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Abschlussarbeit
ÖÄK Diplomlehrgang Geriatrie
Wissenschaftliche Leitung:
Prof. Dr. Franz Böhmer
Prim. Univ. Prof . Dr. Monika Lechleitner
Rückfragen:
Österreichische Akademie der Ärzte GmbH Weihburggasse 2/5 A-1010 Wien Tel.: +43 1 512 63 83
Gangstörungen und Stürze im Alter
Dr. Edith Raffer
Fachärztin für Neurologie
Franz Josef Straße 33
5020 Salzburg
Gangstörungen und Stürze im Alter ÖÄK Diplomlehrgang Geriatrie 2.0
Dr. Edith Raffer, Fachärztin für Neurologie Seite 2
Anmerkung: Zur besseren Lesbarkeit des Textes wurde die männliche Form gewählt.
1) Zusammenfassung und Einleitung:
Gangstörungen gehören bei alten Menschen zu führenden Leitsymptomen, das höhere
Lebensalter ist der wichtigste Risikofaktor für eine Gangstörung. Dies führt in weiterer Folge
zu einer Einschränkung der Mobilität, zur Minderung der Lebensqualität und zu Stürzen mit
erhöhter Morbidität und Mortalität. Das Phänomen des Sturzes im Alter gehört zu den
großen Herausforderungen der Altersmedizin. Die Bedeutung des Sturzes ergibt sich
sowohl aus seiner Häufigkeit als auch aus den oft erheblichen Sturzfolgen. Die
Gesundheitspolitik steht nun vor der Aufgabe, unter den Bedingungen des
demographischen Wandels die zunehmend knapperen Ressourcen angemessen
einzusetzen, um vor schwereren Gesundheitseinschränkungen und Pflegebedürftigkeit im
Alter vorzubeugen, damit gewinnen sturzpräventive Maßnahmen an Bedeutung. In den
nationalen und internationalen Leitlinien wird ein breites Spektrum an Einzel- und
kombinierten Maßnahmen zur Sturzprävention empfohlen, wobei diese auf Studien mit
eingeschränkter wissenschaftlicher Beweiskraft beruhen.
2) Zielsetzung:
Im Weiteren sollen folgende Fragestellungen beleuchtet werden:
A) Häufigkeit von Gangstörungen und Stürzen im Alter, Erkennung von Sturzrisikogruppen
und Zweckmäßigkeit von Testverfahren und Instrumenten zur Beurteilung des
Sturzrisikos.
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B) Welchen Effekt haben medizinische und nicht medizinische Maßnahmen, sowohl
Einzelmaßnahmen, strukturierte und multimodale Programme zur Sturzprophylaxe bei
älteren Menschen auf das Auftreten von Stürzen und sturzbedingten Verletzungen.
C) Welche sozialen Bedingungen, ethische Problembereiche und juristische Fragen sind
für die Umsetzung sturzprophylaktischer Maßnahmen von Bedeutung.
3) Methodik:
In den für diese Arbeit verwendeten Unterlagen wurden systematische Literaturrecherchen
von 31 Datenbanken im Zeitraum von 2003 bis 2010 durchgeführt, weiters wurden
systematischen Literaturübersichten verwendet. Für Daten der klinischen Effektivität von
Interventionen werden ausschließlich randomisierte kontrollierte Studien verwendet, für die
Effektivität diagnostischer Tests und Instrumente zusätzlich prospektive Studien, weiters
selektive Literaturübersicht zu Begriffen „gait“, „gait disorder“, „lokomoting“.
4) Ergebnisse:
A) Häufigkeit von Gangstörungen und Stürzen im Alter, Erkennung von
Sturzrisikofaktoren bzw. Risikogruppen und Zweckmäßigkeit von Testverfahren und
Instrumenten zur Beurteilung des Sturzrisikos:
1) Definition von Gang und Gangstörungen sowie deren Häufigkeit:
Die Prävalenz der Gangstörungen bei über 70-jährigen liegt bei ca. 35%. Während im Alter
von 60 Jahren noch 85% der Menschen einen normalen Gang haben, sind es bei den 85-
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jährigen nur noch etwa 20%, somit sind die Gangstörungen keine zwangsläufige Folge des
Alterns.
