abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 verlaufsformen 11 diagnostik und...

25
Abschlussarbeit ÖÄK Diplomlehrgang Geriatrie Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Franz Böhmer Prim. Univ. Prof . Dr. Monika Lechleitner Rückfragen: Österreichische Akademie der Ärzte GmbH Weihburggasse 2/5 A-1010 Wien Tel.: +43 1 512 63 83

Upload: doantruc

Post on 23-Aug-2019

215 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

Abschlussarbeit

ÖÄK Diplomlehrgang Geriatrie

Wissenschaftliche Leitung:

Prof. Dr. Franz Böhmer

Prim. Univ. Prof . Dr. Monika Lechleitner

Rückfragen:

Österreichische Akademie der Ärzte GmbH Weihburggasse 2/5 A-1010 Wien Tel.: +43 1 512 63 83

Page 2: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 0 -

ÖÄK DIPLOMLEHRGANG GERIATRIE 2.0

2012

Das Delir beim

geriatrischen Patienten

Eine Übersicht

Dr. Christian Walcher

Page 3: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 1 -

Inhaltsverzeichnis:

Einleitung 2

Zielsetzung 3

Methodik 3

Definitionen/ Klinik

nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingtes Delir 4

Entzugssyndrom mit Delir 6

Einige Daten zu Mortalität, Prävalenz, Inzidenz und Prädiktoren des Delirs 7

Ätiologie 8

Verlaufsformen 11

Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11

Therapie 15

Prävention 18

Ein Fallbeispiel 20

Schlussfolgerungen 21

Literaturverzeichnis 23

Page 4: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 2 -

Zur besseren Lesbarkeit des Textes wurde im Allgemeinen nur die männliche

Wortform verwendet.

Einleitung:

Im übertragenen Sinn bedeutet Delirium „aus der Spur geraten sein“ (vom

lateinischen lira: die Furche, de lira: aus der Furche sein) und kann mit dem Begriff

der akuten Verwirrtheit gleichgesetzt werden.

Das Delir beim geriatrischen Patienten, im Besonderen die hypoaktive Form, stellt

eine weiterhin wenig bekannte und daher unterdiagnostizierte Entität dar (der

geriatrische Patient ist in der vorliegenden Arbeit als Patient nach Vollendung seines

64. Lebensjahres definiert). In der Literatur werden Erkennungsraten des Delirs von

nur 35 bis 70 % genannt. Auch in Ärztekreisen wird regelmäßig gefragt, ob der

Betroffene denn Alkoholiker oder „tablettenabhängig“ sei, wenn ein Delir

diagnostiziert wird. Ein Alkoholentzugssyndrom mit Delir und ein (beispielsweise)

Benzodiazepin – Entzugsdelir sind natürlich wichtige Untergruppen, stellen aber

gerade bei Patienten im höheren und hohen Lebensalter nur einen relativ kleinen

Anteil der deliranten Zustandsbilder dar.

An den verschiedenen Abteilungen unserer Krankenhäuser, in den Alten- und

Pflegeheimen wie auch im häuslichen Umfeld treten delirante Zustandsbilder beim

alten Menschen aus den verschiedensten Ursachen auf. Diese Zustandsbilder führen

häufig zu Einweisungen ins Krankenhaus bzw. zu Transferierungen an

alterspsychiatrische Abteilungen innerhalb eines Krankenhauses und stellen

gefährliche Komplikationen, zum Beispiel im Rahmen chirurgischer Eingriffe bzw.

nach Narkosen dar. Das Delir ist für über 49 % der Hospitalisierungstage der

geriatrischen Patienten verantwortlich (1).

Page 5: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 3 -

Zielsetzung:

Diese Arbeit versucht, eine Übersicht über delirante Zustandsbilder beim

geriatrischen Patienten zu geben. Definitionen, Ätiologie, Symptomatik,

Differentialdiagnosen, Therapie- und Präventionsmöglichkeiten sollen erläutert

werden.

