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Leseprobe Bator, Joanna Sandberg Roman Aus dem Polnischen und mit einem Nachwort von Esther Kinsky © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch 4404 978-3-518-46404-5 Suhrkamp Verlag

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Leseprobe

Bator, Joanna

Sandberg

Roman

Aus dem Polnischen und mit einem Nachwort von Esther Kinsky

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch 4404

978-3-518-46404-5

Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch 4404

Die rebellische Dominika mit dem dunklen Teint und der »Zi-geunermähne« ist eine Außenseiterin. Das Leben im »Sand-berg«, der heruntergekommenen Plattenbausiedlung am Rande einer westpolnischen Kleinstadt, ödet sie an: der Dreck, der Suff, ihre Mutter, die von Kirche und Konsumwahn manipulierten Nachbarsfrauen. Eines Tages taucht ein Historiker aus Kalifor-nien auf, der die Spur eines jüdischen Freundes verfolgt und wie beiläufig ins Gespinst der Lebenslügen hineinsticht, aus dem Dominika sich befreien will.Joanna Bator, die stärkste neue Stimme der polnischen Literatur, erzählt von den Träumen, Ängsten und Hoffnungen einer von Krieg und Flucht traumatisierten Generation und von der Re-bellion und Freiheitssehnsucht ihrer Kinder.

Joanna Bator, 1968 geboren, lebt in Japan und Polen. Für Sandberg wurde sie mit dem Preis der Gesellschaft der polni-schen Buchverlage ausgezeichnet.

Esther Kinsky ist Autorin und literarische Übersetzerin.

Joanna BatorSandberg

RomanAus dem Polnischen

und mit einem Nachwort vonEsther Kinsky

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem TitelPiaskowa Góra

im Verlag W. A. B. in Warschau.Die Übersetzerin dankt dem deutschen Übersetzerfonds

für die großzügige Unterstützung ihrer Arbeit.

Abweichungen der vorliegenden Übersetzung von derOriginalausgabe wurden mit der Autorin abgestimmt.

Die deutsche Ausgabe erscheint mit Unterstützungdes Polnischen Buchinstituts

© POLAND Translation Program

Erste Auflage 2012suhrkamp taschenbuch 4404

Copyright © by Joanna Bator, 2009Copyright © by Wydawnictwo W. A. B., 2009

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag 2011Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimUmschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

Printed in GermanyISBN 978-3-518-46404-5

Sandberg

Meiner Familie

Alle Gestalten des Romans sindfrei erfunden, mögliche Ähnlichkeiten

mit lebenden Personen Zufall.

Anfang Jadzia watschelt und hinkt, Dominikaist leicht und zerbrechlich. Die Knochen würden wie

Eiswaffeln knacken, wenn Jadzia sich auf ihre Tochtersetzte. Dafür ist Dominika schneller, sie schlägt Haken.Sie macht Sprünge und schert aus wie ein Hase in einemsowjetischen Zeichentrickfilm. Bei jeder Annäherung vonDominika und Jadzia droht eine Kollision, die Gefahrwächst proportional zur Entfernung, aus der sie aufeinan-der treffen. Jadzia ist immer am selben Ort, Dominika istes, die im Steilflug abhebt oder ankommt. Sie macht eineabrupte Landung auf Piaskowa Gora, dass die Funkensprühen, bis sie zum Stehen kommt, kurz darauf steigt siein einer Staubwolke schon wieder in die Luft.

Jadzia wäre es lieber, wenn sich Dominika nicht so weitvon ihr entfernte und nicht dauernd herumgondelte. DieMutter sehnt sich danach, dass ihre Tochter sich nieder-lässt und sesshaft wird. Nun tu doch nicht so rennen, duWirbelwind, sagt sie immer wieder, obwohl sie weiß, dassdie Tochter es nicht mag, wenn sie so dörflich redet. Soeine Städtische ist sie. Mama, es heißt renn nicht so undnicht tu nicht so rennen, verbessert sie neunmalklug, undes heißt wir und nicht mir. Als wär da ein Unterschied. Ja-dzia sieht jedenfalls keinen, Jadzia sieht lieber dasselbe.