Voraussetzung für normales Gehen sind intakte lokomotorische Funktionen, Gleichgewicht,
intakte posturale Reflexe, erhaltene sensorische Funktionen, motorische Kontrolle,
sonsomotorische Integration, ein intakter muskuloskelettaler Apparat sowie ausreichende
kardiopulmonale Funktionen. Ein zentrales integratives System mit Gebieten im frontalen
Kortex, den Basalganglien, im Hirnstamm und im Kleinhirn interpretiert Informationen des
visuellen, vestibulären und propriozeptiven afferenten Systems und selektiert die für das
Gehen erforderlichen motorischen Programme. Eine Gangstörung im Alter ist eine
Pathologie, die über die altersentsprechend normale Verminderung der Geschwindigkeit
hinausgeht und zu Störungen im Lokomotionsablauf sowie zu Störungen der Ganginitiation
oder der Gleichgewichtskontrolle führt.
2) Klassifikation von Gangstörungen; Anamnese, klinische Präsentation und
paraklinische Diagnostik:
Die Anamnese erlaubt bei Gangstörungen im Alter die Erfassung wesentlicher Faktoren,
die der klinischen Untersuchung entgehen können, zu erwähnen sind vor allem
Medikamente, die Evaluierung auslösender oder verstärkender Faktoren, Begleitsymptome
und vieles mehr.
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Tabelle 1 nach Gangstörungen im Alter, Deutsches Ärzteblatt Jg 107/Heft17/30.April 2010; Klaus
Jahn, Andreas Zwergal, Roman Schniepp
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Die klinische Präsentation der häufigen Gangmuster hilft bei der Bestimmung der
Klassifikation. Gangstörungen, die bei betagten Patienten häufig vorkommen, die
neurologisch vorgestellt werden, sind sensorische (Polyneuropathien), hypokinetische
(Morbus Parkinson), ataktische (degenerative Kleinhirnatrophie) und ängstliche
Gangstörungen („fear of falling“).
Am einfachsten ist die klinische Beobachtung des Patienten, der mit offenen und
geschlossenen Augen, bei Ablenkung und/oder kognitiven Aufforderungen eine Gehstrecke
zurücklegt. Dabei achtet man auf die Körperhaltung, die Schrittlänge und Gangbreite, auf
die Ganggeschwindigkeit, auf eventuelle Asymmetrien, auf die Fußabhebung vom Boden,
die Variabilität der Schritte, ob Balancestörungen mit Gangabweichung und Fallneigung
bestehen sowie auf das Mitbewegen der Arme. Neben Gangproben sollte die klinische
Abklärung auch Standproben, eine genaue neurologische Untersuchung, eine HNO-
fachärztliche- sowie eine internistische Untersuchung beinhalten.
Für die Verlaufsbeurteilung sinnvoll ist der „timed-up-and-go-test“, zur Beurteilung der
Sturzgefahr die Testung der Stellreflexe im „pull-test“.
Die paraklinische Diagnostik kann für die Anamnese und die Untersuchung zur Stützung
der Diagnose hilfreich sein wie z.B. Bestimmung von Visus und Gesichtsfeld, die
vestibuläre Testung sowie die Bestimmung der Nervenleitgeschwindigkeit.
Neuere Verfahren wie die sogenannte „Dual-task“-Fähigkeit sollte in den klinischen
Untersuchungsablauf integriert werden. Dabei werden kognitive Aufgaben oder motorische
Aufgaben während des Gehens durchgeführt. Typisch ist hierbei eine
Gangverschlechterung bei Erkrankungen kortikaler und subkortikaler Zentren sowie beim
Parkinsonsyndrom, während bei ängstlicher oder psychogener Gangstörung bei Ablenkung
unter „dual-task“ eher eine Verbesserung des Gangbildes erfolgt.