Methodik:

Einerseits wurde die relevante Literatur für diese Übersichtsarbeit verwendet:

Lehrbücher, Jounals, Vorträge und die internationale Klassifikation psychischer

Störungen wurden eingearbeitet, auch wurde Nachschau in Medline und im Internet

gehalten.

Meine persönlichen Erfahrungen und Eindrücke als Turnusarzt bzw.

Allgemeinmediziner, als Assistenzarzt und später Facharzt für Psychiatrie und

psychotherapeutische Medizin, als Konsiliar – Psychiater und Vertreter in einer

psychiatrischen Facharztpraxis sowie nicht zuletzt mit meinem mittlerweile 93 –

jährigen, seit Jahren an Demenz erkrankten Vater, wurden andererseits von mir

herangezogen.

Page 6: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 4 -

Definitionen/ Klinik:

In der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD – 10) wird das nicht

durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingte Delir (F05) wie

folgt definiert:

Es handelt sich um ein ätiologisch unspezifisches Syndrom, das charakterisiert ist

durch gleichzeitig bestehende Störungen

1. des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit

auf einem Kontinuum zwischen leichter Bewusstseinsminderung und Koma mit

reduzierter Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu fokussieren, aufrechtzuerhalten und

umzustellen (Test: rückwärts zählen lassen)

2. des Denkens, des Gedächtnisses, der Wahrnehmung und Orientierung:

Beeinträchtigung des abstrakten Denkens und der Auffassung, mit oder ohne

flüchtige Wahnideen, aber typischerweise mit einem gewissen Grad an Inkohärenz.

Es treten Wahrnehmungsverzerrung, Illusionen und meist optische Halluzinationen

auf.

Das Immediat- und das Kurzzeitgedächtnis sind beeinträchtigt, das

Langzeitgedächtnis ist meist relativ intakt. Zeitliche Desorientiertheit liegt häufig vor,

in schweren Fällen auch Desorientiertheit zu Ort, Situation und Person.

3. der Psychomotorik bzw. des Antriebes:

Hypo- oder Hyperaktivität, wobei hier auch nicht vorhersehbare Wechsel stattfinden

können, verlängerte Reaktionszeit, vermehrter oder verminderter Redefluss,

verstärkte Schreckreaktion.

4. des Schlaf – Wach – Rhythmus:

Schlafstörungen, Schlaflosigkeit oder Tag – Nacht – Umkehr treten häufig auf,

ebenso Albträume, die nach dem Erwachen als Halluzinationen weiter bestehen

können. In den frühen Abendstunden („Sundowning – Phänomen“), nachts und in

den frühen Morgenstunden („Sunrising – Phänomen“) kommt es nicht selten zur

deliranten Dekompensation.

Page 7: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 5 -

5. der Emotionalität bzw. des Affektes:

Hier können Depression, Apathie, Angst, Reizbarkeit, Aggressivität, Euphorie und

staunende Ratlosigkeit vorkommen und rasch ineinander übergehen. Man spricht

dann mitunter von Affektlabilität bzw. Affektinkontinenz.

Der Beginn eines Delirs ist gewöhnlich akut, es ist im Tagesverlauf wechselnd, also

fluktuierend. Ein Delir kann in jedem Alter auftreten, es häuft sich jedoch jenseits des

60. Lebensjahres. Das delirante Zustandsbild ist vorübergehend und von

wechselnder Intensität, bildet sich meist innerhalb von 4 Wochen oder kürzerer Zeit

zurück. Delirien mit fluktuierendem Verlauf bis zu 6 Monaten sind jedoch nicht

ungewöhnlich, besonders im Rahmen chronischer Lebererkrankungen, von

Karzinomen oder einer subakuten bakteriellen Endokarditis.

Das Delir soll als einheitliches Syndrom mit unterschiedlicher Dauer und

unterschiedlichem Schweregrad (von leicht bis sehr schwer) betrachtet werden, die

Unterscheidung zwischen akutem und subakutem Delir ist von geringer klinischer

Relevanz.

