zu gewährleisten, ist der BGW auf die Zusam-menarbeit mit Akteuren speziell aus dem Bereich derambulanten Pflegedienste angewiesen. Die Koopera-tion betrifft folgende Punkte:

1. Hilfe und Pflege: In der Seniorenwohnanlage kön-nen auch schwerst pflegebedürftige Menschenwohnen. Sämtliche Hilfe- und Pflegeleistungenkönnen von den MieterInnen der Wohnanlage imBedarfsfall in Anspruch genommen werden.

2. Regelmäßige Beratungsangebote im Haus: Ge-schulte MitarbeiterInnen bieten eine regelmäßige

Beratung an: Gesundheitsberatung, Informatio-nen über Hausnotrufsysteme oder Unterstützungbei der Antragstellung bei verschiedenen Kosten-trägern.

3. Unterstützung von Selbsthilfeaktivitäten: Um die„Hilfe zur Selbsthilfe“ zu fördern, stehen zahlrei-che Freizeit- und Fitnessangebote zur Verfügung.

4. Begegnung der Generationen: Kulturfeste und ge-meinschaftliche Feierlichkeiten fördern einenregen Austausch mit der Nachbarschaft und beu-gen so potenzieller Vereinsamung vor. Ein Pflege-dienst übernimmt hierbei die Koordination.

5. Beratung von Angehörigen und Freunden: Durchgezielte Schulung von Angehörigen und Freun-den soll die Hilfe durch das nahe Umfeld ge-stärkt werden.

6. Wählbarer Hausnotrufdienst:Mehrere Einrichtun-gen in Bielefeld bieten optional einen Hausnot-rufdienst an, der im Notfall einen Kontakt zwi-schen MieterInnen und Pflegedienst herstellenkann.

7. Vermittlung von Hauswirtschafts- und Pflegedien-sten: Die WG-BewohnerInnen des „BielefelderModells“ haben bei allen Dienstleistungen völligeWahlfreiheit. Jeder gewünschte Hauswirtschafts-und Pflegedienst kann bei Bedarf in Anspruch ge-nommen werden.

8. Multikulturelle Seniorenhilfe: Es werden die Wün-sche und Belange bei unterschiedlicher kulturel-ler, religiöser und ethnischer Herkunft ausrei-chend geachtet und gewürdigt.

9. Förderung der Selbsthilfe und der Dienstleistungs-vielfalt: Man ist bestrebt, Leistungen im Rahmender Vereinbarung nicht pauschal zu gewähren,sondern bedarfsgerecht im Einzelfall zu organisie-ren und zu vergüten.

Bis spätestens 2012 versucht die BGW in allen Biele-felder Stadtteilen mit dem Angebot des „BielefelderModells“ vertreten zu sein. Sie wird dabei weiterhinmit unterschiedlichen Kooperationspartnern zusam-menarbeiten, um so eine möglichst große Vielfalt anDienstleistungen zu gewährleisten.

SONG – Soziales neu gestalten Das Netzwerk „Soziales neu gestalten“ (SONG) be-zeichnet einen Zusammenschluss mehrerer Akteure inder Sozialwirtschaft, deren „gemeinsames Fundamentihr Engagement für das Gemeinwohl und der Wille,die Herausforderungen und Chancen des demogra-phischen Wandels aktiv zu gestalten“, bildet. Partnerdes Netzwerkes sind die Bank für Sozialwirtschaft, die

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Bertelsmann Stiftung, die Bremer Heimstiftung, dieCaritas-Betriebsführungs- und TrägergesellschaftmbH, das Evangelische Johanneswerk e.V. und dieStiftung Liebenau.

Das Netzwerk fordert ein radikales Umdenken allerBeteiligten: Bund, Länder, Gemeinden, Sozialversiche-rungsträger, Dienstleistungsanbieter, Investoren, Fi-nanziers und BürgerInnen sind gefordert, Verände-rungen auf der Handlungsebene des sozialen Mitein-anders vorzunehmen und auf der Strukturebene vonDiensten und Einrichtungen sowie der baulichen In-frastruktur neue Wege zu beschreiten. In den Augendes SONG-Netzwerkes muss der geradezu „wild-wüchsige“ Neubau isolierter Pflegeeinrichtungen un-terbunden werden; vielmehr sollten lokale und ge-meinwesenorientierte Versorgungsangebote geför-dert werden, um so generationenübergreifende,kleinräumige Unterstützungsstrukturen zu schaffen.Dies fördere die Eigenverantwortung und Solidaritätder Menschen vor Ort.

Die aus der steigenden Hilfs- und Pflegebedürftigkeitresultierenden gesellschaftlichen Herausforderungenversuchen die SONG-Partner in alltagsnahen Wohn-modellen zu bewältigen. Diese Modelle bieten denBewohnerInnen barrierefreie Wohnungen verschiede-ner Größenordnungen in Wohnanlagen, die in den je-weiligen Stadtteil integriert sind und vielfältige Be-gegnungsmöglichkeiten bereitstellen, auch über dieGenerationen hinweg. Ähnlich dem „Bielefelder Mo-dell“ kommt auch bei SONG dem Grundsatz „Hilfe zurSelbsthilfe“ eine Schlüsselposition zu. Paulus und Ro-manowski fassen die gemeinsamen Zielvorgaben derSONG-Modellprojekte wie folgt zusammen:

� Stärkung von Eigenverantwortung und Eigenini-tiative

� Förderung von sozialen Netzen und neuen Formendes Hilfemix

� Entwicklung neuer lokaler Kooperationsformenund Interessensgemeinschaften durch Gemeinwe-senarbeit

� Gestaltung neuer Pflegearrangements im Quartier

� Mobilisierung erhöhter nachbarschaftlicher Hilfe

Das Netzwerk SONG betont die Bedeutung des Sub-sidiaritätsprinzips für die zukünftige gesellschaftli-che Orientierung. Grundsätzliche sozialstaatlicheGarantiefunktionen sollen dabei nicht zurückgenom-men, jedoch neu justiert werden, insbesondere wasdie Zuständigkeiten in Pflege und Betreuung, die Zu-gangsregelungen zu Sozialleistungen sowie ihreRealisierung vor Ort sowie allgemein die Prinzipien

der Verteilungs- und individuellen Bedarfsgerechtig-keit betrifft.

Auch wenn die Mitglieder des Netzwerkes von einermittelfristig deutlichen Abnahme des „informellen“Pflegepotenzials innerhalb von Familien und Partner-schaften ausgehen, schätzen sie die Bereitschaft zurSolidarität insgesamt als sehr hoch ein. Diese befindesich allerdings im Umbruch. Die Kommunen seiendeshalb gefordert, engagementfördernde Rahmenbe-dingungen zu schaffen und nachhaltig zu etablieren:„Eine ‚kommunale Engagementlandschaft’ ist durcheine flächendeckende Struktur lokaler Anlaufstellengeprägt, die zielgerichtet freiwilliges Engagement imQuartier fördert und unterstützt,“ so das Positionspa-pier des Netzwerks. Regionale Kompetenzstrukturenund Förderinstrumente auf Landesebene könnteneinen wesentlichen Beitrag hierzu leisten.“

Das SONG-Netzwerk kritisiert die derzeit im Pflege-sektor dominierenden zentralen Institutionen, da siedie lokale Steuerungsfähigkeit und –bereitschaft zustark einschränken würden. In den Augen von SONGstellt die Entwicklung einer bedarfsorientiertenWohn infrastruktur und Pflege- bzw. Assistenzland-schaft eine zentrale Aufgabe der kommunalen Da-seinsvorsorge dar und muss daher vor allem auf loka-ler Ebene gestaltbar sein.

Technische Maßnahmen Der technologische Fortschritt, speziell im Bereich derInformations- und Kommunikationsmedien, spieltzweifellos eine tragende Rolle, um die Effektivität desprivaten Haushaltes als Gesundheitsstandort nach-haltig zu steigern. Speziell bei der nachhaltigen Ver-sorgung von chronisch Kranken oder bei bestimmtenFormen der im Abschnitt Homecare angesprochenen„häuslichen Therapien“ ist Telemedizin ein wichtigerund integraler Bestandteil.

In der Telemedizin werden Informations- und Kom-munikationstechnik eingesetzt, um größere räumli-che Distanzen zwischen beteiligten Akteuren im Ge-sundheitswesen zu überbrücken. Dies kann sich aufFachleute beschränken, kann aber auch die direkteTherapie eines Patienten unterstützen. In jüngererZeit wird synonym zu Telemedizin auch von „E-Health“ gesprochen. Meist fungiert „E-Health“ aberals Sammelgriff für das Zusammentreffen von Medi-zin und moderner, digitaler Informationstechnik

„Ambient Assisted Living“ (AAL) ist ein aktueller Be-griff, der speziell in der Diskussion um „intelligenteHäuser“ häufig mit Telemedizin in einem Atemzuggenannt wird. Solche „intelligenten“ Häuser oder

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Wohnungen sollen durch eine technische Automati-sierung des Haushaltes alten und kranken Menschenein selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wän-den ermöglichen. Sie versorgen, überwachen und be-schützen ihre BewohnerInnen mit Hilfe technischerAssistenzsysteme. Im Gegensatz zu Telemedizin undE-Health steht beim Ambient Assisted Living aus -schließlich der private Haushalt im Mittelpunkt.

Die Debatte um den Einsatz solcher Techniken in pri-vaten Haushalten ist aber grundsätzlich nicht neu undkeineswegs exklusiv an die „Neuen Medien“ geknüpft.Vor dem Hintergrund technisch immer weiter voran-schreitender telemedizinischer Produkte und Dienst-leistungen werden die frühen Anwendungen der er-sten Generation („1st Generation Telecare“) zugeord-net, wohingegen aktuelle Innovationen in diesem Be-reich bereits Produkte der dritten Generation reprä-sentieren.

Als Beispiel einer solchen Technikanwendung der er-sten Generation führt der IAT-Bericht die verschiede-nen Hausnotrufsysteme (Social Alarms) an, die seitJahrzehnten erfolgreich am GesundheitsstandortHaushalt eingesetzt werden. Die technische und or-ganisatorische Entwicklung dieses Systems begann inDeutschland bereits in den 1970er Jahren. Die damalsformulierte Zielsetzung der Hausnotrufsysteme, näm-lich älteren Menschen, chronisch Kranken und In-farktpatientInnen einen Weg zu eröffnen, so langeund so sicher wie möglich in ihrer vertrauten Umge-bung verbleiben zu können, könnte Paulus und Ro-manowski zufolge auch einer aktuellen Debatte zumThema „AAL“ und „E-Health“ entnommen sein. ImLaufe der Zeit haben sich die Hausnotruf-Systemedeutschlandweit etabliert. Obwohl Produkte der er-sten Generation bereits seit geraumer Zeit zur Verfü-gung stehen, ist allerdings der Durchdringungsgradsolcher Dienste auf europäischer Ebene teilweisedeutlich niedriger als in der Bundesrepublik. Von einerflächendeckenden Versorgung auf europäischerEbene kann also selbst bei den vermeintlich etablier-ten telemedizinischen Diensten der ersten Generationnicht gesprochen werden. Erweitert man diese Per-spektive um Regionen außerhalb Europas, wird deut-lich, dass die Telemedizin – speziell die der jüngeren,dritten Generation – in vielen Ländern weit von einerRegelimplementierung entfernt ist.

Die IAT-Autoren merken insofern kritisch an, dass dieTelemedizin trotz ihrer zahlreichen und vielverspre-chenden Ansätze als tragende Säule einer zukünftigenPflege- und Gesundheitsarchitektur immer noch zusehr vernachlässigt wird. Als entscheidenden Grund

hierfür sehen sie die Technik-Fixierung der For-schungs- und Entwicklungslandschaft. Denn funktio-nierende und rentable telemedizinische Produktekönnten nur sehr selten „für sich allein“ funktionieren,vielmehr sollten sie Teil einer medizinisch, technischund vor allem sozial geprägten Infrastruktur sein.