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Die wichtigsten Gangstörungen sind in folgender Tabelle zusammengefasst:
Tabelle 3 nach Gangstörungen im Alter, Deutsches Ärzteblatt Jg 107/Heft17/30.April 2010; Klaus Jahn,
Andreas Zwergal, Roman Schniepp
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3) Definition und Häufigkeit von Stürzen im Alter, Erkennung von Sturzrisikofaktoren
bzw. Risikogruppen und Sturzfolgen:
Es gibt keine anerkannte Definition, was unter einem Sturz zu verstehen ist, gemeinsam ist
den benutzten Definitionen, dass ein Sturz unbeabsichtigt geschieht und die gestürzte
Person sich danach auf einer niedrigeren Ebene als zuvor befindet. Dadurch sind auch von
den Studien keine eindeutigen Ergebnisse zu erwarten, da oft Sturz nicht klar definiert wird.
Aus diesen Gründen empfiehlt das Prevention of Falls Network Europe (ProFaNE) als
Ergebnis einer Konsensuskonferenz aktuell die Verwendung folgender Definition: „A fall
should be defined as an unexpected event in which the participants come to rest on the
ground, floor or lower lewel.“
Das Sturzrisiko bezeichnet die Wahrscheinlichkeit, dass die betreffende Person in einem
bestimmten Zeitraum einen oder mehrere Stürze erleidet.
Die klinische Relevanz von Stürzen und Sturzprophylaxe ergibt sich aus den potenziellen
Sturzfolgen, diese betreffen körperliche Verletzungen unterschiedlicher Schwere, wobei vor
allem hüftgelenksnahe Frakturen von großer epidemiologischer und klinischer Bedeutung
sind, als auch psychosoziale Konsequenzen wie Sturzangst. Diese verschiedenen Folgen
sowohl körperlicher als auch psychosozialer Natur werden als Post-Sturz-Syndrom
zusammengefasst, das gekennzeichnet ist von Abhängigkeit, Verlust von Autonomie,
Immobilität, psychischen Veränderungen und Einschränkungen in den Aktivitäten des
täglichen Lebens (ATL).
Nach internationalen Studien stürzen ca. 30% der Menschen über 65 Jahre mindestens
einmal pro Jahr, dieser Anteil kann in spezifischen Subpopulationen höher liegen, unter
Bewohnern von Langzeiteinrichtungen kann die jährliche Sturzinzidenz bis zu rund 50%
betragen.
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Internationalen epidemiologischen Ergebnissen zufolge führen 30-70% der Stürze älterer
Menschen zu einer Verletzung, wobei der Großteil davon keine medizinische Versorgung
benötigt. Sturzbedingte Verletzungen sind in 40% der Fälle der Auslöser für eine
notwendige stationäre pflegerische Langzeitversorgung. Stürze älterer Menschen sind
meist das Ergebnis des Zusammenwirkens mehrerer Risikofaktoren.
Sturzrisikofaktoren:
• Intrinsische Sturzrisikofaktoren:
- Funktionseinbußen und –beeinträchtigungen: Balancestörungen,
Gangstörungen, beeinträchtigte Bewegungsfähigkeit, Erkrankungen mit
veränderter Mobilität, Motorik und Sensibilität.
- Sehstörungen
- Beeinträchtigung von Kognition und Stimmung
- Erkrankungen, die zu kurzer Ohnmacht führen
- Medikamentöse Einflüsse
- Störung des Ausscheideverhaltens
- Sturzangst, Sturzvorgeschichte
• Extrinsische Sturzrisikofaktoren:
- Kleidung, Schuhe
- Hilfsmittel
- Gefahren in der Umgebung: Beleuchtung, Treppen, Haltemöglichkeiten,
Bodenbeschaffenheit.