Ein delirantes Zustandsbild kann eine Demenz überlagern (25 % der akut verwirrten

Patienten haben eine Demenz im Hintergrund) oder sich zu einer Demenz

weiterentwickeln (etwa 30 % der Patienten, welche ein Delir entwickelt hatten,

erkranken innerhalb von 3 Jahren an einer Demenz).

Die ICD – 10 unterscheidet ein Delir ohne Demenz (F05.0) von einem Delir mit

Demenz (F05.1) sowie von sonstigen Formen des Delirs (F05.8) und vom nicht näher

bezeichneten Delir (F05.9).

Page 8: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 6 -

Nach der vierten Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders

(DSM – IV) müssen folgende, weniger detaillierte Kriterien für die Diagnose eines

Delirs vorliegen:

A. Störung des Bewusstseins

B. Störung der Kognition (zum Beispiel Gedächtnisstörung, Desorientierung,

Sprachstörung) oder Wahrnehmungsstörung, die nicht durch eine Demenz

erklärbar sind.

C. Entwicklung der Störung innerhalb weniger Stunden oder Tage sowie

tageszeitliche Schwankungen.

Das Entzugssyndrom mit Delir (F1x.4) wird in der ICD – 10 wie folgt definiert:

Typische Prodromi in der Phase des Prädelirs sind Schlaflosigkeit, feinschlägiger

Tremor, Schwitzen, Muskelbeben, Unruhe und Angst. Dem Delir können auch

Entzugskrämpfe vorausgehen. Unbehandelt mündet ein solches Prädelir häufig in

ein voll ausgeprägtes Entzugsdelir mit folgender klassischer Symptomentrias:

1. Bewusstseinstrübung und Verwirrtheit,

2. lebhafte Halluzinationen oder Illusionen jeglicher Wahrnehmungsqualität,

besonders jedoch optischer Natur sowie

3. ausgeprägter, grobschlägiger Tremor.

Wahnvorstellungen, Orientierungsstörungen, Suggestibilität, motorische Unruhe,

Schlaflosigkeit, Umkehr des Tag – Nacht – Rhythmus, vegetative Übererregbarkeit

sowie deutliche somatisch – vegetative Störungen (unter anderem Tachykardien,

Blutdruckschwankungen, Fieber, Schwitzen) sind ebenfalls häufige Symptome,

Grand – Mal – Anfälle können auftreten.

Page 9: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 7 -

Der klassische und typische Vertreter ist das alkoholbedingte Delirium tremens

(F10.4), ein kurzdauernder, aber gelegentlich lebensbedrohlicher toxischer

Verwirrtheitszustand. Dieses Delir ist meist Folge eines absoluten oder relativen

Alkoholentzuges bei schwer alkoholkranken Patienten (klassisches Entzugsdelir,

zum Beispiel bei Entzugsversuch oder durch äußere Umstände wie chirurgische

Interventionen), kann aber auch während einer exzessiven Trinkphase auftreten

(sogenanntes Kontinuitätsdelir). Bei etwa 5 % aller alkoholkranken Patienten im

Krankenhaus tritt ein Delirium tremens als schwerwiegendes Zustandsbild auf.

Einige Daten zu Mortalität, Prävalenz, Inzidenz und Prädiktoren des Delirs:

Die Mortalität des unbehandelten Delirs liegt zwischen 22 und 76 % (1)!

Seitens des National Institute for Health and Clinical Excellence wird von folgenden

Daten zur Prävalenz des Delirs ausgegangen:

Postoperativ entwickeln 30 bis 50 % aller Patienten ein Delir, an internen Abteilungen

20 bis 30 %, in Langzeiteinrichtungen bis zu 20 % der Patienten. Bezogen auf die

Gesamtbevölkerung (über alle Altersgruppen verteilt) schätzt man eine Delir – Rate

von 2 bis 4 % (2).