Na, setz dich doch mal einen Augenblick auf deinenHintern, du Wirbelwind, du Flattervogel, ruft sie undklopft neben sich aufs Sofa, setz dich, ich stell jetzt denFernseher an. Jadzia macht es sich bequem in der zersesse-nen Kuhle, diesem Nest, das einst der Platz von Stefanwar, ihrem Mann. Dort hatte er nach der Arbeit gesessenund war bei den Fernsehnachrichten oder dem sonntägli-chen Naturfilm über das Leben exotischer Tiere und In-

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sekten eingeschlafen. Guck dir mal den Kopf von dieserReptilie an! rief er, oder er bohrte in der Nase und schnips-te den Fund in den Palmentopf. Tief unten imKuhlennesthütete er das silberne Ei seiner Flasche, ein Ei, aus dem nieetwas schlüpfte. Jadzia nahm das Nest erst Jahre nach demTod ihresMannes in Besitz. Jetzt guckt sie ihre Telenovelasvon Stefans Platz aus und wünscht sich, dass Dominikamit ihr guckt. So als Mutter und Tochter. Sie auf demPlatz der Mutter und Witwe, Dominika auf dem altenPlatz der Mutter, dem für sie glattgeklopften. In dieserFolge wird herauskommen, dass Maria Celesta schwangerist, von diesem Dunklen mit Schnurrbart wie Leoncio ausIsaura, von dem Jadwiga den Namen vergessen hat. LuisAlfredo oder so ähnlich.

Jadzia bringt oft Daten und Fakten durcheinander,doch sie hat immer noch Träume. Sie sind alt und ziem-lich abgenutzt, aber sie existieren. Jadzia wirft ungern wasweg. Lieber bewahrt sie es auf, man kann nie wissen, wannman es mal brauchen kann. Altes ist oft von besserer Qua-lität als Neues, und dann hat man es gleich zur Hand. Su-chet, so werdet ihr finden, sagt Jadzia und bohrt sich in dieangesammelten Schichten von Anschaffungen in der Wä-schekommode wie ein Bergmann in eine Wand Wałbrzy-cher Kohle. Alles hat sie schon eingeplant: das Traumkleidder Tochter und die kirchliche Hochzeit. In einem Kleid,wie sie nie eins besaß. Sie musste in einer umgenähtenGardine heiraten, die die Deutschen zurückgelassen hat-ten, die Füße geschwollen in zu kleinen Pumps, was hattesie sich gequält ! Dominika wird bei ihrer Hochzeit ausse-hen wie aus der Illustrierten ausgeschnitten, wie die Toch-ter von irgendwelchen Champignonzüchtern oder Dok-toren aus Szczawno Zdroj. Sie kriegt ein Kleid aus demSalon Sabrina am Markt oder vielleicht sogar aus Breslau.Mit Korsage und Schleppe. Das wird alles auf Video ge-

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filmt. Den Schleier für die Tochter wird die Mutter heim-lich selbst sticken. Und dann mit der Pferdekutsche zumBall ins Prinzenschloss, in Brautkleid und Schleier, der imWinde weht. Wie werden sie sich die Augen ausglotzen,die’s nicht haben glauben wollen, erstarren werden sie vorso viel strahlender Schönheit und Glückseligkeit, wie esihnen nicht zugedacht ist. Noch ist es nicht zu spät, unddie Narben im Gesicht der Tochter sieht man kaum noch,höchstens, wenn sie wütend wird.