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4) Zweckmäßigkeit von Testverfahren und Instrumenten zur Beurteilung des
Sturzrisikos:
Zur Identifizierung sturzgefährdeter älterer Menschen und zur Findung von Ansatzpunkten
effektiver Prävention bedarf es besonders dem Erkennen und der diagnostischen
Beurteilung der beeinflussbaren Risikofaktoren. Dafür kommen nicht formale bzw. formale
Verfahren zur Anwendung. Nicht formale Verfahren betreffen vor allem Anamnese und
regelmäßige Beobachtung älterer Menschen hinsichtlich markanter Indikatoren für
Sturzgefährdung. Formale Instrumente und Tests zur Abschätzung des individuellen
Sturzrisikos älterer Menschen lassen sich in zwei Gruppen zuordnen: zum einen Tests und
Instrumente, die Balance, Gang und funktionelle Mobilität überprüfen, zum anderen
Verfahren, die auf die Erfassung mehrerer Risikofaktoren zielen und zumeist im Rahmen
der pflegerischen Diagnostik konzipiert sind. Variationen in Inhalt und Durchführung der
Tests, die Verwendung unterschiedlicher Schwellenwerte erschweren die Vergleichbarkeit,
die Ergebnisse für die einzelnen Assessmentverfahren sind nicht konsistent. Keines der
evaluierten diagnostischen Verfahren verfügt nach den vorliegenden Erkenntnissen
gleichzeitig über mehr als 70%ige Sensitivität und Spezifität. Der klinische
Informationsgewinn ist eher gering, sofern es um die Identifizierung sturzgefährdeter
Personen allein geht. Hinzu kommt, dass die interne Validität der Ergebnisse der
diagnostischen Studien durch verschiedene Biasrisiken eingeschränkt ist.
In einer internationalen Leitlinie wird von einer Empfehlung zur Durchführung solcher
Assessments als Grundlage für Therapie- und Versorgungsplanung auf Grund
unzureichend belegter prognostischer Validität abgesehen (NCC-NSC2008).
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B) Welchen Effekt haben medizinische und nicht medizinische Maßnahmen, sowohl
Einzelmaßnahmen, strukturierte und multimodale Programme zur Sturzprophylaxe
bei älteren Menschen auf das Auftreten von Stürzen und sturzbedingten
Verletzungen:
1) Trainingsangebote zur Förderung motorischer Funktionen:
Studien hierzu decken ein breites Spektrum an Populationen und Trainingsangeboten ab.
Die Validität vieler Studien ist durch verschiedene Biasrisiken eingeschränkt und unklar.
Unter Vorbehalt dieser Limitierungen legt die gefundene Evidenz nahe, dass motorische
Übungen über einen längeren Zeitraum zumindest bei rüstigen Senioren das Sturzrisiko
senken, für gebrechliche Zielgruppen werden auch gegenteilige Effekte berichtet.
2) Maßnahmen der Überprüfung und Korrektur der Sehfunktion:
In zwei Studien wurden die Effekte von Sehtests und nachfolgender Intervention
ausgewertet. In einer Studie mit relativ gesunden Senioren konnte kein signifikanter Effekt
gezeigt werden, demgegenüber zeigt die andere Studie mit Personen hohen Alters ein
signifikant höheres Sturz- und ein knapp nicht signifikant erhöhtes Frakturrisiko auf Seiten
der Interventionsgruppe. Somit ist eine sturzprophylaktische Wirkung einer Korrektur der
Sehfunktion als unklar zu bewerten.
3) Chirurgische Eingriffe:
Hierzu gibt es eine Studie, die sturzprophylaktische Effekte von Herzschrittmachern bei
Patienten mit Hypersensivität des Karotissinus evaluiert, die Ergebnisse zeigen eine
signifikante Senkung der Sturzrate, aber nicht des Frakturrisikos. Die Gültigkeit ist auf
Grund unklarer Validität unsicher. Ebenso gibt es Studien zu Effekten von
Kataraktoperationen, die inhomogene Ergebnisse bringen. Während die Kataraktoperation
am ersten Auge eine signifikante Reduktion der Sturzrate und eine knapp nicht signifikante
Reduktion der Frakturhäufigkeit zeigt wurde dies bei der Operation am zweiten Auge nicht
mehr nachgewiesen.
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4) Schulungsmaßnahmen:
Hierzu wurden kognitiv-verhaltenstherapeutisch ausgerichtete Programme von Senioren
untersucht, die im eigenen Haushalt leben. Ziel der Maßnahmen war, die Senioren über ihr
Sturzrisiko aufzuklären und sie im Umgang mit diesem Risiko zu stärken und ihre
Kompetenzen und die Sicherheit zu verbessern. In keiner Studie konnte eine Reduktion
des Sturzrisikos nachgewiesen werden, wobei die Gültigkeit dieser Ergebnisse wiederum
durch die Unbestimmtheiten hinsichtlich der Studienvalidität unklar bleibt.