Ein Beispiel für ein holistisches Projekt Paulus und Romanowski beschreiben abschließenddas holistisch ausgerichtete Projekt „Technisch-so-ziales Ambient Assisted Living in Kaiserslautern“. ZuProjektbeginn erfolgte der Neubau eines Einfamilien-hauses und eines Mehrfamilienhauses mit 16 Zwei-und zwei Dreiraumwohnungen. Die Wohnungen sindbarrierefrei konstruiert, die Bäder behindertenge-recht. Das Mehrfamilienhaus hat trotz seiner gerin-gen Anzahl von drei Geschossen einen Fahrstuhl. DieWohnungen liegen in unmittelbarer Nähe zumStadtzentrum von Kaiserslautern; eine Apotheke,mehrere Arztpraxen, Einkaufsmöglichkeiten und einPark befinden sich ebenfalls in der näheren Umge-bung. In der Wohnanlage lebten im Februar 2008 ins-gesamt 26 Menschen in 18 Haushalten: eine jüngereFamilie mit drei Kindern, vier Paarhaushalte und 13Alleinwohnende. Fünf MieterInnen waren 60 Jahreoder jünger (ohne Kinder), vier 80 Jahre oder älter.

In den Wohnungen wurden zahlreiche technischeKomponenten installiert. Die Wohnungen verfügenüber Sensoren, die Türen, Fenster, Lampen usw. über-wachen. Eine Kamera erlaubt es, den Eingangsbereichder Wohnung zu überwachen. Zentrale Steuerungs-und Bedienungseinheit ist der „Persönliche Assistentfür Unterstütztes Leben“ - kurz PAUL. Dabei handeltes sich um einen TouchScreen-PC.

Mit der beschriebenen Ausstattung können eineReihe von Komforts-, Gesundheits- und Sicherheits-funktionen abgedeckt werden: Die elektrischenRollläden können über Schalter an der Wand oderPAUL bedient werden, auch gibt es die Möglichkeit,mittels eines Knopfdrucks alle Lichter und Rolllädenin der Wohnung gleichzeitig zu bedienen. PAUL bietetaußerdem verschiedene Kommunikations- und Unter-haltungsmöglichkeiten: Man kann einige Internetsei-ten aufrufen und bei ausgewählten Sendern Ra-diohören oder die Weckfunktion nutzen.

Potenzielle Gefahrenquellen wie Herd oder Bügelei-sen werden automatisch ausgeschaltet, wenn manbei Verlassen der Wohnung den zentralen Aus-Schal-ter benutzt. Die Steckdosen für diese Geräte sind,ebenso wie der Schalter, rot. Graue Steckdosen fürunbedenkliche Geräte wie Fernseher oder Stereoan-

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lage sind grau und werden durch den Schalter nichtstromlos geschaltet. Offene Fenster werden durch einrotes Lämpchen angezeigt, wenn ein Mieter die Woh-nung verlässt. Der Eingang in das Gebäude ist miteiner Kamera ausgestattet, die ein Bild von den Besu-chern auf PAUL überträgt. Wenn es klingelt, kannman den Besucher sehen, mit ihm sprechen und dieTür öffnen. PAUL kann auch im Schlafzimmer ange-schlossen werden, sodass es möglich ist, vom Bett ausmit jemandem zu sprechen, der geklingelt hat, unddie Haustür zu öffnen.

Diese Funktionen können über die standardmäßig im-plementierte Automatisierungstechnik in Kombina-tion mit PAUL problemlos abgedeckt werden. Im Ge-sundheitsbereich hingegen werden in der Regel be-sondere Geräte benötigt, wie etwa Sturzdetektorenoder Armbänder, die Puls, Körpertemperatur oderBlutdruck messen. Ein Nachteil dieser Geräte liegtdarin, dass sie ihre Funktion nicht erfüllen, wenn derältere Mensch sie nicht angelegt hat. In Kaiserslau-tern wird daher angestrebt, auch den Gesundheits-status einer Person über die Sensortechnik zu über-wachen (Inaktivitätsmonitoring). Durch die Informa-tionen, die die Sensoren sammeln, soll ein Profil dertäglichen Zeiten von Inaktivitäten für jede/n MieterInerstellt werden. Wenn der Mieter oder die Mieterin zuHause ist, die Bewegungsmelder seit mehreren Stun-den keine Bewegung erkannt haben, obwohl norma-lerweise zu dieser Zeit Aktivitäten stattfinden, könntedies auf einen Sturz hinweisen. PAUL kann in einemsolchen Fall nach einem individuell abgestuften Not-rufkonzept Hilfe rufen (Ruf in die Wohnung selbst,dann Nachbarn, Angehörige, Serviceeinrichtungen).

Der von Paulus und Romanowski rezipierte Projektbe-richt von Spellerberg et al (2009) kommt zu demSchluss, dass die Wohnzufriedenheit in der Wohnan-lage sehr hoch ist. Die Wohnzufriedenheit wird je-doch in erster Linie auf die Barrierefreiheit der Woh-nungen, die hohe Bauqualität, die gute Infrastrukturund die gute Nachbarschaft zurückgeführt. Die tech-nischen AAL-Komponenten dürften eher eine Neben-rolle spielen.

Fazit Die beiden IAT-Autoren plädieren resümierend bei derWohnumfeldgestaltung für Ältere für ein holistischesVorgehen, ähnlich dem soeben dargestellten. Ihres Er-achtens muss die Fokussierung auf die Bedürfnisseund Wünsche der Älteren zum Ausgangspunkt allerSystementwicklung und Einsatzplanung gemachtwerden. Eine sozialwissenschaftliche Begleitfor-schung reicht ihrer Ansicht nach nicht aus: „Die Er-forschung der Bedürfnisse und Wünsche der Endan-wender gehört an den Anfang der Entwicklung tech-nischer Systeme, die immer in Kombination mit so-zialen Maßnahmen eingesetzt werden sollten.“

Quellen: Wolfgang Paulus, Sascha Romanowski: VonRobotern und Nachbarn. Gestaltungsmöglichkeitender Wohnumwelt älterer Menschen. Forschung aktu-ell 05/2010; Claudia Braczko: Wohnen für ältereMenschen. Mit Technik im sozialen Umfeld – IAT zuden Gestaltungsmöglichkeiten der Wohnumwelt fürSenioren. Pressemitteilung des Institut Arbeit undTechnik, 07.05.2010

Schwarzbuch Arbeitswelt

„In der Wirtschaftskrise ist die Gangart der Un-ternehmen erneut härter geworden. Die Rechteder Beschäftigten wurden und werden häufig ig-noriert“, konstatiert AKOÖ-Präsident Johann Kal-liauer. Allein im Jahr 2010 haben die Arbeits-rechtsexpertInnen der AK Ober österreich rund235.000 Beratungen geleistet. Unter den Bran-chen waren Arbeitskräfteüberlassung, Gastrono-mie, Transport, Reinigung und Bauwirtschaft be-sonders stark vertreten.

Die AK Oberösterreich hat ihre Mitglieder im Vor-jahr in rund 18.500 Fällen kostenlos vertreten.Dabei konnte für die Beschäftigten eine Rekord-

summe von 107 Millionen Euro erkämpft werden.Diese Zahlen machen deutlich, dass viele Unter-nehmen geltende Gesetze und Verträge nichtimmer einhalten. Das neue Schwarzbuch Arbeits-welt dokumentiert eine Reihe aktueller Fälle. SeinZiel ist die Bewusstseinsbildung. „Wer die Rechtevon Beschäftigten verletzt, handelt verantwor-tungslos, weil er wirtschaftlich AbhängigenSchaden zufügt. Schaden, der manchmal sogarExistenzen gefährdet“, stellt Kalliauer fest.

Das Schwarzbuch Arbeitswelt ist downloadbarunter: http://www.ak-konsumenteninfo.at/ undkann auch telefonisch unter der Rufnummer050 6906 444 bestellt werden.

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24-Stunden-Betreuungzwischen Legalität undLeistbarkeitIn ihrer Bachelorarbeit befasst sich SonjaMatzinger mit der staatlichen Förderung derhäuslichen 24-Stunden-Betreuung. Nachste-hend eine Zusammenfassung der Ergebnisse.

Oftmals kann die öffentliche Versorgung keine be-darfsgerechte und der Idealvorstellung des Einzelnenentsprechende Pflegeversorgung leisten. Insbeson-dere in diesen Fällen wird auf eine 24-Stunden-Be-treuung zurückgegriffen, sofern keine pflegenden An-gehörigen oder ehrenamtlichen Nachbarschaftshilfenzur Verfügung stehen.

In Österreich gibt es rund 420.000 Pflegegeldbeziehe-rInnen. 17 Prozent davon, das sind 70.000 Menschen,sind stationär in Alten- und Pflegeheimen unterge-bracht. Der überwiegende Teil der Pflegebedürftigen(83%) erhält Unterstützung und Hilfeleistungen imfamiliären Umfeld und wird zuhause betreut. Etwa15.000 Personen, das sind 4 Prozent der häuslich be-treuten Menschen, werden im Rahmen einer 24-Stunden-Betreuung durch Pflegekräfte versorgt (vgl.Bundesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrt, 2011).

Eine legale Anstellung häuslicher Rund-um-die-Uhr-Betreuung ist in Österreich erst seit 2007 möglich.Die Regierung schaffte in einem Legalisierungspro-zess arbeits- und sozialrechtliche Standards für dievorwiegend (weiblichen) ausländischen Pflege- undBetreuungskräfte in Privathaushalten. So trat ineinem ersten Schritt das neu geschaffene Hausbe-treuungsgesetz (HBeG) mit 1. Juli 2007 in Kraft, worindie Grundlage für die häusliche 24-Stunden-Betreu-ung mit überlangen Arbeitszeiten festgelegt wurde.Gleichzeitig mit der Einführung des HBeG wurde dasGewerberecht (GewO) aus 1994 novelliert und dasfreie Gewerbe der Personenbetreuung geschaffen. Dadie Einbindung der Pflegekräfte in die Sozialversiche-rung mit beträchtlichen Mehrkosten für die Pflegebe-dürftigen verbunden ist, wurden finanzielle Förder-modelle entwickelt, die diese zusätzlichen finanziel-len Lasten auffangen sollten. Aus diesem Grundwurde die Höhe der finanziellen Förderung analog zuden Sozialversicherungsabgaben konzipiert unddavon abhängig gemacht, ob die Pflegekräfte un-selbstständig oder selbstständig tätig sind (vgl.BMASK, 2009).

Wurde das Fördermodell der häuslichen24-Stunden-Betreuung als eine Adaptierungfür alle Einkommensschichten konzipiert? Die Höhe der finanziellen Aufwendungen für eine le-gale Rund-um-die-Uhr-Betreuung richtet sich nachdem Beschäftigungsverhältnis. Pflegebedürftige Per-sonen werden bei unselbstständigen Betreuungskräf-ten zu ArbeitgeberInnen, mit all den administrativenund rechtlichen Pflichten und Abgaben. Bei selbst-ständig tätigen PersonenbetreuerInnen hingegenwerden Pflegebedürftige lediglich zu AuftraggeberIn-nen, wobei der administrative Aufwand geringer istund für die sozialversicherungsrechtlichen Abgabendie AuftragnehmerInnen selbst zuständig sind. Pfle-gebedürftige, die keinen behördlichen Aufwand be-treiben möchten, können gegen zusätzliches Entgeltdie Dienste von Vermittlungsagenturen in Anspruchnehmen. Als Serviceleistung bieten auch großeTräger organisationen wie beispielsweise Caritas,Volkshilfe und Hilfswerk die Vermittlung von Betreu-ungs- und Pflegepersonal an, allerdings in einem ge-ringen Ausmaß. 90 Prozent der selbstständigen Per-sonenbetreuerInnen, die vorwiegend aus EU-Nach-barstaaten stammen, werden von spezialisiertenAgenturen, wie beispielsweise dem „StiftungsfondSüdböhmische Volkspflege“, vermittelt (vgl. IWAK,2011).

Welches Anstellungsmodell ist nach Abzug derfinanziellen Förderung für Privathaushalte amkostengünstigsten? Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse der durchgeführtenVergleichsberechnungen von unselbstständig undselbstständig tätigen Betreuungskräften sowie dieunterschiedlichen Kosten bei einer Vermittlung durchgemeinnützige Agenturen. Die Berechnungen sindauf Basis monatlicher Kosten (zwei Betreuungskräftemit Mindestlohn) nach Abzug der finanziellen Förder-möglichkeiten ausgelegt.

Für die Entlohnungsberechnung der unselbstständi-gen Betreuungspersonen in einem Arbeitsverhältnis(AV) wurde der oberösterreichische Mindestlohntariffür Kranken- und Altenbetreuung mit Hausgemein-schaft (Lohngruppe 6) nach dem Hausgehilfen- undHausangestelltengesetz herangezogen. Das Tagesho-norar für selbstständige PersonenbetreuerInnen (PB)wurde analog dazu errechnet und beträgt 62 Euro(vgl. OÖ GKK, 2011).