Aber vor allem darf Dominika bei der Hochzeit nichtmehr so dünn und zerbrechlich sein, dass jeder Wind sieerfassen und hierhin und dorthin verwehen kann. Siemussbeschwert, mit etwas Gewichtigem an die Erde gebundenwerden. Dominika züchtet Basilikum auf der Fenster-bank, und wenn sie wegfährt, lässt sie Sachen im Kühl-schrank stehen, die Jadzia argwöhnisch beschnuppert undmit der Zungenspitze kostet. Bigos solltest du essen, duNörgeljörgel, mit Kartoffeln und Kotelett ! Gegen einenMann aus dem Ausland hat Jadzia nichts, doch unser pol-nisches Essen, das hält sie für das beste auf der Welt, undsie braucht nichts anderes zu kosten, um sich eine Mei-nung zu bilden. IhreMeinung ist seit langem fertig, sie hatkeine Berichtigung nötig, besten Dank.

Sie macht der Tochter Platz neben sich auf der Couchund hält ihr die Naschereien hin, die sie im Sonderange-bot gekauft hat. Zwölf Törtchen plus zwei gratis, ein ech-ter Preisknüller von Real. So ein großer Laden gleich vorder Haustür bietet Zerstreuung und hilft sparen, das weißJadzia zu schätzen, denn der Hang, überflüssige Dingezum halben Preis zu kaufen, kommt sie teuer zu stehen.Sie richtet die Törtchen hübsch auf einem kleinen Telleran und reicht sie der Tochter, schnalzt mit der Zunge: le-cker! Ich werd schon dafür sorgen, dass du Fleisch auf dieRippen kriegst, du Nörgeljörgel. Die Tochter weiß schon

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lange, dass der Wind den Nörgeljörgel mit sich gerissenhat. An die Schnur eines roten Ballons geklammert, flog erdavon, so schön flog er da, die Erde rückte ganz weit weg,der Himmel war zum Greifen nah, glatt wie hellblauesGlas. Deshalb spuckte die kleine Dominika rote Beete ausund würgte an den Kalbswürstchen, die auf den Knien derMutter bereitstanden und warteten, dass der Wind auchsie mitreißen würde, in die BeErDe und noch weiter, aufdie Bula-Bula-Inseln, und Piaskowa Gora würde nur nochein Fleckchen am Horizont sein, nicht größer als ein Flie-genschiss. Doch das Märchen hatte ein anderes Ende. DerNörgeljörgel wurde mit Frikadellen bombardiert und mitgebratenen Koteletts beschossen, bis er sie aß, dann wurdeer schwerer und sank herab. Er ist normal geworden, sagteJadzia, er hat angefangen zu essen. Bestimmt ist er irgend-wo gelandet, wo er heute noch wohnt.

Die Mutter möchte demnach, dass ihre Tochter sichniederlässt, während die Tochter die bodenständige Mut-ter aus ihrer Trägheit reißen und zu einer Reise ins Aus-land bewegen will. Meistens leben sie in einem Gleichge-wicht der Kräfte, indem jede stur auf dem beharrt, was siewill. Nein, nein und nochmals nein, darauf besteht dieMutter, die Tochter lockt, umflattert sie, schlägt mit denFlügeln, gibt dem weichen Körper derMutter plötzlich ei-nen Schubs, Los, Bruno, gehn wir auf ein Bier. Dominikaschickt Postkarten, die vor Farben sprühen wie kleine Feu-erwerke, sie schreibt: Mama, wenn Du kommst, siehst Dudie schöne Stadt auf der Postkarte, in Wirklichkeit ist sienatürlich größer, echter. Hier sind die Abende warm, undes gibt Restaurants, wo abends Musik gespielt wird, dieMelonen sind so groß, dass ein kleines Kind in einer Hälf-te liegen kann wie in einer Wiege. Treppen führen direktzumMeer, wir trinken Kaffee mit Aussicht, und im Früh-ling blühen die Berge weiß, gelb und lila. Das alles kostet