Gustafson (3) zeigte an 111 über 65 jährigen Patienten mit einer chirurgisch

versorgten Schenkelhalsfraktur, dass 61 % dieser Patienten ein Delir entwickelten.

Als prädisponierende Faktoren für die Entwicklung eines Delirs beschrieb er ein

hohes Lebensalter, das Vorliegen einer Demenz oder einer Depression, die

Verwendung von Medikamenten mit anticholinerger Wirkung, einen stattgehabten

Insult in der Vorgeschichte sowie starke, perioperative Blutdruckabfälle.

Aus dem Auftreten eines Delirs resultierten verlängerte Krankenhausaufenthalte, ein

erhöhter Bedarf an institutioneller Weiterversorgung sowie eine vermehrte Immobilität

der betroffenen Patienten (letzteres zum Entlassungszeitpunkt und sechs Monate

danach). Eine erhöhte Komplikationsrate wurde ebenfalls festgestellt (die Patienten,

Page 10: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 8 -

welche ein Delir entwickelt hatten, litten vermehrt an Dekubitalulzera,

Harninkontinenz und Ernährungsproblemen).

In der Studie „The Occurence and Persistence of Symptoms Among Elderly

Hospitalized Patients“ (4) konnte an 325 über 65 jährigen Patienten, welche an

internistischen oder chirurgischen Abteilungen stationär behandelt wurden, gezeigt

werden, dass 11 % der Patienten bereits an einem präexistenten Delir gelitten

hatten, während 31 % der Patienten im Krankenhaus ein Delir entwickelten.

Francis et al. verglichen in „A Prospective Study of Delirium in Hospitalized Elderly“

(5) insgesamt 229 über 70 jährige Patienten an internistischen Abteilungen. 22 % der

Patienten hatten ein Delir, die übrigen Patienten entwickelten kein Delir und

fungierten als Kontrollgruppe. Die Autoren kamen zu folgenden Ergebnissen:

Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer unter den deliranten Patienten betrug 12,1

Tage, unter den Patienten ohne Delir 7,2 Tage. Von den deliranten Patienten

verstarben 8 %, im Vergleich dazu verstarb in der Kontrollgruppe 1 % der Patienten.

Bei 16 % der Patienten mit Delir musste eine institutionelle Weiterversorgung

erfolgen, in der Vergleichsgruppe bei 3 % der Patienten.

Ätiologie:

Als Ursache eines Delirs ist ein Defizit cholinerger Systeme und/ oder eine

Überaktivität dopaminerger Systeme sowie auch eine Störung anderer

Neurotransmitter Systeme anzunehmen.

Das Schwellenkonzept beschreibt das Verhältnis der Vulnerabilität eines Menschen

zu einer Noxe als wichtigen Prädiktor für die Entstehung eines Delirs. Bei hoher

Vulnerabilität, wenn also viele Risikofaktoren vorliegen, reicht demnach eine geringe

Noxe aus, um ein Delir auszulösen.

Page 11: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 9 -

Risikofaktoren für die Entwicklung eines Delirs sind (1):

hohes Lebensalter, männliches Geschlecht, Vorliegen einer Demenz oder einer

Depression, Multimorbidität, Substanzmissbrauch (vor allem von Alkohol oder

Benzodiazepinen), Störungen des Leber- und/ oder Nierenstoffwechsels,

Herzinsuffizienz, reduzierter Allgemeinzustand, Mangelernährung aber auch

metabolisches Syndrom, Vitaminmangelsyndrome (Vitamine B12, B1, B6, Folsäure),

Beeinträchtigung des Sehens und/ oder Hörens, Immobilität und Polypharmazie

(Definition der WHO: ab 6 Medikamenten, siehe auch Liste 1).