Die unterschiedlichen Beitragssätze der Vermitt-lungsvereine wurden den jeweiligen Websites ent-nommen und auf Basis der jeweils vorgeschriebenenMindesthonorare für die Vermittlung von zwei selbst-

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ständigen PersonenbetreuerInnen errechnet (vgl.Oberösterreichisches Hilfswerk, Rundum Zuhause be-treut, Stiftungsfond Südböhmische Volkspflege, 24Stunden Personenbetreuung GmbH).

Um eine möglichst gute Vergleichsmöglichkeit zuschaffen, wurde bei den monatlichen Kosten auch derSachbezugswert für Kost und Quartier in Höhe vonrund 196 Euro berücksichtigt, welcher üblicherweiseals Naturalleistung von der zu pflegenden Person zurVerfügung gestellt wird (vgl. BMASK, 2009).

Wie aus der Darstellung deutlich erkennbar ist, ist diekostenintensivste Variante die Anstellung zweier un-selbstständiger Betreuungskräfte. In den monatlichenPflegekosten von 2.140 Euro sind Sozialversiche-rungs- und Dienstgeberbeiträge in Höhe von 702 Euroenthalten, wobei diese mit 1.100 Euro monatlich ge-fördert werden.

Eine wesentlich kostengünstigere legale Variantestellt die eigenständige Rekrutierung von zwei selbst-ständigen PersonenbetreuerInnen auf Werkvertrags-basis dar. Die monatlichen Kosten bei einem Tagesho-norar von 62 Euro belaufen sich auf 1.786 Euro, so-fern die Sozialversicherungsbeiträge der Betreuungs-kräfte (rund 280 Euro) von den AuftraggeberInnenübernommen werden. Der höchstmögliche finanzielle

Zuschuss bei zwei Werkverträgen beträgt 550 Europro Monat, unabhängig davon, ob die Auftraggebe-rInnen die Fördersumme für die Übernahme derGSVG-Beiträge der PersonenbetreuerInnen verwen-den oder nicht.

Bei Vermittlung von selbstständigen 24-Stunden-Be-treuungskräften durch Agenturen entstehen monatli-che Pflegekosten zwischen 1.553 und 2.092 Euro proMonat, unter Bezugnahme auf die von den Organisa-tionen vorgeschriebenen Mindesthonorare von 50 bis70 Euro pro Tag. Eine Vermittlung durch den Stif-tungsfond Südböhmischer Volkspflege ist um rund233 Euro kostengünstiger, als selbstständige Perso-nenbetreuerInnen eigenständig als AuftraggeberIn zubeschäftigen. Hier muss allerdings angemerkt wer-den, dass obige Berechnung auf Basis des Mindestta-geshonorars der Agentur in Höhe von 50 Euro er-folgte. Wird die Berechnung mit einem Tageslohn von62 Euro durchgeführt, ergeben sich Kosten von rund1.913 Euro pro Monat.

Fazit Das finanzielle Fördermodell der 24-Stunden-Betreu-ung ist ohne Zweifel ein wichtiger Schritt, der zur Le-galisierung eines nicht den rechtlichen Bestimmun-gen entsprechenden Arbeitsbereichs beigetragen hat.

Tabelle 1: Kostenvergleichsberechnungen für zwei 24-Stunden-Betreuungskräfte in

unterschiedlichen Anstellungsverhältnissen

Vermittlungsagenturen Unselbst-

ständige Dienst-

nehmerInnen

Selbst-ständige

Personen-betreuerIn-

nen

Rundum Zuhause betreut (Caritas)

OÖ Hilfswerk

24 Std. Pers.betr.

GmbH (Volkshilfe)

Stiftungsfd. Südböhm.

Volkspflege

Summe Löhne und Sachbezug

! 2.538,-- ! 2.056,-- ! 2.332,-- ! 2.344,-- ! 2.362,-- ! 1.813,--

Summe SV und DG Beiträge

! 702,-- ---------- ---------- ---------- ---------- ----------

GSVG-Beiträge

---------- ! 280,-- ! 280,-- ! 280,-- ! 280,-- ! 290,--

Pflege-kosten gesamt

! 3.240,-- ! 2.336,-- ! 2.612,-- ! 2.624,-- ! 2.642,-- ! 2.103,--

abzüglich Förderung

- ! 1.100,-- - ! 550,-- - ! 550,-- - ! 550,-- - ! 550,-- - ! 550,--

Monatl. Pflege-kosten nach

Förderung

! 2.140,-- ! 1.786,-- ! 2.062,-- ! 2.074,-- ! 2.092,-- ! 1.553,--

Eigene Berechnungen (Beträge pro Monat, auf Ganze gerundet)

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Freiheitsbeschränkungendank SturzpräventionreduziertDie Arbeit der IfS-Bewohnervertretung inVorarlberg zeigt Erfolge: 2010 ist die Zahl derBewohnerInnen mit Freiheitsbeschränkungenin Pflegeheimen um elf Prozent gegenüberdem Vorjahr stark gesunken. Diesen erfreuli-chen Rückgang führt Herbert Spiess, Leiterder IfS-Bewohnervertretung, darauf zurück,dass in immer mehr Heimen Sturzpräven-tionsprogramme durchgeführt werden, dieFreiheitsbeschränkungen tendenziell über-flüssig machen.

Anfang Februar dieses Jahres präsentierte die IfS-Be-wohnervertretung den Jahresbericht 2010. Insgesamtwurden im vergangenen Jahr 1.319 Klientinnen undKlienten rechtlich vertreten, die in Pflegeheimen, Be-hinderteneinrichtungen und Krankenanstalten bei-spielsweise durch Bettgitter, Gurte, Alarmsysteme

oder medikamentöse Sedierung in ihrer Bewegungs-freiheit beschränkt waren.

Im Jahr zuvor stieg die Zahl der Freiheitsbeschrän-kungen in Krankenanstalten mit +16 Prozent starkund in Einrichtungen für Menschen mit Behinderun-gen mit +45 Prozent sogar sehr stark an. “Diese Zu-nahme ist mit dem steigenden Bekanntheitsgrad desHeimaufenthaltsgesetzes und der damit verbundenenMeldepflicht zu erklären”, berichtete Spiess. “In Ein-richtungen für Menschen mit Behinderungen spieltdie Tatsache, dass vermehrt Freiheitsbeschränkungenbei kurzfristigen Betreuungen im Rahmen des sta-tionären Familienservice gemeldet wurden, einegroße Rolle.”

2010 konnten insgesamt 707 Erst- und 197 Folge-kontakte mit KlientInnen sowie 675 Kontakte mitEinrichtungen registriert werden. Dabei lohnten sichdie Bemühungen der BewohnervertreterInnen für dieKlientInnen: In Pflegeheimen wurde etwa ein Viertelder freiheitsbeschränkenden Maßnahmen aufgeho-ben oder eine schonendere Vorgehensweise verein-bart, in Krankenanstalten konnte dies in mehr alseinem Drittel und in Behinderteneinrichtungen inetwa fünf Prozent aller Fälle erreicht werden.

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Allerdings muss aufgrund der durchgeführten Be-rechnungen und Analysen davon ausgegangen wer-den, dass eine häusliche Rund-um-die-Uhr-Betreu-ung aufgrund der trotz Förderung verbleibenden Ko-sten primär von BezieherInnnen mittlerer und höhe-rer Einkommen (ab 2.000 Euro) in Anspruch genom-men werden kann, wobei die Höhe des Pflegegeldeshier eine wesentliche Rolle spielt.

Für niedrige Einkommensschichten ist die 24-Stun-den-Betreuung auch künftig unerschwinglich und derUmzug in ein Alten- und Pflegeheim bleibt oft dieeinzige Alternative.

Sonja Matzinger

LiteraturBundesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrt (BAG), Pflege-

vorsorgebericht, 2011. http://www.freiewohlfahrt.at/download.php?id=39 (Stand 30.08.2011)

BMASK: 24-Stunden-Betreuung zu Hause. Neues undWissenswertes, 5. Auflage, Wien 2009

IWAK Institut für Wirtschaft, Arbeit und Kultur, Zentrumder Goethe-Universität Frankfurt am Main: CreatingFormal Employment Relationships in the Domestic Ser-

vices Sector. Successful Strategies Insights from theProject: “Labour Market Measures for Reducing IllegalEmployment in Private Households of the Elderly”, 2011http://www.iwak-frankfurt.de/documents/brochure/april2011.pdf (Stand 30.08.2011)

Matzinger, Sonja: Die häusliche 24-Stunden-Betreuungzwischen Legalität und Leistbarkeit, FH OberösterreichStudiengang: Sozial- und Verwaltungsmanagement,Studienzweig: Sozialmanagement, Bachelorarbeit, Linz2011

OÖ Gebietskrankenkasse Dienstgeber, 24 Stunden Betreu-ung daheim, 2011. http://dienstgeber.ooegkk.at/portal27/portal/dgooegkkportal/channel_content/cmsWindow?action=2&p_menuid=68614&p_tabid=2(Stand 30.08.2011)

Oberösterreichisches Hilfswerk, 2011.http://ooe.hilfswerk.at/b9400m4685 (Stand 30.08.2011)

Rundum Zuhause betreut: Caritas, 2011http://www.caritas-rundumbetreut.at/fileadmin/user/rundumbetreut/Preisliste_RZB_2011_ unbefristet.pdf(Stand 30.08.2011)

Stiftungsfond Südböhmische Volkspflege, Kosten 2011 http://www.volkspflege.com/kosten (Stand 30.08.2011)

24 Stunden Personenbetreuung GmbH: Volkshilfe, 2011http://www.pflegen.at/kosten/ (Stand 30.08.2011)

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Gerichtliche Überprüfungen bringen mehrRechtssicherheitIn 36 Fällen wurde von den IfS-Bewohnervertrete-rInnen bei einem der sechs Vorarlberger Bezirksge-richte ein Antrag auf Prüfung der Zulässigkeit vonFreiheitsbeschränkungen eingebracht - dies ent-spricht gegenüber dem Vorjahr einer Steigerung ummehr als 50 Prozent. “Die Notwendigkeit gerichtli-cher Überprüfungen hat viel mit den vorhandenenStrukturen in den Einrichtungen zu tun”, begründetSpiess die auffallende Steigerung der gerichtlichenVerfahren. “Manchmal unterscheiden sich die Stan-

dards in den Einrichtungen von den Rechtsschutz-garantien des Heimaufenthaltsgesetzes. Dannbraucht es das Gericht zur Klärung. Auch die Ein-richtungen haben gut damit zu leben gelernt, unter-schiedliche Sichtweisen im Rahmen eines gerichtli-chen Rechtsschutzverfahrens begutachten und ent-scheiden zu lassen - das schafft nicht zuletztRechtssicherheit für die Einrichtungen.”

Quelle: Pressemitteilung des Instituts für Sozialdien-ste Vorarlberg, 18.02.2011

Care-ÖkonomieAuswirkungen ungleicher Verteilung unbe-zahlter Arbeit auf Frauen und Männer

Auch im 21. Jahrhundert werden Care-Tätigkeiten(bezahlte wie unbezahlte) Frauen zugeschrieben. Rol-lenzuweisungen aufgrund des Geschlechts drängenFrauen in Bereiche, in denen soziale Kompetenz undZuwendung gefragt sind. Das „Versorgen“ wird immernoch Frauen zugewiesen, obwohl längst erwiesen ist,dass dies keinem Geschlecht pauschal mehr oder we-niger liegt. Dennoch: Die Geschlechterstereotype wir-ken nach wie vor. Geschlechterverhältnisse, unbe-zahlte Arbeit, Wohlfahrt und Existenzsicherung wer-den noch immer nicht in einen ökonomischen Zusam-menhang gebracht.

Was versteht man unter Care-Ökonomie?Vorweg ist zu klären, was genau unter Care-Ökono-mie zu verstehen ist. Die Definition von Care-Ökono-mie ist nicht eindeutig, der Begriff weist Unschärfenauf. Es gibt unterschiedliche theoretische Zugänge,welche Leistungen konkret darin zu fassen sind. Wirddarin nur „care-labour“ erfasst oder geht der Begriffdarüber hinaus? Eine einheitliche Auslegung des Be-griffs „Care-Ökonomie“ gibt es also nicht. Je nach Er-kenntnis leitendem Interesse der AutorInnen wird de-finiert, was der Unterschied von Care-Ökonomie undNicht-Care-Ökonomie ist (Vgl. Madörin 2006, S. 278):„Heute werden in der internationalen Fachdebatteunter Care-Tätigkeiten meistens alle unbezahlten Ar-beiten im Haushalt und alle bezahlten und unbezahl-ten Betreuungs- und Pflegearbeiten verstanden.“(Madörin, 2007, S.2).