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gar nicht viel, wenn Du nicht immer in Zloty rechnest.Wir freuen uns alle, wenn Du kommst, die ganze Familie,und es kostet uns auch nicht mehr, ganz im Gegenteil, Dukannst Dich hier sogar nützlich machen, Du wirst schonsehen. Jadzia denkt, dass diese Leute von Dominika, diedort angeblich alle auf sie warten, doch ein wahres Sodomund Gomorrha sind. Einer ist fast schwarz, und obwohl erstudiert hat, läuft er abgerissen herum und trägt Kettenund Perlchen, dann ist da ein Mannweib, so ein Homo-dingsbums, und alle auf einem Haufen, man weiß nicht,wer mit wem und von wem das Kind ist, das dazwischenherumwuselt. Verrücktheit ist das, Spinnerei, und keinenormale Familie, die ja aus Mutter Vater Kind besteht,verbunden durch Sakrament und Gefühle plus Großmut-ter, um das Kind zu betreuen. Verstecken sollte sie sich,diese Familie von Dominika, in Gottes Namen, ihren Le-benswandel geheimhalten und nicht vor aller Augen aus-breiten. Aber nein, sie machen sich publik, geben sichdemGespött preis, als wären sie stolz auf ihren Spleen. AmEnde würde dort noch jemand sie, Jadzia, darauf anspre-chen: Na, Sie haben Ihre Tochter ja vielleicht fein erzo-gen!, wie peinlich ihr das wäre! Peinlich, obwohl Jadzia jagar keine Fremdsprachen versteht. Stefan, der hatte einenKopf für Sprachen, und wenn er sich nicht so hätte verlot-tern lassen, dann hätte er spräkdeutschen und parlehvuh-franzäsen können. Und sie weiß kaum noch was aus ihrerRussischstunde, nur skolka, tawarischtsch Stalin und dosvidania. Und außerdem – was sollte sie dort essen? Oli-ven bestimmt nicht, die schmecken ja irgendwie faul.

Jadzia streicht Dominika die schwarzen Haare zurecht,als wären es ihre eigenen. Du hast doch noch alles vor dir !sagt sie. Jadzia radiert Dominikas dreiunddreißig Jahreaus. Sie bläst sie weg wie Krümel vomTisch. Jetzt ist nichtsmehr hinter Dominika. Wenn sie einen Schritt rückwärts

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macht, fällt sie in ein Loch. Doch Jadzia sagt, wenn alleStricke reißen, könne sie immer nach Piaskowa Gorakommen, auf jeden Fall.

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1Unter dem Boden vonWałbrzych ist Kohle, und obendrauf Sand, undMenschen, die es aus der weitenWelt

hierher, an die Stelle der Vertriebenen verschlagen hat.In den einstmals deutschen Häusern wandern die Bü-cher mit Frakturschrift zum Feuermachen in den Ofen.Der Schneider, der nicht im geringsten einem polnischenkrawiec gleicht, fliegt zum Fenster hinaus, das Wasser ver-wandelt sich beim Kochen in woda. Durch die Adolf-Hit-ler-Straße, die inzwischen Wladimir-Lenin-Straße heißt,drängen sich die Fuhrwerke, werden Koffer geschleift,Kinder, Hunde und Greisinnen in geblümten Kopftü-chern weitergezerrt. Der erste Schub kommt gleich nachdem Krieg und stinkt noch nach Pulverdampf. Hitler ka-putt ! schreien die Halbwüchsigen den letzten Deutschenund denen, die so aussehen, entgegen. Andere Ausländerstellen noch keine Bedrohung dar, weil vorläufig noch kei-ner hier zu Hause ist. Man fängt erst an einzuteilen: werGold hat und wer keines, wer mit Gott ist und wer gegenihn, den einen und einzigen, der das auch bleiben soll. DieAnkömmlinge werfen ihr Gepäck ab und hauen, eins,zwei, drei, Stöcke in die Erde. Hier zimmern sie was ausBrettern, Pappe und Planen, dort stecken sie sich einStück Land ab für Kartoffeln und Karotten, zäunen es mitSchnur ein und nageln es zu, das ist jetzt ihres, und sollsich bloß keiner unterstehen. Sie rüsten sich mit Knüp-peln aus und mit Schimpfwörtern, wenn ihnen einerdumm kommt, dann setzt es aber was!