Auslösende Faktoren (Noxen) können sein:

internistische oder neurologische (Akut-) Erkrankungen wie Myokardinfarkt,

Elektrolytentgleisung, Anämie, Schilddrüsenfunktionsstörung, schlecht eingestellter

Diabetes mellitus, Infekt (im höheren Lebensalter häufig Harnwegsinfekt oder

Pneumonie), Insult; weiters Exsikkose, Fieber oder Hypothermie, Hypotension,

Hypoxie, Medikamente (eventuell neue, siehe Liste 1), Schmerzen, Stürze,

ungewohnte Umgebung, Stressreaktion auf Operationen oder medizinische Eingriffe

(z.B.: Harnkatheter), physische Beschränkungen (mechanische Fixierung), Anti

Dekubitus Matratze (vermindertes Körpergefühl).

Festgehalten sei, dass Risikofaktoren zu auslösenden Faktoren werden können

(z.B.: akut eingeschränkte Nierenfunktion) und umgekehrt.

Liste 1: Medikamente mit delirogenem Potenzial (6):

Medikamente, die zentral anticholinerg wirken

Analgetika (Opioide: vor allem Oxycodon, Fentanyl)

Antihistaminika (H1- Blocker – Diphenhydramin, Hydroxyzin; H2-Blocker – Cimetidin,

Ranitidin)

Antiparkinsonmittel (Amantadin, Biperiden)

Page 12: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 10 -

Antibiotika (vor allem Gyrasehemmer, Peneme, Cephalosporine, Penicilline,

Sulfonamide, Chinolone)

Anticholinergika (Atropin, Scopolamin, Oxybutynin, Tolterodin, Solifenacin,

Orphenadrin)

Antiarrhythmika (Herzglykoside – Digoxin, Chinidin, Lidocain, Amiodaron)

Antikonvulsiva (Carbamazepin, Phenytoin, Oxcarbazepin)

Antidepressiva (Amitriptylin, Paroxetin)

Antipsychotika, atypische (Clozapin, Olanzapin)

Antipsychotika, typische niedrigpotente (v.a. Phenothiazine wie Levomepromazin)

Andere: Theophyllin, Lithium, Benzodiazepine, Ketamin, systemische Kortikosteroide

Medikamente, die zentral Serotonin erhöhen

Antidepressiva (SSRI, SNRI, Trizyklika, MAO-Hemmer, Johanniskraut, L-Tryptophan)

Antipsychotika, atypische

Analgetika (v.a. Tramadol, Opioide)

Antikonvulsiva (Carbamzepin, Oxcarbazepin)

Andere: Antiemetika, Lithium, Triptane

Medikamente, die zentral Dopamin erhöhen

Dopaminagonisten stärker als L-Dopa

Bupropion

Medikamente, die eine Hyponatriämie verursachen können

Antidepressiva

Antipsychotika

Antikonvulsiva (Carbamazepin, Oxcarbazepin)

Antiarrhythmika

Lithium

Medikamente mit anderer Wirkungsweise

Antiphlogistika (NSAR)

Page 13: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 11 -

Verlaufsformen:

Nach Marksteiner sind der akute oder subakute Verwirrtheitszustand, der akute

exogene Reaktionstyp nach Bonhoeffer (1917), das akute psychoorganische

Syndrom und das Durchgangssyndrom Synonyme für das Delir.

Hyperaktives, hyperalertes Delir, ca. 15 %

Es zeigen sich deutliche psychomotorische Unruhe, erhöhte Irritierbarkeit,

Halluzinationen, Angst und eine ausgeprägte, vegetative Symptomatik (z.B.: Delirium

tremens).

Hypoaktives, hypoalertes Delir, ca. 25 %

Der Patient ist in sich gekehrt und abgelenkt, träumend, schwer kontaktierbar,

bewegt sich wenig. Halluzinationen und Desorientiertheit schwerer erkennbar, kaum

vegetative Zeichen. Diese Verlaufsform wird daher häufig als Narkosefolge,

Symptom einer Grunderkrankung oder gehemmte Depression fehlinterpretiert und

weist die schlechteste Prognose auf!

Gemischtes Delir, ca. 50 %

Hyper- und hypoaktive Anteile, mitunter rasch wechselnd.