In diesem Sinne wird der Begriff in diesem Artikelverwendet. Die wissenschaftliche Begriffs-Diskussionund deren Problematik werden an dieser Stelle nichtnäher beleuchtet.

Die exakte Größenordnung der Care-Tätigkeitenkann zwar aufgrund der unterschiedlichen Zuord-nungen nicht genau ermittelt werden, aber dass essich dabei um einen extrem hohen Arbeitsaufwandhandelt, ist eindeutig zu konstatieren. (Vgl. Madörin2006, S. 286 ff).

Aus Erhebungen geht klar hervor, dass Frauen denLöwenanteil an unbezahlter Arbeit leisten. Auchwenn Gefühle und Beziehungen mitspielen, handeltes sich um mühevolle Arbeit. Es stellt sich die Fragenach den vorherrschenden Macht- und Abhängig-keitsverhältnissen, nachdem mehrheitlich Frauen, dieohnehin ökonomisch stark benachteiligt sind, dieseCare-Tätigkeiten leisten.

Die feministische Ökonomie geht von folgenden dreiAnnahmen aus: unbezahlte Arbeit ist zwischen denGeschlechtern ungleich verteilt, Frauen erhaltenniedrigere Löhne und Gehälter und Frauen sind durchdie Mehrfachbelastung überlastet. Dahinter stehenstaatliche Familienpolitik-Modelle, die unbezahlteArbeit implizieren und wesentlich zur Benachteili-gung von Frauen beitragen. Frauen müssen mehr ar-beiten, um ein gleich hohes Einkommen wie Männerzu erwirtschaften, und sind obendrein durch die un-bezahlte Arbeit ungleich höher belastet. (Vgl. Ma-dörin 2006, S. 284).

BenachteiligungskreislaufEs ist unübersehbar, wie stark stereotype Rollenzu-schreibungen immer noch wirken und wie wenig sie

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sich aufbrechen lassen. Frauen sind gefangen ineinem „Benachteiligungskreislauf“: „Die Benachteili-gung der Frauen am Arbeitsmarkt lässt die Zuständig-keit der Frauen für Hausarbeit rational erscheinen undverfestigt damit das traditionelle Familienmodell derhäuslichen Arbeitsteilung, das die Spezialisierung derFrauen auf die Haus- und Familienarbeit vorsieht. Da-durch kommt es wiederum zu negativen Auswirkun-gen am Arbeitsmarkt, da die zeitliche Verfügbarkeitder Frauen für die Erwerbsarbeit eingeschränkt ist.“(Grisold et al. 2010, S. 226).

Krisen wie die vergangene Wirtschaftskrise verfesti-gen das traditionelle Rollenbild zusätzlich. Frauenbleiben eher zuhause und ziehen sich in die Betreu-ungsarbeit zurück bzw. nehmen Teilzeitarbeit in Kauf,um Familie und Beruf zu vereinbaren. Ausbildungs-wege werden aufgrund des ökonomischen Drucks garnicht beschritten: Auf die Aufnahme eine Studiumswird verzichtet. (Ebd. 2010, S. 250).

Eine Entwicklung vom „Ernährermodell“ hin zum„Vereinbarkeitsmodell“ (ebd. 2010, S. 232) hat statt-gefunden, in beiden Modellen waren und sind Frauenschlecht bedient. Gerade die in erster Linie vonFrauen erbrachten unbezahlten Tätigkeiten sind we-sentlich für das Funktionieren der Wirtschaft. Ma-dörin zeigt anhand erhobener Zahlen eindrucksvolldie Größenordnung auf (vgl. Tab. 1)

Wohlfahrtsökonomisch gesehen gibt es also nebenstaatlichen und gemeinnützigen Institutionen undder Privatwirtschaft also einen dritten großen Sektor,der produziert und Dienste leistet: den Haushaltssek-tor. (Ebd. 2007, S. 145)

Madörin kritisiert, dass Geschlechter-verhältnisse, unbezahlte Arbeit,Wohl fahrt und Existenzsicherungnoch immer nicht in einem ökonomi-schen Zusammenhang gedacht wer-den. In das wirtschaftswissenschaft-liche Verständnis für makroökonomi-sche, volks- und weltwirtschaftlicheDynamiken fließt der Zusammenhangnicht ein. (Vgl. Madörin 2006, S. 291).

Die hohe Bedeutung der Care-Arbeitfür Wirtschaft und Gesellschaft unddie Identifikation der unbezahltenArbeit als Frauenarbeit als zentraleUrsache von Diskriminierung undeinem geschlechtsspezifischenMacht gefälle zuungunsten vonFrauen legen den Schluss nahe, dass

Care-Ökonomie als ernstzunehmende Theorie in alleWirtschaftstheorien einfließen muss.

Das hat natürlich Konsequenzen: Zum Beispiel dieAnerkennung der Tatsache, dass Care-Ökonomieeinen sehr großen Wirtschaftsfaktor darstellt. (Ebd.2006, S. 286). Eine Neubewertung der unbezahltenArbeit würde unumgänglich und die Verteilungsfragemüsste generell neu gestellt werden.

Es gibt einen kausalen Zusammenhang zwischen un-bezahlter Arbeit und der Schlechterstellung vonFrauen gegenüber Männern. Madörin führt aussage-kräftige Beispiele nach einer geschlechterdifferentenRechnungsanalyse an:

Hätten Frauen des Kantons Basel-Stadt im Jahr 2000pro Stunde Erwerbsarbeit gleichviel verdient wieMänner, wäre ihr Bruttoeinkommen um rund 740Millionen Franken höher gewesen. Weiters habenFrauen im Jahr 2000 rund 160 Stunden mehr alsMänner unbezahlt gearbeitet. Das kommt einer Ar-beitszeit von fast vier Wochen Vollerwerb gleich.(Ebd. 2006, S. 290).

Madörin leitet aus diesen Zahlen die Erkenntnis ab,dass es keine Geschlechtergleichstellung geben kann,solange Frauen nicht von unbezahlter Arbeit entlastetwerden. Anti-Diskriminierungspolitik und Frauenför-dermaßnahmen sind gefordert. Madörin hat schon2003 aufgezeigt, dass Betreuungs- und Pflegearbei-ten in Haushalten gemeinsam mit Dienstleistungenan außenstehende Verwandte und Bekannte im Jahr2000 einen größeren Wert hatten als die Einkom-menssteuern, die die Haushalte bezahlten. Die ge-

Tabelle 1: Die Bruttowertschöpfung der erweiterten Wirtschaft

100 Prozent (BIP + ca. 70%) im Jahr 2000

Zusammensetzung des erweiterten BIP in Prozent

Unbezahlter Sektor 41% Bezahlter Sektor 59%

Vergleich: Anteile am erweiterten BIP in Prozent

Unbezahlte Frauenarbeit 30% Staatsquote 21% Sozialausgabenquote 16% Hausarbeit 29% Betreuung/Pflege im Haushalten 8% Freiwilligenarbeit/ Nachbarschaftshilfe etc. 4% Banken und Versicherungen 9% Industrie, Gewerbe 11% Gesundheits- und Sozialwesen 3% Öffentliche Verwaltung/Sozialversicherungen 6%

Grobe Schätzung von Madörin aufgrund von Daten des deutschen Bundesamtes für Statistik (insbesondere BFS 2004). (Vgl. Madörn 2007, S.145)

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samte Hausarbeit ist dabei noch nicht mit berück-sichtigt. (Ebd. 2006, S. 290; vgl. Tab. 2).

Das Private ist politischWill man Frauen wirklich entlasten, so erfordert diesgrundlegende Veränderungen: Mehr technischenFortschritt im Haushalt, anteilige Übernahme von un-bezahlter Arbeit von Männern, Nichterbringung bis-her erbrachter Leistungen, Übernahme bisherigerHaushalts- und Familienleistungen durch den Staatund das Anbieten bisher unbezahlter Leistungen aufdem Markt. (Vgl. Madörin 2006, S. 291).

Gerechte Aufteilung von bezahlter und unbezahlterArbeit erfordert politischen Willen und die Bereit-schaft eines Umdenkens auf gesamtgesellschaftlicherEbene. Dass letzteres nicht sofort geschehen kannund wird, liegt nahe – politische Willensbildung undVerbindlichkeit in der Umsetzung sind daher gefor-dert. Wenn es sein muss, müssen Regeln in Gesetzegegossen werden mit der Möglichkeit wirksamerSanktionierung bei Nichteinhaltung.

„Das Private ist politisch“ – diese Erkenntnis hatschon viele Früchte - speziell in der Gewaltpräven-tion - getragen, aber die Maßnahmen sind nochimmer nicht weitreichend genug. Der kausale Zusam-menhang von Zuweisung unbezahlter Arbeit anFrauen und Diskriminierung ist zwar bekannt, aberwirtschaftliche und konservativ-politische Interessenließen bis dato einen ökonomischen Umbau, der m.E.erforderlich wäre, nicht zu.

Von diesem Ungleichheit produzierenden System pro-fitieren noch immer zu viele, in erster Linie Männer.Eine Änderung der bestehenden Verhältnisse hättegravierende Auswirkungen auf die Karrierechanceneinerseits und die Bequemlichkeit andererseits – fürMänner wie Frauen. Solange die Aspekte der Care-Ökonomie auf wissenschaftlicher Ebene vom Main-stream und auf politischer Ebene von den Verant-wortlichen ausgeblendet werden, wird es keinenSchritt in Richtung gerechte Aufteilung von bezahlterund unbezahlter Arbeit geben.

Elke Weißböck

LiteraturGrisold, Andrea et al. (2010): Notwendigkeit und Grenzen

des Sozialen. Das Beispiel Frauenarbeit und Frauener-werbstätigkeit. In: Grisold, Andrea/ Maderthaner, Wolf-gang/ Penz, Otto (Hg.): Neoliberalismus und die Krisedes Sozialen. Das Beispiel Österreich; Böhlau VerlagWien, 211-260.

Madörin, Mascha (2006): Plädoyer für eine eigenständigeTheorie der Care-Ökonomie. In: Niechoj, Torsten/ Tull-ney, Marco: Geschlechterverhältnisse in der Ökonomie.Metropolis Verlag, Marburg: 277-297.

Madörin, Mascha (2007): Neoliberalismus und die Reorga-nisation der Care-Ökonomie. Eine Forschungsskizze. In:Denknetz - Jahrbuch 2007. 141–162.

Verein Joan Robinson (Hg.) (2010): Wirtschaft anders den-ken. Handbuch Feministische Wirtschaftsalphabetisie-rung. Wien: Eigenverlag.

Tabelle 2: Was wird in der Schweiz gearbeitet und von wem?

Arbeitsvolumina in Millionen Stunden im Jahr 2000

Millionen Stunden im Jahr 2000

Männer Frauen Total

Wirtschaftssektoren

A/B Sektor 1 296 106 403

C-F Sektor 2 1543 331 1874

G-P Sektor 3 2613 1999 4611

Total Erwerbsarbeit* 4452 2436 6888

Unbezahlte Arbeit

Hausarbeiten (kochen, putzen...) 1969 4077 6046

Kinderbetreuung, Pflege Erw. 493 752 1245

Inform. Arbeit in anderen Haushalten 90 279 369

Freiwilligenarbeit in Institutionen 236 136 372

Total** 2788 5244 8032

Total Arbeitsvolumen Schweiz 7240 7680 14920

* Erwerbsarbeit von allen (auch GrenzgängerInnen), die in der Schweiz arbeiten. AusländerInnen: Jahresaufenthalt, Niederlassung. ** Unbezahlte Arbeit von allen mit 15 Jahren und mehr, die in der Schweiz leben. Quelle: Bundesamt für Statistik SAKE und AVOL. Berechnung: Mascha Madörin. (Vgl. Madörin 2007, S.144).

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Gewerkschaften in der Krise?Julia Hofmann benennt die wesentlichenstrukturellen und institutionellen Probleme,mit denen die Gewerkschaftsbewegung inÖsterreich derzeit konfrontiert ist.