5) Maßnahmen zur Verbesserung der Kompetenzen betreuender Fachkräfte in
Einrichtungen der Langzeitversorgung:
Bei den vier hierzu gesichteten Studien waren die evaluierten Interventionen sehr
unterschiedlich, sowohl in der Zahl wie auch in der Berufsart der Fachkräfte sowie in den
Inhalten der Ansätze. Es konnten keinerlei Effekte in diesen Maßnahmen nachgewiesen
werden.
6) Anpassung der Wohnumgebung:
Hierbei wurden Interventionen verwendet, die aus einer standardisierten Überprüfung der
Wohnumgebung und nachfolgenden Empfehlungen für notwendige Veränderungen
bestanden, wobei alle Studien sich auf Senioren in der eigenen Häuslichkeit beziehen. Hier
zeigte sich, dass eine sturzprophylaktische Effektivität dieser Interventionen von der
Vulnerabilität der Zielgruppe abhängig ist. Somit zeigen die vorliegenden Ergebnisse
mögliche sturzprophylaktische Effekte von wohnraumbezogenen Maßnahmen bei älteren
Menschen mit vorbestehender gesundheitlicher Vulnerabilität.
7) Angebot von Hüftprotektoren:
Hierzu gibt es eine Reihe von Studien, wobei auch hier festgestellt werden muss, dass die
interne Validität der Studien oft unklar ist. Daher ist die Wirksamkeit von Hüftprotektoren für
Senioren in Langzeitversorgungseinrichtungen als unklar zu bewerten, bei älteren
Menschen im eigenen Haushalt zeigen sich konsistent keine protektiven Effekte.
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8) Gangstabilisierendes Schuhwerk:
Eine Studie zeigt positive Effekte bei der Anwendung von Schuhschneeketten auf das
Sturzrisiko bei Aktivitäten im Freien unter winterlichen Bedingungen, wobei auch hier die
Validität der zugrunde liegenden Studie unklar bleibt.
9) Vitamin D:
Hier gibt es 13 randomisierte kontrollierte Studien mit hoher interner Validität zur Bewertung
von nativen Vitamin-D-Präparaten (D2,D3) bzw. der aktiven Vitamin-D-Variante
Alfacalcidol. Die nativen Vitamin-D-Präparate unterscheiden sich in den Studien in Dosis,
Applikationsweg und -intervallen und mit und ohne Calcium-Begleitsubstitution.
Zusammenfassend ist aus dem vorliegenden Studienmaterial festzustellen, dass für ältere
Menschen in der eigenen Häuslichkeit kein konsistenter Wirkungsnachweis für native
Vitamin-D-Präparate bzw. für Vitamin-D-Metabolite abgeleitet werden kann. Auch die Daten
der Studien für Patienten in der Langzeitversorgung zeigen nur sporadisch positive
Teilergebnisse zugunsten der Interventionsgruppe.
10) Nahrungsergänzung:
Die zwei vorliegenden Studien sind methodisch als eher problematisch einzustufen, die
Unterschiede erreichen keine statistische Signifikanz.
11) Medikamentenanpassung:
Ergebnisse aus zwei Studien zur Wirksamkeit des Absetzens von ZNS-wirksamen
Medikamenten zeigen eine signifikante Senkung der erwarteten Sturzrate (Inzidenzdichte),
nicht aber der kumulativen Sturzinzidenz. In einer Studie wurde auch die Auswirkung auf
das Frakturrisiko bewertet, dies ohne Nachweis signifikanter Effekte. Die Aussagekraft der
Ergebnisse ist wegen methodischer Probleme der Studien limitiert, somit ein
sturzprophylaktischer Effekt nicht belegbar.
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12) Multiple Interventionen:
Die Resultate dieser Studien sind sehr inkonsistent, die Studien zeigen auch unklare
interne Validität, sodass weitgehend unklar bleibt, inwieweit durch Kombinationen
unterschiedlicher Maßnahmen eine effektive Sturzprophylaxe von älteren Menschen
möglich ist.