Delir ohne psychomotorische Symptome, ca. 10 %

Diagnostik und Differenzialdiagnostik:

Es handelt sich in erster Linie um eine klinische Diagnose, wobei genaue

Statuserhebung, Exploration und Beobachtung des Patienten unumgänglich sind.

Fremdanamnestische Erhebungen bei Angehörigen, Pflegepersonal, Hausarzt, etc.

sind meist sehr hilfreich, wobei die Medikamenten- und Suchtanamnese stets zu

berücksichtigen sind.

Page 14: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 12 -

Typischerweise kommt es zu einem raschen Einsetzen der Symptome sowie zu

einem Abfall im Mini Mental Test (MMSE, Mini Mental State Examination) von mehr

als 2 Punkten. Letzteres kann, bei vorhandener Vortestung, diagnostisch genutzt

werden. Das Ergebnis im MMSE bessert sich nach Abklingen des Delirs

üblicherweise wieder rasch.

Für die differenzierte Beurteilung des Verlaufes und Schweregrades eines Delirs

steht die deutschsprachige Version der Delirium Rating Scale (DRS) nach

Rothenhäusler (2008) zu Verfügung (7).

Die Confusion Assessment Method CAM in Kurzversion (8) scheint für eine

rasche Delireinschätzung gut geeignet: Sie wird als Screeninginstrument für das

Pflegepersonal vorgeschlagen, wurde aber leider noch kaum als solches etabliert.

1.: Akuter Beginn und fluktuierender Verlauf

a) Fremdanamnese: gibt es Hinweise auf eine akute Veränderung des

geistigen Zustandes des Patienten gegenüber seinem Normalverhalten?

b) Gibt es Tagesschwankungen innerhalb der qualitativen oder quantitativen

Bewusstseinsstörung?

2.: Störung der Aufmerksamkeit

Hat der Patient Mühe, sich zu konzentrieren? Ist er leicht ablenkbar?

3.: Denkstörungen

Hat der Patient Denkstörungen im Sinne von inkohärentem, paralogischem,

sprunghaftem Denken?

4.: Quantitative Bewusstseinsstörung

Jeder Zustand außer „wach“ – wie hyperalert, schläfrig, stuporös, komatös.

Wenn 1a, 1b und 2 sowie zusätzlich 3 oder 4 bejaht werden, ist ein Delir zu

diagnostizieren (Sensitivität 94 – 100 %, Spezifität 90 – 95 %).

Page 15: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 13 -

Laborchemische und apparative Diagnostik (7):

Basisdiagnostik:

Blutbild

Laborchemische Untersuchungen: Elektrolyte, Glukose, Kreatinin, Harnstoff,

Bilirubin, Albumin, Leberenzyme, Schilddrüsenparameter, CRP

Harnuntersuchung

EKG

Erweiterte Diagnostik:

Medikamentenspiegel (nach Anamnese: Digoxin, Digitoxin, Lithium, Antikonvulsiva,

trizyklische Antidepressiva, Clozapin, Benzodiazepine, Theophyllin, etc.)

CCT (bei rascher Bewusstseinsminderung als Basisuntersuchung)

Thoraxröntgen (bei respiratorischen Problemen oder Fieber als Basisuntersuchung)

EEG

Lumbalpunktion (bei Fieber und Verdacht auf Meningismus als Basisuntersuchung)

MRT des Schädels

Toxikologische Untersuchungen: Blut und Harn auf Drogen, Alkohol, evtl. Toxine

CDT

Lues-, HIV- und Hepatitis-Serologie

Blutgasanalyse

Bestimmung von Ammoniak, Vitamin B 12-, Thiamin- und Folsäurespiegel

Blut- und Harnkulturen

Page 16: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 14 -

Differentialdiagnosen (7):

Wernicke Encephalopathie (Alkoholanamnese, Ataxie, Ophthalmoplegie)

Hypertensive Encephalopathie (erhöhter Blutdruck, Stauungspapille)

Hypoperfusion des ZNS (niederer Blutdruck, niederer Hämatokrit, Herzinsuffizienz)

Hypoglykämie (niederer Blutzucker, insulinpflichtiger Diabetes mellitus)

Hypoxämie (Zyanose, Blutgasanalyse!)