Schwindende Mitgliederzahlen, geschwächter Ein-fluss, abnehmende Identifikation der Arbeitnehme-rInnen mit ihren Institutionen: Europaweit sind Ge-werkschaften so sehr in der Krise, dass der deutscheSoziologe Oskar Negt sich sogar dazu veranlasst sah,in einem seiner jüngsten Bücher die Frage „Wozunoch Gewerkschaften?“ (Negt, 2005) zu stellen. Negtzufolge sind diese nicht nur von einem Mitglieder-,sondern auch von einem Legitimationsschwund be-troffen. Durch das „Erpressungsmittel Globalisierung“(ebenda, S. 48), die Zunahme betriebswirtschaftlichenDenkens, die Erosion des Sozialstaates, die Differen-zierung der Arbeitsformen sowie gewerkschaftsin-terne Skandale haben sich die Gewerkschaften ver-mehrt auf die Aufgaben (betriebsinterner) Interes-sensvertretungen zurückgezogen. Diese Rücknahmedes gesellschaftspolitischen Mandates hat massiv zuihrer Schwächung beigetragen. (vgl. ebenda, S. 72f)

Die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise, welche ent-gegen der Hoffnung einiger nicht zu einem Aufbre-chen alter Strukturen, sondern eher zu einer Perpetu-ierung eben dieser geführt hat (vgl. BEIGEWUM/Attac, 2010), hat die Rolle der Gewerkschaften in Eu-

ropa weiter verschlechtert. Zwar konnten in einigenLändern, wie beispielsweise in Österreich, die Auswir-kungen der Krise auf die Beschäftigten durch gewerk-schaftliche Interventionen abgefedert werden (vgl.ÖGB OÖ, 2009/ÖGB, 2010), dennoch scheint die „Kriseder Gewerkschaftspolitik“ (Negt, 2005, S. 80) nochlange nicht ausgestanden zu sein.

Der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) hatmit ähnlichen Problemen zu kämpfen wie die eu-ropäische Gewerkschaftsbewegung insgesamt, den-noch lohnt sich ein Blick auf die spezifische Situationin Österreich. Bezugnehmend auf die von Negt ange-sprochenen Ursachen der Krise der Gewerkschaftspo-litik lassen sich für Österreich zumindest acht Pro-blembereiche definieren, jeweils vier angesiedelt aufder strukturellen sowie auf der gewerkschaftsinter-nen/institutionellen Ebene.

Strukturelle Probleme gewerkschaftlichenHandelnsDa die Entwicklung der Gewerkschaften nicht los-gelöst betrachtet werden kann von gesamtgesell-schaftlichen Entwicklungen, müssen Veränderungenam Arbeitsmarkt und in der Sozialstruktur der Be-schäftigten eine zentrale Rolle bei deren Analyse ein-nehmen. Aus der soziologischen Literatur lassen sichvier strukturelle Probleme ableiten, die einen Einflussauf die Situation der Gewerkschaften ausüben (vgl.Graphik 1): (1) die Ausdifferenzierung der Beschäftig-tenstruktur in Hinblick auf das Einkommen und dieberufliche Stellung, (2) das Eintreten sogenannter

Graphik 1: Strukturelle Probleme

Strukturelle

Probleme

gewerkschaftlichen

Handelns

Unterschiede in

beruflicher Stellung

und Einkommen

Eintreten neuer

sozialer Gruppen am

Arbeitsmarkt

Anteil an Armen,

Arbeitslosen,

Working Poor

Ausdifferenzierung

von

Arbeitsverhältnissen

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„neuer sozialer Gruppen“ (z.B. Frauen, MigrantInnen)am Arbeitsmarkt, (3) die Ausdifferenzierung von Er-werbsverhältnissen (z.B. Zunahme an atypischen Be-schäftigungs verhältnissen) sowie (4) der Anstieg anerwerbsfähigen Personen, die nicht erwerbstätig sindoder sich durch ihre Erwerbstätigkeit nicht erhaltenkönnen (z.B. Arme, Arbeitslose, Working Poor)

Die soziale Position der Beschäftigten am Arbeits-markt spielt insofern eine große Rolle für die Stärkegewerkschaftlichen Handelns, als eine stark hetero-gene ArbeitnehmerInnenschaft sich durch stark hete-rogene Interessen auszeichnet und damit die Herstel-lung kollektiver Interessen durch die Gewerkschafterschwert wird. (vgl. z.B. Mills, 1952) Ähnlich verhältes sich mit der Pluralität sozialer Gruppen am Ar-beitsmarkt. Der deutsche Soziologe Ulrich Beck hatbeispielsweise darauf hingewiesen, dass das Eintretenvon Frauen und MigrantInnen am Arbeitsmarkt zuneuen sozialen Widersprüchen führt (insbesonderedurch die Wirksamkeit ideologischer Mechanismen,wie Sexismus und Rassismus) und somit die „klassen-kulturell (geprägten) lebensweltlichen Gemeinsam-keiten“ (Beck, 1983, S. 41) zunehmend aufgelöst wer-den. Auch der zunehmende Anteil an Armen, Arbeits-losen und Working Poor stellt die Gewerkschaften vorähnliche Probleme: Durch das Brüchigwerden der„Zone der Integration“ (Castel, 2008, S. 360) verliertnicht nur die Arbeit als gesellschaftlicher Integrati-onsmechanismus an Bedeutung, sondern die Gewerk-schaft gleich mit. Schlussendlich sehen sich Arbeit-nehmerInnen in Zeiten von Flexibilisierung, Entstan-dardisierung und Deregulierung vermehrt mit diskon-tinuierlichen Lebensläufen, prekären Beschäftigungs-verhältnissen, steigender Deklassierung und zuneh-mender Angst vor sozialem Abstieg konfrontiert. (vgl.Gorz, 2000) Gewerkschaften haben es somit nicht nurmit einer heterogenen ArbeitnehmerInnenschaft zutun, sondern mit einer wachsenden „Nicht-Klasse vonAusgestoßenen und Unterbeschäftigten“. (Neumann,S. 105)

Strukturelle Probleme in ÖsterreichIn Österreich wirken viele der oben beschriebenenMechanismen auf gewerkschaftliches Handeln, wennauch nicht immer in der postulierten Dramatik. Siehtman sich das Einkommen der Beschäftigten in Öster-reich genauer an, so zeigt sich, dass es hier erhebli-che Unterschiede nach beruflicher Stellung, Brancheund Geschlecht gibt. So verdienten unselbstständigErwerbstätige in Österreich 2008 im Durchschnitt24.257 Euro (brutto, p.a.). Das Medianeinkommen derArbeiterInnen lag allerdings bei 18.203 Euro, während

das Medianeinkommen der Angestellten mit 27.323Euro um knapp 10.000 Euro höher war. (vgl. Eich-mann et al, 2010, S. 76f) In Österreich differiert dieEinkommenssituation des Weiteren stark nach derBranche. Beschäftigte im Kredit- und Versicherungs-wesen (37.873 Euro) oder in der Energie- und Was-serversorgung (45.106 Euro) verdienten 2008 bei-spielsweise um ein Vielfaches mehr als Beschäftigteim Bereich der öffentlichen und privaten Dienstlei-stungen (16.239 Euro) oder im Beherbergungs- undGaststättenwesen (9.737 Euro). (vgl. Eichmann et al,2010, S. 79) Auch die geschlechtsspezifischen Ein-kommensunterschiede bleiben in Österreich konstant.Das Medianeinkommen von unselbstständig erwerbs -tätigen Frauen lag 2008 bei knapp 65 Prozent desMännermedianeinkommens. (vgl. ebenda, S. 77) DieUngleichheit der Lohneinkommen hat in den letztenJahren im Allgemeinen stark zugenommen. Der Gini-koeffizient der Einkommen lag in den 1970er Jahrenbei 0,3.1 Seit 2000 ist er bereits auf über 0,4 ange-wachsen. (vgl. Guger/Marterbauer, 2004, S. 265f).Diese Formen der Differenzierung und Hierarchisie-rung der ArbeitnehmerInnen in Österreich werdendurch die Auflösung des sogenannten „Male-Bread-winner“-Modells (also der zunehmenden Erwerbsbe-teiligung von sogenannten „neuen sozialen Gruppen“)weiter vorangetrieben.

Seit der Krise des austrokeynesianischen ModellsMitte der 1980er Jahre setzte die österreichische Ar-beitsmarktpolitik auf interne und externe Flexibilisie-rung und die Aushöhlung des Normalarbeitsverhält-nisses. (vgl. Hermann/Flecker, 2009, S. 25ff) Dement-sprechend stieg der Anteil an atypischen Beschäfti-gungsverhältnissen (Teilzeitarbeit, geringfügige Be-schäftigung, Leih-/Zeitarbeit, Freie Dienstverträgeund Neue Selbstständigkeit) zwischen 2004 und 2009kontinuierlich an. Gingen 2004 knapp 670.000 Perso-nen einer atypischen Beschäftigung nach, so warenes 2009 bereits 866.200. (vgl. Geisberger/Knittler,2010, S. 449ff) Während die Zahl an Arbeitslosen, Ar-mutsgefährdeten und Working Poor in Österreich sich(objektiv) nur gering verschlimmert, nimmt der Anteilan subjektiv Verunsicherten stetig zu. 2010, im eu-ropäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und so-zialer Ausgrenzung, verzeichnete der Arbeitsklimain-dex der Arbeiterkammer eine zunehmende Verunsi-cherung der österreichischen Beschäftigten, insbe-sondere im Niedriglohnsektor. (vgl. AK OÖ, 2010) Diejüngste Finanz- und Wirtschaftskrise hat allerdingsnicht nur zur subjektiven Verunsicherung beigetra-gen. Arbeitsmarktexperten vermuten, dass die Kriseauch objektiv zu einer Verfestigung sozialer Ungleich-

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heiten am Arbeitsmarkt, durch die Stabilisierung derin der Krise eingeführten atypischen Beschäfti-gungsverhältnisse, führen wird. (vgl. Hofbauer, 2010,S. 17ff)

Institutionelle Probleme gewerkschaftlichenHandelnsNeben den strukturellen Problemen bildeten sich inden letzten Jahren auch einige zentrale institutio-nelle und gewerkschaftsinterne Probleme heraus. Vierzentrale Barrieren gewerkschaftlichen Handelns las-sen sich hier anführen (vgl. Graphik 2): (1) Die zuneh-mende Schwäche der Politik bei steigender Stärke derWirtschaft, (2) die Abnahme des Organisationsgradesder ArbeitnehmerInnen, (3) das nicht aktuelle Ange-bot der Gewerkschaften und (4) die identifkatorischeLoslösung der ArbeitnehmerInnen von ihren traditio-nellen Institutionen.

In der politikwissenschaftlichen Debatte wird davonausgegangen, dass sich das Verhältnis zwischen Poli-tik und Ökonomie seit den 1980er Jahren insofernverschoben hat, als gegenwärtig weder Parteien nochInteressensvertretungen mehr einen starken Einflussauf richtungsweisende Entscheidungen ausüben kön-nen. Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouchspricht in diesem Zusammenhang von einem Zustandder „Postdemokratie“ (Crouch, 2008), in dem Parteienund Interessensvertretungen nur mehr pro forma exi-stieren und die Wirtschaft entscheidet. (ebenda, S.30) Neben dieser generellen Verschiebung der Ein-

flussmöglichkeiten sind die Gewerkschaften im Be-sonderen auch von einem Wandel ihrer Funktionenbetroffen. War es früher ihre Aufgabe, eine „bün-delnde Rolle“ hinsichtlich der gemeinsamen Interes-sen von ArbeitnehmerInnen zu spielen, können siediese Sozialisierungs-, Interessenartikulierungs- undMobilisierungsfunktion heute aufgrund der abneh-menden Mitgliederzahlen und der wachsenden Hete-rogenität der Interessen immer weniger ausführen.(vgl. Von Beyme, 1997) Schlussendlich reagieren Ge-werkschaften nur sehr langsam auf die strukturellenVeränderungen am Arbeitsmarkt, was dazu führt, dassihr Angebot für viele potentielle Mitglieder nichtmehr zeitgemäß erscheint (Stichwort: Orientierungam männlichen Vollzeitbeschäftigten). Dies führtnicht nur zu sinkenden Mitgliederzahlen, sondernauch zu einer identifkatorischen Loslösung der Ar-beitnehmerInnen von den Gewerkschaften. (vgl. Negt,2005)

Institutionelle Probleme in ÖsterreichDurch den Übergang vom Austro-Keynesianismuszum Austro-Neoliberalismus im Zuge des EintrittsÖsterreichs in die EU und des wirtschaftsliberalenSchwenks der schwarzblauen Regierung seit 2000wurden wirtschaftliche Interessen in Österreich ge-stärkt. Das Privatkapital nahm unter anderem beizentralen Entscheidungen eine immer wichtigereRolle ein und durch die Durchsetzung der Sharehol-der Value-Orientierung konnten Maßnahmen, wie