13) Multifaktorielle Interventionen:
Auch hier sind die Studien als auch die Ergebnisse sehr heterogen. Programme geringer
Intensität (das sind Maßnahmen auf Empfehlungs- und Überweisungsbasis) haben keinen
signifikanten Effekt auf sturzbezogene Endpunkte, für Programme mit hoher Intensität (das
sind Programme, in denen direkt nach Feststellung eines Risikofaktors behandelt wird) gibt
es keine Hinweise auf eine signifikante Reduktion des Risikos sturzbedingter Verletzungen.
C) Welche sozialen Bedingungen, ethische Problembereiche und juristische Fragen
sind für die Umsetzung sturzprophylaktischer Maßnahmen von Bedeutung:
Drei zentrale Themen sind zu diesen Fragestellungen bedeutsam:
1) Faktoren, die aus Sicht der Senioren förderlich bzw. hinderlich sind für die
Inanspruchnahme von sturzprophylaktischen Maßnahmen.
2) Ethische Herausforderungen im Kontext mit der Sturzprophylaxe bei Patienten mit
fortgeschrittener Pflegebedürftigkeit und kognitiven Einschränkungen.
3) Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen (FEM).
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Ältere Menschen beurteilen die Notwendigkeit der Sturzprophylaxe sehr ambivalent, da
dem Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit der Wunsch nach Wahrung von Autonomie und
Unabhängigkeit gegenübersteht. Sozioökonomische Merkmale scheinen dabei von
nachrangiger Bedeutung zu sein. Bei Entscheidungen über die Anwendung
sturzprophylaktischer Maßnahmen ist die starke Abhängigkeit der Einordnung des
Sturzrisikos von individuellen Wünschen des alten Menschen zu berücksichtigen, auch bei
Senioren mit hoher Pflegebedürftigkeit und/oder kognitiven Einbußen. Dies steht im
Kontrast zu Ergebnissen, dass der Einsatz von FEM nicht auf einem sorgfältigen
Entscheidungsprozess beruht, sondern eher routinemäßig angewandt wird. Es zeigt sich
vor allem auch, dass durch die Anwendung von FEM das Sturz- und Verletzungsrisiko nicht
gesenkt werden kann.
Für juristische Fragestellungen zeigen sich drei Problembereiche:
1) Die Unsicherheit des zu fordernden Standards in der Sturzprophylaxe.
2) Die Notwendigkeit, Charakteristika des Einzelfalls bei der Durchführung von
sturzprophylaktischen Maßnahmen zu berücksichtigen.
3) Die Schwierigkeit, gleichzeitig das Recht der Patienten auf Autonomie und das auf
körperliche Unversehrtheit zu wahren.
Diese Unsicherheiten und Problembereiche bestimmen auch die Rechtssprechung zu
Haftungsfragen nach Stürzen von Pflegeheimbewohnern. In gerichtlichen Entscheidungen
werden oft Interventionen zur Sturzprophylaxe thematisiert, für die es bei den derzeitig
vorliegenden Daten keine Effektivitätsnachweise gibt.
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5) Diskussion:
Gangstörungen sind ein Leitsymptom zahlreicher neurologischer Erkrankungen im Alter.
Den stärksten prädiktiven Wert seitens der klinischen Risikofaktoren besitzen Balance- und
Gangabnormalitäten, weshalb ihre Abklärung auch bei negativer Sturzanamnese dringend
empfohlen wird. Klinische Testverfahren wie der Tinetti-Test, der timed.up-and-go-Test etc.
beinhalten die Prüfung einzelner oder zahlreicher Alltagsfertigkeiten. Die Anwendbarkeit ist
auf Grund verschiedener praktischer Probleme bei der Durchführung eingeschränkt,
darüber hinaus basieren die Tests teilweise auf subjektiven Bewertungen und liefern keine
pathophysiologischen Informationen. Die spezifische Anamnese und die klinische
Untersuchung des Gehens können wichtige Hinweise auf die Lokalisation und zum Teil auf
die Ätiologie der Störung liefern und ermöglichen einen sinnvollen Einsatz von
Zusatzuntersuchungen.