Intracranielle Blutung (Herdzeichen, Bewußtlosigkeit (anamnestisch), Bildgebung!)

Meningitis oder Encephalitis (Meningismus, Leukocytose, Fieber, Lumbalpunktion!)

Vergiftung (Toxizitätszeichen, z.B. Pupillenanomalien, Ataxie,

Medikamentenanamnese, Labor!)

Nonkonvulsiver Status epilepticus (Verlangsamung, Störung der Exekutivfunktionen,

EEG!)

Alkoholhalluzinose (Alkoholanamnese, Wahrnehmungsstörung, klares Bewusstsein)

Bezüglich weiterer (psychiatrischer) Differentialdiagnosen siehe bitte Tabelle 1.

Tabelle 1 (9) zu wichtigen psychiatrischen Differentialdiagnosen:

Delir Demenz Depression Schizophrenie

Beginn akut schleichend variabel eher akut

Tagesverlauf fluktuierend stabil schwankend variabel

Verlauf akut, Tage

bis Wochen

chronisch

progredient

häufig

rezidivierend

häufig chron.

exazerbierend

Bewusstsein gestört lange klar klar Klar

Desorientiertheit früh entsteht im Verlauf meist fehlend kann vorliegen

Gedächtnis gestört gestört intakt eher intakt

Halluzinationen v.a. optisch oft fehlend oft fehlend v.a. akustisch

Wahn flüchtig oft fixiert synthym komplex

vegetative

Symptomatik

häufig meist keine meist keine meist keine

Page 17: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 15 -

Therapie (7):

Die stationäre Aufnahme und Behandlung des Betroffenen ist bei Prädelir und

manifestem Delir stets indiziert. Bei schweren Verlaufsformen ist die Behandlung

an einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung angezeigt, sofern keine

Intensivpflicht des Patienten besteht. Erfolgt die Behandlung an einer nicht

psychiatrischen Abteilung, ist der Konsiliar – Psychiater beizuziehen.

1.: Feststellung und Behandlung bzw. Beseitigung delirogener Ursachen:

siehe bitte Kapitel „Ätiologie“.

2.: nicht medikamentöse Therapie:

siehe bitte nächstes Kapitel „Prävention“, die nicht medikamentöse Therapie

entspricht im Wesentlichen den Präventionsmaßnahmen, natürlich angepasst an

die Schwere des vorliegenden deliranten Zustandsbildes.

3.a: medikamentöse Therapie des nicht durch Alkohol oder andere psychotrope

Substanzen bedingten Delirs :

Grazer Therapieschema nach Rothenhäusler (7):

Leichtes hyperaktives – hyperalertes Delir und hypoaktives – hypoalertes

Delir:

Initial 0,5mg Risperidon als Schmelztablette oder 5 Tropfen Haloperidol

(entsprechend 0,5 mg).

Aufdosieren nach Verträglichkeit und Wirksamkeit auf 2 mg / die Risperidon

oder Haloperidol in mehreren Einzeldosen.

Page 18: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 16 -

Mittelschweres hyperaktives – hyperalertes Delir:

Initial 2,5 mg Haloperidol (eine Ampulle Haldol ® enthält 5 mg Haloperidol) als

15 minütige Kurzinfusion (kann mit 250 ml 5 % - iger Glukoseinfusionslösung

gemischt werden).

Aufdosieren nach Verträglichkeit und Wirksamkeit auf 5 mg / die in mehreren

Einzeldosen.

CAVE:

OFF – LABEL – GEBRAUCH!! Die intravenöse Gabe von Haloperidol

kann das Risiko von QTc – Verlängerungen und Torsades de pointes

erhöhen. Daher ist eine engmaschige EKG – Überwachung obligat.