Graphik 2: Institutionelle Probleme

Institutionelle

Probleme

gewerkschaftlichen

Handelns

Stärke der

Wirtschaft/Schwäche

der Politik

Abnahme der

organisierten

ArbeitnehmerInnen

Loslösung der

ArbeitnehmerInnen

von ihren

Institutionen

Nicht aktuelles

Angebot der

Gewerkschaften

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Beschäftigungsabbau, Schwächung der Gewerkschaf-ten oder Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, ver-stärkt durchgesetzt werden. (vgl. Hermann/Flecker,2009, S. 37ff) Dennoch kann man nicht davon spre-chen, dass sich Österreich bereits in einem Zustandder Postdemokratie befindet. Zwar hat sich das Ver-hältnis zwischen Kapital und Arbeit verschoben, den-noch bleiben die Gewerkschaft nicht ohne Hand-lungsmacht. Gerade durch den Übergang von einerkonsensualen (sozialpartnerschaftlichen) zu einerkonfliktorientierten Politik (z.B. bei den Protestengegen die Pensionsreform 2003) oder durch die Per-formanz der Gewerkschaften zu Zeiten der Krise zeigtsich, dass sie sich den Boden noch nicht unter denFüßen wegziehen haben lassen. (vgl. ebenda) Den-noch sehen sich auch die österreichischen Gewerk-schaften mit abnehmenden Mitgliederzahlen kon-frontiert. Den Daten von FORBA zufolge verfügten2004 nur knapp 14 Prozent der österreichischen Be-triebe über einen Betriebsrat. Darüber hinaus nimmtdie Zahl der BetriebsrätInnen insgesamt ab, woraussich laut den Arbeitsmarktexperten eine „wachsendebetriebliche Vertretungslücke“ (Hermann/Flecker,2009b, S. 102) ergibt. Auch innerhalb des ÖGB nimmtdie Zahl der Mitglieder stetig ab. Waren 1985 noch1,67 Mio. Personen Gewerkschaftsmitglieder, sowaren es 2008 nur mehr 1,24 Mio. (vgl. ÖGB,1999/eironline, 2010) Dies lag zum einen an der obenerwähnten Auflösung der sogenannten „Lagerkultur“in Österreich seit den 1980er Jahren (vgl.Plasser/Ulram, 2006) sowie zum anderen an gewerk-schaftsinternen Problemen. Neben den großen Skan-dalen (wie z.B. dem BAWAG-Skandal), die das öffent-liche Bild der Gewerkschaften verschlechtert haben,hat der ÖGB nicht rasch genug auf die sich verän-dernden Problemlagen reagiert. Die Dominanz desvertretungslogischen Denkens hat sich ebenso nega-tiv auf die Identifikation der ArbeitnehmerInnen mitden Gewerkschaften ausgewirkt wie die fehlendenReformen im gewerkschaftlichen Angebot. Zwarkonnte durch die Dominanz der Vertretungslogik bei-spielsweise auf der Ebene der Kollektivverträge undder rechtlichen Absicherung der ArbeitnehmerInnenin den letzten Jahrzehnten einiges erreicht werden,dennoch führte diese Logik auch zu einer zunehmen-den Entfremdung der Beschäftigten und zu einerBürokratisierung gewerkschaftlicher Strukturen. (vgl.Karlhofer, 2006) Obwohl anerkannte Gewerkschafts -forscherInnen davon ausgehen, dass Trade Union Re-vitalization nur durch eine vermehrte Partizipationvon unten in Gang gesetzt werden kann, nehmen sol-che Ideen im ÖGB nur sehr langsam konkrete Formenan. Ein Sonderfall muss hier allerdings hervorgehoben

werden: Die Teilgewerkschaft VIDA hat 2010 eine Or-ganising-Kampagne beschlossen, deren Ziel es ist,eine „gewerkschaftliche Graswurzelbewegung“ (VIDA,2010) aufzubauen. Neben dem Aufbau einer „Bewe-gung von unten“ muss allerdings auch das Angebotder Gewerkschaften „von oben“ an die aktuellen Ar-beitsmarktverhältnisse angepasst werden. Zwar hatdie GPA durch die Schaffung der sogenannten Inter-essensgemeinschaften (work@flex, work@socialetc.) versucht, dieser Pluralität und Heterogenität amösterreichischen Arbeitsmarkt gerecht zu werden, al-lerdings sind die Mitgliederzahlen noch sehr beschei-den und eine solche Aufgabe müsste eigentlich derÖGB als Ganzes forcieren. (vgl. Flecker/Hermann,2009b, S. 107ff)

SchlussDer ÖGB ist also auf der strukturellen wie auf der in-stitutionellen Ebene mit einigen Problemen konfron-tiert. Die Heterogenität der ArbeitnehmerInnenschaftverlangt nach adäquaten Reaktionsstrategien, bei derzwar auf die verschiedenen Interessenslagen der Ar-beitnehmerInnen eingegangen wird, aber gleichzeitigeine Form von Kollektivität herausgebildet wird, dieeine starke Gewerkschaft als Rückhalt braucht. Dielässt sich allerdings nur durchsetzen, indem einerseitsdas Angebot den Veränderungen am Arbeitsmarkt an-gepasst wird und andererseits von der Vertretungslo-gik abgegangen wird und vermehrt Wert auf Partizi-pation von unten gelegt wird. Mit Hilfe einer mitglie-derstarken und aktiven Gewerkschaft lässt sichschlussendlich auch das von Crouch skizzierteSchreckenszenario der Postdemokratie in Österreichvermeiden.

Julia Hofmann

Die Autorin ist Soziologin und arbeitet derzeit als wissen-schaftliche Mitarbeitern und als Lektorin an der UniversitätWien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Arbeits- und Ge-werkschaftssoziologie sowie Ungleichheitsforschung undSozialstrukturanalyse. Kontaktadresse: [email protected]

Anmerkung1 Der Gini-Koeffizient ist ein Maß der relativen Konzen-

tration beziehungsweise Ungleichheit und kann einenWert zwischen Null und Eins annehmen. Im Falle derGleichverteilung ergibt sich für den Gini-Koeffizientenein Wert von Null und im Falle der Konzentration desgesamten Einkommens auf nur eine Person ein Wertvon Eins. Je höher also der Gini-Koeffizient ausfällt,desto größer ist die Ungleichverteilung; vgl. www.amt-liche-sozialberichterstattung.de

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Report zur Rolle der Europäischen Zen-tralbank in der Finanzkrise

Der neue WEED-Report analysiert die Rolle derEZB im Vorfeld der Finanzkrise. Der Report kriti-siert die monetaristische Einengung des Man-dats der EZB und die überzogene Vorstellungvon der Unabhängigkeit der Zentralbank.

Die Erfahrungen der Krise zeigen nach Ansichtder AutorInnen, dass eine neue europäische Fi-nanzarchitektur ohne Reform der EZB Stück-werk bleiben wird. So müsse das Mandat derEZB neben der Inflationsbekämpfung gleichran-gig auch Finanzstabilität sowie (nachhaltiges)Wachstum und Beschäftigung enthalten.

Der Report beruht auf einem internationalenExperten-Seminar, das WEED im April in Berlindurchführte. Der Report ist in englischer Spra-che erschienen und kann als PDF-Datei von derWEED-Homepage heruntergeladen werden:http://www.weed-online.org/themen/english/index.html

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Es gibt Strategien zurÜberwindung des HungersKommentar von Hans Holzinger zur “nicht ge-haltenen Rede” von Jean Ziegler bei den Salz-burger Festspielen, die trotz der „Wieder-Ausladung“ Zieglers durch die Publikation imInternet sowie als Broschüre große Verbrei-tung gefunden hat.

Die “nicht gehaltene Rede” von Jean Ziegler bei denSalzburger Festspielen über den Skandal des Hungersmit dem Titel “Der Aufstand des Gewissens” hat brei-tes Echo und auch viel Zustimmung gefunden. Dass erdiese nicht selbst halten konnte, liegt daran, dassZiegler am Tag der Festspieleröffnung unterwegsnach New York war, um vor den Vereinten Nationeneinen Bericht über die Menschrechtssituation im ara-bischen Raum zu geben - eine für die betroffenenMenschen in der Region in der Tat wichtigere Missionals die “Gegenrede” in Salzburg. Diese ist jedoch aufYoutube zu sehen (http://www.youtube.com/watch?v=74ppqi8vhlU) und auch als Broschüre unter demTitel “Der Aufstand des Gewissens” beim SalzburgerVerlag Ecowin erschienen (http://www.ecowin.at/index.php?id=401).

Unrecht hat strukturelle GründeDie Kunst habe Waffen, die der analytische Verstandnicht besitzt, so Zieglers “Traum” in seiner Rede: “Siewühlt den Zuhörer, Zuschauer in seinem Innerstenauf, durchdringt auch die dickste Betondecke desEgoismus, der Entfremdung und der Entfernung.”Doch die These von der zweckfreien Kunst schütze“die Mächtigen vor ihren eigenen Emotionen unddem eventuell drohenden Sinneswandel.” Überdies seiKunst angesichts der Gewaltstrukturen ohnediesmachtlos: Denn “Kapital ist immer und überall und zuallen Zeiten stärker als Kunst”. Das Unrecht in derWelt habe strukturelle Gründe, die von sich wandeln-den Einzelpersonen nicht behoben werden können.

Ziegler spricht in der Rede von einer “kannibalischenWeltordnung” und musste sich von mancher Seiteden Vorwurf der Vereinfachung gefallen lassen. Dochwenn eine Milliarde Menschen hungert, obwohl welt-weit genügend Nahrungsmittel vorhanden wären,und zugleich von den Reichen riesige Vermögen an-gehäuft werden, dann ist der Gedanke an modernen“Kannibalismus” wohl nicht abwegig. Man kann esauch eklatantes Wirtschaftsversagen nennen. Dennim real existierenden Kapitalismus wird nicht dort in-

vestiert, wo der Bedarf, sondern wo die Kaufkraft amgrößten ist.

Nun gäbe es durchaus politische Konzepte für einenglobalen sozialen Ausgleich, etwa die Global MarshallPlan-Initiative, die Umverteilung durch Globalsteuernfordert, oder den Ansatz eines “basic food income”,das allen Erdenbürger/innen ein Existenzminimumzugesteht. Doch passiert das Gegenteil: Das WorldFood Programme der UNO wurde etwa drastischzurückgefahren. Wenn man Zieglers Bücher wie “DerHass auf den Westen” oder das feinfühlige Zwie-gespräch mit seinem Sohn “Wie kommt der Hunger indie Welt” liest, dann weiß man, dass das Engagementdes UN-Mitstreiters von einem tiefen Humanismusund den Ideen der europäischen Aufklärung geprägtist. Nur haben diese - da ist Ziegler voll zuzustimmen- aufgrund eines “hedonistischen Individualismus”unseren Kontinent immer mehr verlassen. Die 1948verabschiedeten Allgemeinen Menschenrechte harrennoch immer der Einlösung!

Hans Holzinger

Der Autor ist Pressesprecher der Robert-Jungk-StiftungSalzburg und Mitglied des Entwicklungspolitischen Beiratsdes Landes Salzburg. Jean Ziegler hat 2008 auf Vorschlagder Robert-Jungk-Stiftung den Salzburger Landespreis fürZukunftsforschung erhalten. Sein damaliger Vortrag “Dastägliche Massaker des Hungers. Wo ist Hoffnung?” ist alsCD in der Jungk-Stiftung erhältlich (http://www.jungk-bibliothek.at/ziegler.htm).

Jean Ziegler. Foto: Heiner Schmitt-Ringier

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Fair Play – eine Frage desSelbstbildes?In einem Laborexperiment untersuchten Max-Planck-ForscherInnen, unter welchen Bedin-gungen Menschen zu fairem Verhalten bereitsind.

Warum verhalten sich Menschen eigennützig undnehmen negative Konsequenzen für andere in Kauf?Dieser Frage sind Astrid Matthey und Tobias Regnervom Jenaer Max-Planck-Institut für Ökonomik ineinem Laborexperiment nachgegangen. Ihr Ergebnis:Verhalten hängt oft davon ab, ob Informationen überdie Konsequenzen für Dritte ausgeblendet werdenkönnen. Nach Ansicht der ForscherInnen lassen dieErgebnisse Rückschlüsse darauf zu, wie sich beispiels-weise fair gehandelte Produkte besser vermarktenlassen.