Bei den Ergebnissen zu den medizinischen und nicht medizinischen Maßnahmen zur
Sturzprophylaxe müssen grundsätzliche, durch die Thematik bedingte Probleme beachtet
werden. Meist fehlt bei den Studien die Verblindung der Erfassung sturzbezogener
Endpunkte, weiters macht die Heterogenität der Studien eine Vergleichbarkeit extrem
schwer. Die Stürze werden von den Teilnehmern selbst oder durch betreuende Mitarbeiter
erfasst. Es werden qualitative Zusammenfassungen der Ergebnisse dargestellt, die auch
Beschreibungen möglicher Zusammenhänge umfassen. Bei der Interpretation ist zu
beachten, dass diese Analysen nach Inspektion der gefundenen Evidenz geplant wurden
und nicht statistisch abgesichert sind.
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6) Schlussfolgerungen:
Überwiegend ist die Effektivität dieser unbefriedigenden Schlussfolgerungen von
sturzprophylaktischen Maßnahmen unklar. Ursache trotz des Vorliegens vieler Studien sind
die klinische und methodische Heterogenität der Studien und deren oft unklare interne
Validität. Die verfügbaren Empfehlungen für die Sturzprophylaxe bei älteren Menschen
bildet die Evidenzlage zur Effektivität von spezifischen Interventionen nur unzureichend ab.
Dadurch lassen sich die Anforderungen an künftige Studien ableiten. Diese betreffen vor
allem die Rekrutierung von Studienteilnehmern auf der Basis plausibler Hypothesen, die
Wahl klinisch relevanter Endpunkte wie sturzbedingte Verletzungen, die Art der
Studiendesigns und die Evaluation alltagsrelevanter Interventionen.
Der subjektiv wahrgenommene Präventionsbedarf hängt von individuellen Präferenzen und
Erfahrungen ab. Diesen individuellen Sichtweisen ist bei den Entscheidungen über die
Anwendung sturzprophylaktischer Maßnahmen Rechnung zu tragen, auch wenn die
Betroffenen wegen kognitiven Einschränkungen nicht mehr in der Lage sind, ihre
Präferenzen unmittelbar zu äußern. Das Sturz- und Verletzungsrisiko scheint durch FEM
eher nicht reduziert zu werden, dies erfordert verstärkt Maßnahmen zur Reduktion der
FEM-Anwendungen. Die schwierige Abgrenzung des Sturzrisikos von allgemeinen
Lebensrisiken und die unsichere empirische Beweislage hinsichtlich der Effektivität der
Sturzprophylaxe erschwert die juristische Bewertung des Sturzrisikos.
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Literatur:
• Arzneimittel und Stürze im Alter, Internist 2009, 50:493-500; online publiziert:
21.März 2009; M.K. Modreker, W.von Renteln-Kruse
• Sturzrisikofaktoren und Sturzverletzungen bei hospitalisierten alten Menschen,
Praxis 2004, 93:1281-1288; B.Johnson, D.Grob, R.Klagenhofer, R.Gilgen
• Gangstörungen im Alter, Deutsches Ärzteblatt Jg 107/Heft17/30.April 2010; Klaus
Jahn, Andreas Zwergal, Roman Schniepp
• Prospektiver Vergleich von Assessments zur Beurteilung der Sturzgefahr bei
Pflegeheimbewohnern, Z.Gerontol.Geriat.2009, 42:473-478; online publiziert am
19.August 2009; R.Schwesig, A.Kluttig, K.Kriebel, S.Becker, S.Leuchte
• When does walking alter thinking? Age and task associated findings, Brain research
1253(2009) 92-99; Jennifer M.Srygley, Anat Mirelman, Talia Herman, Nir Giladi,
Jeffrey M.Hausdorff
• Sturzprophylaxe bei älteren Menschen in ihrer persönlichen Wohnumgebung;
Deutsche Agentur für HTA des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation
und Information; Katrin Balzer, Martina Bremer, Susanne Schramm, Dagmar
Lühmann, Heiner Raspe
• Otago-Übungsprogramm –deutsche Übersetzung der Arbeit von Claire Robertson
und Prof. John Campbell, University of Otago, New Zealand; Erwin Scherfer, Ellen
Freiberger, Karin Stranzinger, Clemens Becker