Die wiedergewonnenen Gebiete von Wałbrzych we-cken vor allem in jenen Hoffnung, die nie was Eigenes ge-habt haben. Sie sind von nirgends her, aber sie wollen es zuetwas bringen, um von woher zu sein. Zuerst nehmen sie

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die alten, ehemals deutschen Häuser in Besitz, doch schonbald reichen die nicht mehr aus. Zwanzig Jahre nach demKrieg schließt sich um die alten Stadtteile von Wałbrzych,die wohl jede »Ordnung«, nicht jedoch einen gewissenCharme eingebüßt haben, ein Betonring neuer, in allerEile für die Neuankömmlinge errichteter Siedlungen. Aufdem Sandberg werden an die Dreißigtausend Platz finden,alle schön in die einheitlichen Fächer der Hausschachtelngestopft. Zu den Neuankömmlingen gehört auch JadziaMaslak. Sie hat stachelbeergrüne Augen, die von der lan-gen Reise müde sind, einen Pappkoffer, einen Korb mitEiern vom Dorf und einen Mantel mit zweierlei Ärmeln.In derMenge nimmtman sie kaumwahr, denn viele Frau-en sehen so ähnlich aus wie sie.

Mit JadziaMaslaks Augen betrachtet ist Wałbrzych einegroße Stadt. Der Bahnhof, an dem sie angekommen ist,heißt beispielsweise Stadtbahnhof, außerdem gibt es nochden Hauptbahnhof und die Bahnhöfe Fabryczny undSzczawienko. Weder Jadzias Mutter, Zofia Maslak, nochihre Großmutter Jadwiga Strak haben was von der Weltgesehen, höchstens sind sie mal in Skierniewice auf demMarkt oder auf Pilgerfahrt in Tschenstochau gewesen,und Jadwiga wird auchmit Sicherheit nichts mehr von derWelt sehen, denn sie liegt im gelben Sand begraben aufimmer und ewig Amen. Von Wałbrzych haben sie nie et-was gehört, denn Wałbrzych hat es bis vor kurzem nochgar nicht gegeben, kein einziger Zug ist dorthin gefahren,aus Zalesie jedenfalls ganz bestimmt nicht. Durch Zalesiedonnern die Schnellzüge, und bevor sich das Dorf noch inden Zugfenstern spiegeln kann, sind sie schon vorbei.

Jadzias Mutter sagte immer, die Teufel würden unartigeKinder imZug indieHölle fahren.Tateram-taram!machtesie das Geräusch des Zuges nach; tateram-taram! Zügevoll mit schmutzigen Kindern, tateram-taram durch die

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zu einem Rohr zusammengelegten Hände. Zofias Teufelstanken nach verbranntem Fleisch und hatten wulstigeLippen, die immer feucht waren. Wulstig wie bei denschwarzen Negern, tateram-taram!, so machte sie JadziaAngst und wogte dann auf ihren breiten Hüften in einenanderen Teil des Hauses, schlug dabei Wellen, auf denendie Möbel und Heiligenbilder noch eine Weile schaukel-ten. Sie konnte nie lange bei ihrer Tochter vor Ankergehen, gleich zog es sie wieder in die Speisekammer, inden Garten, in den Wald, um Zündholz zu sammeln. DuSchmutzfink, du Sudeltrine – sie rang die Hände: DieTeufel werden dich im Zug in die Hölle fahren. Am Fens-ter huschte nachts der Schatten des Schnellzugs vorbei,und Jadzia stellte sich die Kinder vor, die in die Waggonsgestopft waren wie in die leere Salmiakpastillendose, in diesie im Sommer die gesammelten Kartoffelkäfer steckte,um dann den Deckel wieder draufzusetzen. Im Finsternverendeten die Käfer und sonderten einen dunklen Saft ab,auf dessen Oberfläche die gestreiften Flügelchen schwam-men. Wenn Jadzia in die Dose guckte, wurde ihr vor Ekelschlecht.