Das ExperimentDie ForscherInnen ließen 90 Probanden in jeweils vierRunden Geldbeträge zwischen sich und anonymenMitspielern aufteilen. Dabei erhielten die Probandenin einigen Durchgängen genaue Informationen darü-ber, wie sich ihre Entscheidungen auf die Auszahlun-gen an ihre unbekannten Mitspieler auswirken wür-den. In anderen Durchgängen konnten die Probanden

selbst entscheiden, ob sie sich über die Konsequenzenihrer Aufteilungsentscheidung für ihre Mitspieler in-formieren wollten oder ob sie diese Informationen lie-ber ausblendeten. „Wir fanden, dass es zwar Men-schen gibt, die unter allen Bedingungen eigennützigoder fair agieren“, erläutert Tobias Regner die Ergeb-nisse. „Viele Menschen aber bewegen sich in der Grau-zone: Sie agieren fair, wenn ihnen die Konsequenzenihres Handelns für andere klar sind. Bietet sich jedochdie Möglichkeit, diese Konsequenzen auszublenden,dann tun sie dies, und handeln eigennützig.“

BeweggründeWelche Beweggründe stecken dahinter? Die JenaerExperimentalökonomen haben im psychologischenKonzept der „kognitiven Dissonanz“ eine Erklärungfür dieses Verhalten gefunden: Demnach treffenMenschen bevorzugt Entscheidungen gemäß ihremSelbstbild. Halten sie sich z.B. für „fair“ oder „großzü-gig“, vermeiden sie Handlungen, die eindeutig egoi-stisch sind, um nicht in Widerspruch zum eigenenSelbstbild zu geraten. Ist es ihnen jedoch, wie im vor-liegenden Experiment, möglich, Informationen zu denKonsequenzen für Dritte zu ignorieren, lässt sich einpositives Selbstbild auch bei egoistischem Verhaltenleichter aufrechterhalten. „Wenn die Konsequenzenklar ersichtlich sind, entscheiden sich viele Teilneh-mer für faires Verhalten“, berichtet Astrid Matthey:„Besteht jedoch die Möglichkeit, die Konsequenzen

auszublenden, fällt eine„großzügige“ Entscheidungdeutlich schwerer, viele wech-seln dann zu der egoistischenAlternative.“

SchlussfolgerungenPolitikerInnen sollten bei diesenErgebnissen aufhorchen. Dennnach Meinung der ForscherIn-nen lassen sich diese direkt aufdie Entwicklung von politischenFörderinstrumenten zum Bei-spiel von nachhaltigem Kon-sumverhalten anwenden: „Wirglauben, dass die Bereitstellungvon Informationen von zentra-ler Bedeutung für das Verhaltender großen Gruppe variabelEntscheidender ist“, so Regner.Der Rat der ForscherInnen:Würden beispielsweise die Be-dingungen der Kaffee- oder Be-kleidungsproduktion unüber-

Fair gehandelte Produkte könnten von der Bereitstellung von Informationen profitie-ren, da dies das Verhalten der großen Gruppe variabel Entscheidender maßgeblichbeeinflusst. Foto: S. Hofschlaeger/pixelio.de

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sehbar auf der jeweiligen Verpackung abgedruckt,würde es vielen Menschen schwerer fallen, sich fürein unfair gehandeltes, aber billigeres Produkt zu ent-scheiden. „Unter diesen Bedingungen würden wireinen höherer Absatz zum Beispiel von Produkten mit„Fairtrade“-Siegel erwarten“, so Regners KolleginMatthey.

Quelle: Pressemitteilung der Max-Planck-Gesell-schaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.,27.07.2011. Originalpublikation: Astrid Matthey undTobias Regner: Do I Really Want to Know? A CognitiveDissonance-Based Explanation of Other-RegardingBehavior Games, 2, 114-135 (2011); doi:10.3390/g2010114

Shopping am Sonntag?Nach dem Winterschlussverkauf im Dezember, denFrühlingssonderangeboten im Februar und dem„Summer-Sale“ im Mai bringt der unsägliche HerrLugner wieder die Frage der Sonntagsöffnung imHandel aufs Tapet – und Teile von Wirtschaft und Po-litik springen tatsächlich auf den Zug auf.

Die Begründungen sind meist fadenscheinig, denn ein„langer“ Abend während der Woche, ganztägigeSamstagöffnungszeiten und Ausnahmen für Touris-musregionen bzw. spezielle Feiertage gibt es ja be-reits. Und wer sich auf das Konkurrenzprinzip beruft,sollte wissen, dass sich dies zulasten gerade kleinererNahversorger auswirkt.

Nun mag es ja sein, dass es Konsumenten gibt, die mitihrer Freizeit nichts anderes anzufangen wissen, alsShoppingcenter zu stürmen– aber auch diese Klientelhat ein begrenztes Budget:Und das wird dann, wenn esstatt sechs sieben Tage zumEinkaufen gibt, nicht größer,sondern nur „umverteilt“ -einmal abgesehen vondenen, deren oft bedenkli-cher Verschuldungsgradnoch ansteigt.

In Österreich arbeitet rundein Viertel der Frauen bzw.ein Fünftel der Männer re-gelmäßig an Samstagenund ein Sechstel schon bis-her an Sonntagen: fast einehalbe Million, etwa gleichviele Männer wie Frauen. Inmanchen Fällen ist das un-abdingbar, etwa im Gesund-heitswesen, in der öffentli-

chen Sicherheit, im Verkehr, bzw. es ist lange Tradi-tion in Dienstleistungsbereichen wie Hotel- undGastgewerbe, Freizeit- und Sporteinrichtungen und inden Medien.

Und es ist für diese ArbeitnehmerInnen schonschwierig genug, Kinderbetreuung, familiäre undfreundschaftliche Kontakte, Freizeit- und Vereinsakti-vitäten mit dem Job unter einen Hut zu bekommen.Müssen nun anstelle von 35.000 Handelsangestellten,die bereits sonntags arbeiten, vier- oder fünfmal soviele dran glauben?

Irene DykInstitut für Gesellschafts- und Sozialpolitik

Erstabdruck in Aktion Juli 2011. Nachdruck mit freundlicherGenehmigung der Autorin.

Erweiterte Öffnungszeiten wirken sich zulasten kleiner Nahversorger aus. Und das Ein-kaufsbudget der KundInnen wird dadurch nicht größer, sondern nur umverteilt. Foto: hs

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Handlungsfähigkeit und PerspektivenEuropäischer BetriebsräteThema des aktuellen Buches des Linzer Politikwissen-schaftlers Harald Stöger ist die Bedeutung von Eu-ropäischen Betriebsräten für die Arbeitsbeziehungenund die Praxis der Interessensvertretung auf europäi-scher und nationaler Ebene. Zunächst werden die Ge-nese der Institution des Europäischen Betriebsratesund ihr Verbreitungsgrad in der EU präsentiert. An-knüpfend an die aktuellen Forschungsdebatten imThemenbereich Globalisierung und Arbeitsbeziehun-gen wird gezeigt, dass Europäische Betriebsräte eineVariante im Umgang mit den Auswirkungen der öko-nomischen Globalisierung auf dem Sektor der Ar-beitsbeziehungen sind.

Auf breiter empirischer Grundlage differenziert dieStudie zwischen vier grundlegenden Typen von Eu-ropäischen Betriebsräten, die sich durch die Art ihresEinflusses in den Kooperationsbeziehungen mit demManagement unterscheiden und anhand von ausge-wählten Fallstudien im Detail dargestellt werden.Dabei wird deutlich, dass Ausmaß und Art der Hand-lungsfähigkeit Europäischer Betriebsräte primär vomEngagement ihrer Mitglieder und den Handlungsstra-tegien des Konzernmanagements abhängt, währendexterne Akteure wie die Gewerkschaftsverbände eineuntergeordnete Rolle spielen. Allerdings sind hand-lungskompetente Europäische Betriebsräte zuneh-mend Erosionstendenzen ausgesetzt, die in der öko-nomischen Entwicklung der Unternehmen währendder Finanz- und Wirtschaftskrise begründet liegen.Wenn es gelingt, die Entwicklung von EuropäischenBetriebsräten in nachhaltig stabile Pfade zu lenken,dann könnte sich diese Institution perspektivisch zumzentralen Bestandteil eines “Europäischen Sozial -modells” entwickeln.

Harald Stöger: Abstieg oder Aufbruch?Europäische Betriebsräte zwischen Marginalisierungund transnationalem Einfluss Reihe Soziologie, Bd. 68LIT Verlag Berlin-Münster-Wien-Zürich 2011220 Seiten, EUR 19,90

Theorien zur Erwachsenenbildung„Nichts ist praktischer als eine gute Theorie“, so dasCredo von Horst Siebert. In seinem Buch „Theorien fürdie Praxis“, erschienen in der Reihe Studientexte fürErwachsenenbildung des Deutschen Instituts für Er-wachsenenbildung (DIE), verknüpft er nun schon indritter Auflage Theorie und Praxis der Erwachsenen-

bildung. Der Autor macht deutlich, dass Erwachse-nenbildnerInnen in der Praxis auf theoretischeGrundlagen zur Begründung ihres professionellenHandelns angewiesen sind. Umgekehrt kann undmuss die Theorieentwicklung unbedingt auf die Er-fahrungen und Erkenntnisse aus der Bildungspraxiszurückgreifen.

Auch in der aktuellen Auflage von „Theorien für diePraxis“ stellt Horst Siebert verschiedene Theorien derErwachsenenbildung vor, ordnet sie nach Herkunftund Reichweite und weist auf ihre Bedeutung für diePlanung und Gestaltung von Bildungsangeboten hin.Ein ausführliches Kapitel zum Thema „LebenslangesLernen“ ergänzt in der neuen Auflage die identitäts-theoretischen, sozialökologischen, konstruktivisti-schen und genderspezifischen Modelle. Der Textweckt das Interesse an der theoretischen Auseinan-dersetzung und kommt damit dem eigenen professio-nellen Handeln und der Qualität in der Weiterbildungzugute. Der Band richtet sich sowohl an Studierendeund BerufseinsteigerInnen wie an erfahrene Fach-kräfte.

Horst Siebert: Theorien für die Praxis.Reihe: Studientexte für Erwachsenenbildung 3., aktualisierte Auflage, W. Bertelsmann VerlagBielefeld 2011, 136 Seiten, EUR 20,50

Einführung in die SoziologieMichael Corsten, Professor für Soziologie und Direk-tor des Instituts für Sozialwissenschaften an der Stif-tung Universität Hildesheim, legt mit seinem neuenBuch eine aufschlussreiche Einführung in die Soziolo-gie vor. Corsten zeigt auf, wie durch Begriffe und Be-griffsfelder unterschiedliche Perspektiven auf diegrundlegenden Fragestellungen der Soziologie eröff-net werden. Er stellt Verbindungen zwischen ver-schiedenen Denkansätzen her, integriert spezielle So-ziologien (wie z.B. Familien- oder Bildungsforschung)und vermittelt Einblicke in typische Kontroversen desFachs.

Das Buch richtet sich an StudienanfängerInnen, aller-dings nicht nur an FachsoziologInnen, sondern geradeauch an Studierende, die Soziologie im Wahl- oderFreifach studieren. Definitionen und Zusammenfas-sungen sollen das Lernen erleichtern, zahlreiche Ta-bellen und Abbildungen machen Fakten deutlich.

Michael Corsten: Grundfragen der SoziologieUTB basics, Stuttgart 2011322 Seiten, EUR 20,50

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BUCH T I P P S

Privatisierte Krankenhäuser zwischenEthik und ÖkonomieWer als Patient in ein Krankenhaus zur Behandlunggeht, vertraut darauf, dass ihm dort geholfen wird –von Ärzten und Pflegenden. Diese Helfer sollen kom-petent behandeln und sich dem Patienten in seinerindividuellen Hilfsbedürftigkeit zuwenden. „Medizi-nethisch gesehen enthält solche Zuwendung sowohlAchtung als auch Fürsorge. Patienten sind durch ihreNotlage Abhängige und die Helfer dürfen diese Ab-hängigkeit nicht für ihre eigenen finanziellen oderseelischen oder welche Interessen auch immer aus-nutzen. Der Gesundheitsnutzen für den Patientensollte im Mittelpunkt stehen. Diese ethische Grund-norm gerät unter Stress, wenn Krankenhäuser eineRendite erwirtschaften müssen, wie das bei privati-sierten Kliniken der Fall ist. Denn dann bestehen ver-ständliche Anreize, den finanziellen Gewinn in denMittelpunkt zu stellen.“ So beschreibt Matthias Kett-ner, Medizinethiker an der Universität Witten/Her-decke, das Problem. Mit KollegInnen anderer Fächerhat er nun ein Buch zum Thema herausgegeben.

Dieses Problem stellt Kettner zufolge zumindest eineweitere Belastung der professionellen Verantwortungdar, welche die helfenden Berufe, Ärzte und Pfle-gende gegenüber ihren Patienten wahrzunehmenhaben. „Private Krankenhausträger, die keinen Ge -meinnützigkeits-Status haben, müssen renditeorien-tiert arbeiten und alle betriebswirtschaftlichen In-strumente in diesem Sinne nutzen. Dazu gehörenauch Anreizsysteme, die die Handlungen und Ent-scheidungen von Ärzten und Pflegenden im Sinne derUnternehmensziele formen. Das ist dann ethisch pro-blematisch, wenn diese Anreize im Wesentlichen amEigeninteresse ansetzen, denn hier geht es um dieGesundheit von Menschen“, fasst Kettner seine Argu-mente zusammen.

Für ihn gibt es derzeit keine eindeutigen Belege dafür,dass privatisierte Krankenhäuser tatsächlich beigleich guter Krankenversorgung kostengünstiger ar-beiten oder die Versorgung sogar verbessern würden,wie Befürworter der Klinikprivatisierung gerne be-haupten. Das liege freilich auch an unzureichendenDaten und Messmethoden, außerdem ließen sich dieWirkung von Fallpauschalen schlecht aus der Wir-kung von Privatisierung „herausrechnen“.

Aber es gibt für Kettner eine Fülle von Hinweisen,dass Pflegepersonal und Ärzteschaft beides, die Ein-führung der Fallpauschalen, die alle Krankenhäuserbetrifft, ebenso wie Privatisierungsprozesse, die einen

zunehmenden Teil der Krankenhäuser in Deutschlandbetreffen, als Bedrohung ihrer professionellen Iden-tität erfahren.

Kettner ist es wichtig, dass Ärzte und Pflegende beider Behandlung hinreichend unabhängig bleiben vomGewinnstreben der privaten Träger: „Das heißt nicht,dass alles medizinische Wünschbare allen zur Verfü-gung gestellt werden müsste. Aber es muss institutio-nell gesichert sein, dass zwischen dem medizinischAngezeigten und dem finanziellen Gewinninteresseauf transparente Weise abgewogen wird und der Pa-tient nicht den Kürzeren zieht.“ Diese Transparenz istfür den Wittener Medizinethiker derzeit nicht gege-ben. Gesundheitspolitiker, die organisierte Ärzte-schaft und die Repräsentanten der Pflege stünden inmoralischer Mitverantwortung dafür, dass dies nichtso bleibt.

Friedrich Heubel, Matthias Kettner, Arne Manzeschke(Hg.): Die Privatisierung von Krankenhäusern: Ethische PerspektivenVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)Wiesbaden 2010196 Seiten, EUR 30,80

Matthias Kettner thematisiert in dem von ihm mitheraus -gegebenen Band die ethischen Implikationen der Rendite -

orientierung privatisierter Krankenhäuser. Quelle: Universität Witten/Herdecke

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Infrastrukturwandel im Wohlfahrtsstaat: Formen, Prozesse, KonsequenzenBei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie wird der Umbau des Wohlfahrtsstaates kritischunter die Lupe genommen. Die zu diskutierenden Fragen sind vielfältig: Sind Innovationen wie Freiwilligenzen-tren oder „Social Entrepreneurship“ Fluch oder Segen? Was bedeutet es für die Gesellschaft, wenn die sozialeFrage immer öfter betriebswirtschaftlich betrachtet wird? Und verändern sich mit den Mitteln, die Wohlfahrts-staaten einsetzen, auch ihre Ziele?

Termin und Ort: 6. – 7. Oktober 2011; Gießhaus der Universität Kassel, Mönchebergstr. 5Information, Anmeldung: www.soziologie.de/?id_533

Gemeinsam Gesundheit Gestalten im sozialen BereichAbschlusskonferenz des gleichnamigen Projekts mit Vorträgen von Nikolaus Dimmel, Universität Salzburg, undJutta Rump, Institut für Beschäftigung und Employability IBE, sowie mit praxisnahen Workshops, Referaten, In-foständen rund um die Themen niederschwellige und aktive Gesundheitsförderung für besondere Zielgruppen,Gesundheitsförderung in Betreuungs- und Beratungseinrichtungen und Ansätze der Gesundheitsförderung fürJugendliche zwischen Ausbildung und Arbeitsmarkt.

Termin und Ort: 11. Oktober 2011; FH Campus Linz, Garnisonstraße 21Information: www.sozialplattform.atAnmeldung: [email protected]

Value of LifeWas muss ein öffentliches Gesundheitswesen eigentlich finanzieren? Wie viel ist der Gesellschaft die Gesundheitdes Einzelnen wert? Und wo liegt die Grenze zur Eigenverantwortlichkeit des Individuums? Ein Blick über dieGrenzen zeigt, dass manche Länder hier klare Grenzen ziehen – Therapien werden nach Kosten pro “quality ad-justed life year” bewertet, es gibt Altersgrenzen für bestimmte Operationen und vieles mehr. Gemeinsam mit in-und ausländischen ExpertInnen wird beim Linzer Forum 2011 der „Wert des Lebens“ unter ökonomischen, ethi-schen und gesellschaftspolitischen Aspekten diskutiert.

Termin: 13. Oktober 2011, 9.00 – 16.30 Uhr Ort: Medizinisches Ausbildungszentrum, Allgemeines Krankenhaus der Stadt LinzInformation, Anmeldung: www.jku.at/konferenzen/content/e75349

Die Macht sozialer NetzwerkeBeim Begriff soziale Netzwerke denkt man heute sofort an Online-Plattformen wie Facebook und Xing. Dabei sinddiese Social Media, die “Mitmach-Seiten” des Internets, oft nur ein Abbild von jenen Netzwerken, in die wir inunserer realen Welt eingebunden sind: Familie, FreundInnen usw. Im 1. Impulsreferat zur Fachtagung “10 JahreVSG Produktionsschule Linz” thematisiert Ruth Pfosser die Macht sozialer Netzwerke, Markus Luger und RainerLenzenweger erörtern anschließend die Frage: Social Media - Was ist das, und wenn ja, weshalb?

Termin und Ort: 13. Oktober 2011, 13.00 -18.00 Uhr; Tabakfabrik Linz, Gruberstraße 1, 4020 LinzAnmeldung: Tel. 0732 331717; Mail: [email protected]

Demokratische BudgetsZur Frage, wie BürgerInnen den öffentlichen Haushalt mitbestimmen können, referieren Bernard Leubolt vom In-stitut Regional- und Umweltwirtschaft der WU Wien, die Ökonomin Elisabeth Klatzer, die Ottensheimer Bürger-meisterin Uli Böker und der Linzer Finanzstadtrat Johann Mayr.

Termin: 14. Oktober 2011, 14.00 – 22.00 UhrOrt: Arbeiterkammer Linz, Volksgartenstraße 40, 4010 Linz

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V E RANS TA L T UNGEN

Arbeit und IdentitätDie Veränderungen von Struktur und Funktion der Arbeit in den letzten 20 Jahren wirken sich auf die Menschen,ihre Beziehungen und Identitäten aus. Am ÖAGG-Kongress 2011 wird aus unterschiedlichen Perspektiven eineStandortbestimmung zur Arbeitswelt vorgenommen, um dann in die Zukunft zu blicken: Welche Gestaltungsmög-lichkeiten des Wandels werden gesehen – insbesondere für die psychotherapeutische und beraterische Praxis?

Termin und Ort: 14. – 16. Oktober 2011; BIZ an der AK Wien, Theresianumgasse 16 – 18, 1040 WienInformation: http://kongress.oeagg.at

Der Staat zwischen Gemeinschaft und WeltgesellschaftVertreterInnen der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit (OEZA) diskutieren bei der fünften österreichi-schen Entwicklungstagung mit Gästen aus Brasilien, Sri Lanka und Äthiopien die Rolle des Staates und die Fragenach dem Gemeinwohl: Braucht es für die Entwicklung des Gemeinwohls weniger oder mehr Staat? Oder brauchtes die Ermächtigung der lokalen Gemeinschaft und eine lebendige Weltgesellschaft?

Termin und Ort: 14. – 16. Oktober 2011; Stadtsaal und Donau-Universität KremsInformation, Anmeldung: www.entwicklungstagung.at

Gleichheit ist GlückAm Beginn der 5. Regionalen Salzburger Armutskonferenz stehen die aktuelle Reichtumsentwicklung und dieFrage, welche politischen Strategien Ungleichheit rechtfertigen und produzieren. Anschließend werden Zusam-menhänge zwischen sozialer Ungleichheit und den zentralen gesellschaftlichen Teilbereichen Gesundheit, Demo-kratie und Ökonomie aufgegriffen. Diskutiert werden abschließend Perspektiven für mehr Gleichheit.

Termin und Ort: 20. Oktober 2011, Bildungshaus St. Virgil, Ernst-Grein-Str. 14, 5026 SalzburgAnmeldung: Tel. 0662 65901 514, Fax DW 509, Mail: [email protected]

Diversität von MännlichkeitenBei der österreichischen Männertagung 2011 werden unterschiedliche Männlichkeitsentwürfe vor dem Hinter-grund relevanter gesellschaftlicher Diskurse im Feld der Männer- und Genderarbeit thematisiert.

Termin und Ort: 20. – 21. Oktober 2011; FH Joanneum, Eggenberger Allee 11, 8020 GrazInformation: http://maennertagung2011.mur.at/

Nacht der Vielfalt - Volkshilfe IntegrationsballDie Nacht der Vielfalt ist ein buntes und fröhliches Zeichen gelebter Integration. Zu sehen und zu hören sind ICU,die Linzer Ärzteband, Blessings Nqo aus Simbabwe, die bulgarisch-serbische Formation Danica, die SirtakibandMarios & Julie Kompania, der Orient-Okzident-Express sowie die albanische Formation Vatra.

Termin und Ort: 22. Oktober 2011, ab 20 Uhr; Design Center Linz, EuropaplatzTickets: Tel. 0732 60 30 99, Mail: [email protected]

Soziologie im Dialog – Wo stehen wir heute?Die Veranstaltung widmet sich denkbaren Selbstverständnissen der Soziologie und ihren möglichen Aufgabenbe-reichen. Eine vorbehaltlose und differenzierte Diskussion soll dabei kontroverse Auseinandersetzungen innerhalbder Disziplin befördern, um die Konstitution des Fachs wieder „ins Gespräch“ zu bringen.

Termin und Ort: 27. – 28. Oktober 2011; Universität Paderborn (D)Information: www.upb.de/soziologie-im-dialog

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KONTRASTE Presse- und Informationsdienst für Sozialpolitik

Erscheinungsort Linz, P.b.b. Verlagspostamt Linz. Wenn unzustellbar, zurück an die Redaktion KONTRASTE: Johannes Kepler Universität Linz, Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik, Altenbergerstr. 69, 4040 Linz

Herausgeber, Medieninhaber, Verleger: Sozialwissenschaftliche Vereinigung, mit Unterstützung der JohannesKepler Universität Linz (JKU), Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik

Erscheinungsweise:10 Ausgaben pro Jahr

Redaktionsadresse:KONTRASTE: Johannes Kepler Universität Linz, Institut für Gesellschafts-und Sozialpolitik, Altenbergerstr. 69, 4040 Linz Tel.: 0732/2468-7168Mail: [email protected] Web: http://www.gespol.jku.at/ Menüpunkt KontrasteAboservice, Sekretariat: Irene Auinger, Tel.: 0732/2468-7161 Fax DW 7172 Mail: [email protected]

Redaktionsteam:Mag. Hansjörg Seckauer, Dr. Christine Stelzer-Orthofer, Dr. Bettina Leibetseder,Dr. Susanna Rothmayer, Dr. Angela Wegscheider

Wir freuen uns über zugesandte Manuskripte,die Redaktion behält sich jedoch das Rechtauf Kürzung und Entscheidung über die Veröf-fentlichung vor. Redaktionsschluss ist jeweilsder 20. des Vormonats. Namentlich gekenn-zeichnete Beiträge können, müssen aber nichtdie Meinung der Redaktion wiedergeben.

Wissenschaftliche Beratung:Univ. Prof. Dr. Josef Weidenholzer Univ. Prof. Dr. Irene Dyk-Ploss a.Univ. Prof. Dr. Evelyn SchusterDr. Brigitte Kepplinger

Lektorat; Satz:Mag. Hansjörg Seckauer

Grafisches Konzept:Mag. Gerti Plöchl

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