Als junges Mädchen wartete Jadzia täglich im Morgen-grauen an der Bahnstation Zalesie auf den Personenzugnach Skierniewice, wo sie Krankenschwester lernte. DasSpritzensetzen gefiel ihr, das saubere und fachmännischeHineinstechen in blaue Adern, das Tragen weißer Schür-zen und das Betrachten von Bakterien unter dem Mikro-skop. In ihrem wimmelnden wuchernden Dasein fand siedie Rechtfertigung für den Essig, ihrer Mutter bevorzugtesMittel zur Körperhygiene, mit dem sie getränkt war wieder gut zubereitete Aspik um ein Schweinefüßchen. Manmuss die Bakterien totkriegen! Bakterien sind Schmutzund Krankheit, sie sind sehr gefährlich, deshalb muss dasEssigwasser sehr heiß sein, das leuchtete ein. Unbeantwor-

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tet blieb die Frage, woher Zofia, die nicht mehr als einpaar Klassen in der Dorfschule absolviert hatte, über Bak-terien Bescheid wusste, aber Jadzia stellte nicht viele Fra-gen. Während sie auf den Zug nach Skierniewice wartete,aß sie eins der drei Brötchen mit Erdbeermarmelade, diesie fürs zweite Frühstück im Spital eingepackt hatte, undsog den öligen Geruch des Gleiskörpers ein, schmeckteihn wie ein Getränk. Sie leckte sich über den kleinen,hübsch geformten Mund und konnte sich nicht entschei-den, ob sie den Geruch mochte oder nicht. Als Kind warJadzia schwächlich gewesen, doch dann nahm sie zu wieein rollender Schneeball; mit achtzehn Jahren füllte sie diefür ihre Größe vorgesehene Menge Haut gänzlich aus,schlank waren nur ihre Waden und Unterarme geblieben.Nie stand sie ganz gerade, sondern immer so, als drängteeine unsichtbare Kraft sie nach rechts oder als wiche sieeinem Schlag aus. Sie trug große Baumwollunterhosen,die Zofia ihr nähte, und frisierte sich das mausfarbeneHaar vor dem Spiegel im Flur, steckte es mit Spangen festund reckte sich mal hierhin, mal dorthin, um ihr entglei-tendes Spiegelbild im Blick zu behalten. Sie war nur auseinem bestimmten Winkel und bei Tageslicht sichtbar.Schaute man Jadzia im hellen Sonnenlicht an, war ihrUmriss unscharf, wabernd wie sonnenheißer Sand. Wersie morgens auf der Straße grüßte, war sich nachher oftnicht sicher, ob er tatsächlich Jadzia Maslak auf dem Wegzum Bahnhof gesehen oder es sich nur eingebildet hatte.Nachts wurde Jadzia von Kummer um etwas Namenlosesergriffen, den sie mit der vertrauten Lust auf Süßigkeitenverwechselte, sie seufzte, holte ein Stück Zucker unterdem Kopfkissen hervor und lutschte es, bis sie einschlief.Gehorsam befolgte sie die Anweisungen ihrer Mutter, de-ren Reinlichkeitsobsession sich auf Sitzbäder in Essigwas-ser beschränkte. In ihrem Haus klebten die Teller am

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Tisch fest, die Fledermäuse quietschten nachts auf demDachboden, und Mäuse bauten ihre Nester in den räudi-gen Kaninchenfellen, die in jeder Schublade lagen, dochnie hätte Zofia das heiße Sitzbad mit Essig vergessen. Je-den Abend hockte Jadzia sich nach der Mutter in die Me-tallschüssel, in der ihre immer ausladenderen Gesäßba-cken nur mit Mühe Platz fanden. Der Essig brannte, undmanchmal war das angenehm. Nach der Waschung steck-te sie die Finger zwischen die Beine und roch, ob der Ge-stank von Schmutz und Bakterien auch nicht durch dieEssigfrische drang.

Dann, im Nachthemd, las Jadzia Romane, langsamblätterte sie Seite für Seite mit dem speichelbefeuchtetenFinger um. Sie gierte nach Romanen, freute sich gleicher-maßen anGlück undUnglück, wie sie in Zalesie leider sel-ten geschahen, doch glücklicherweise bekam sie von FrauGorgolowa, der Lehrerin, Bücher geliehen. Am liebstenmochte Jadzia Die Aussätzige, wie verzaubert las sie dasBuch ein ums andere Mal beim Schein der Petroleumlam-pe, sehr zu Zofias Verdruss. Morgens waren Jadzias sta-chelbeergrüne Augen müde und sahen aus wie ein feuchtgewordener Farbdruck. Manchmal stellte sie sich vor, sieliege auf einer schönen Wiese und Oberarzt Michorowskibedecke sie mit seinem Körper wie der Deckel einen mitAtlasseide ausgeschlagenen Sarg. Sie tat nichts in diesenTräumen, der Oberarzt fuhr mit einem Auto, einer Karos-se, vor dem Krankenhaus in Skierniewice vor und nahmsie mit, auf eine Wiese oder ins Ausland. Vielleicht in dieschöne Sowjetunion, die sie in der Schule durchgenom-men hatten. Dort, wo Genosse Stalin herrschte, mit demMund, der süßer als Himbeeren war, und wo es große, rei-ßende Flüsse mit seltsamen Namen gab. Und alle anderenim Traum sahen nur zu, wie der Oberarzt sie, Jadzia, er-wählte. Wo Gabrysia sich doch die Augen hellblau an-

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malte und Teresa mit ihren hochhackigen Schuhen klap-perte, aber die konnten zugucken, wie der ausländischeOberarzt mit ihr und keiner anderen davonfuhr, und derSchleier wehte auf dem Kopf von ihr und keiner anderen.Ach, Oberarzt, ich bin dein! Nimmmich mit in die blaueFerne, so träumte Jadzia.

Das romantischste Ereignis in Jadwigas Leben war derBesuch eines Unbekannten, eines Ausländers, der einesSommers in Zalesie auftauchte. Der junge Mann fuhrim Auto vor, und hinter ihm stiegen Aschewolken auf,denn mit Asche waren die Löcher in der Dorfstraße zuge-schüttet. Er lüftete den Hut, Guten Tag die Damen, dürf-te ich, rief er vom Weg vor der Gartenpforte aus, dürfteich vielleicht um ein Glas Wasser bitten? Aus heiteremHimmel stand er da plötzlich an der Gartenpforte, ausge-rechnet als sie gerade nachlässig gekleidet unterm Nuss-baum am Tisch saßen und Kirschen für die Marmeladeentsteinten. Die Kerne schossen in die Schale, Mutter undTochter waren bespritzt, ach, wenn sie sich doch wenigs-tens hätten zurechtmachen und ein bisschen frisieren kön-nen, als der Fremde dort plötzlich um ein GlasWasser bat.Wie der angezogen war! erzählte Jadzia Dominika, wie auseinem Journal, wie aus der Illustrierten ausgeschnitten, sokam er da einfach an, mit Hut, an einem normalen Werk-tag, und bat um ein Glas Wasser, wo sie doch nur Becherhatten. Der Ausländer redete, als sei ihm ein KirschkernimMund steckengeblieben, und das eine oder andere, waser sagte, konnten sie nicht verstehen, aber er benahm sichhöflich und respektvoll. Er trank das Wasser, aß zweiHandvoll Kirschen mit Zucker und wischte sich die Hän-de an einem Taschentuch ab, das er aus der Jackentaschezog. Herr imHimmel, was für einMann, der sich amWo-chentag die Hände an so einem weißen Taschentuch ab-putzte! Er war noch sehr jung, doch Jadzia kam er von An-

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