Zusätzlich zur psychomotorischen Dämpfung:

Initial 40 mg Prothipendyl per os nachts (eine Filmtablette Dominal forte ®

enthält 80 mg Prothipendyl), gegebenfalls auf 4 mal 40 mg / die steigern.

CAVE: Kreislaufregulationsstörungen.

Schweres hyperaktives – hyperalertes Delir

Initial 5 mg Haloperidol (eine Ampulle Haldol ® enthält 5 mg Haloperidol) als

15 minütige Kurzinfusion (kann mit 250 ml 5 % - iger Glukoseinfusionslösung

gemischt werden).

Dosissteigerung nach Verträglichkeit und Wirksamkeit mit 5 mg Haloperidol

als intravenöse Kurzinfusion in stündlichen Abständen, bis eine ausreichende

Kontrolle der Symptomatik erreicht wird. Maximale Tagesdosis 40 mg

parenteral.

Page 19: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 17 -

CAVE:

OFF – LABEL – GEBRAUCH!!

Beim geriatrischen Patienten soll mit höchstens der halben Dosis begonnen

werden, auch wegen der möglichen paradoxen Wirkung beim älteren

Menschen.

Gefahr der Hyperhydratation und extrapyramidalmotorischer Symptome.

Die intravenöse Gabe von Haloperidol kann auch hier das Risiko von

QTc – Verlängerungen und Torsades de pointes erhöhen. Daher ist eine

engmaschige EKG – Überwachung obligat.

Zusätzlich zur psychomotorischen Dämpfung:

Initial 40 mg Prothipendyl als intravenöse 15 minütige Kurzinfusion nachts

(eine Ampulle Dominal forte ® enthält 40 mg Prothipendyl und ist mit

herkömmlichen Lösungsmitteln mischbar), gegebenenfalls auf 3 mal 40 mg /

die steigern.

CAVE: Kreislaufregulationsstörungen.

Bei schweren agitierten Delirien kann alternativ Lorazepam (Temesta ®) in

einer Dosierung von bis zu 4 mal 1 mg / die als intravenöse Infusion unter

Kontrolle der Vitalparameter gegeben werden (1 Ampulle Temesta ® enthält 2

mg Lorazepam und ist mit 5 % - iger Glukose oder physiologischer

Kochsalzlösung mischbar).

Delir bei Morbus Parkinson, Lewy Body Demenz und HIV induzierter Demenz:

Initial 25 mg Quetiapin per os (CAVE: orthostatische Hypotonie).

Aufdosieren nach Verträglichkeit und Wirksamkeit auf maximal 150 mg

Quetiapin / die in mehreren Einzeldosen.

Page 20: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 18 -

3.b: medikamentöse Therapie des leichten bis mittelgradigen

Alkoholentzugssyndrom (schwere Formen sind intensivstationspflichtig):

Zum Beispiel Therapieschema mit Lorazepam:

Alle 6 Stunden 2 mg Lorazepam in den ersten 24 Stunden, anschließend über

mindestens 3 Tage ausschleichen; Begleitmedikation nach Bedarf.

Prävention:

Es wird angenommen, dass delirante Zustandsbilder in bis zu einem Drittel der Fälle

verhinderbar wären, wobei stets zu bedenken ist, dass demente Patienten ein etwa

fünffach erhöhtes Risiko aufweisen, ein Delir zu entwickeln.

Präventive Maßnahmen können sein (10):

Delirogene Risikofaktoren bzw. auslösende Faktoren eines Delirs feststellen

und nach Möglichkeit behandeln.

Vertraute Bezugsperson etablieren (Bezugspflege, validierender Umgang!)

Ausreichende Flüssigkeitszufuhr, Flüssigkeitsangebot auch während

Therapien etc..

Der Malnutrition entgegenwirken.

Schlafverbesserung (nichtmedikamentös: Schlafhygiene, Einreibungen,

warme Milch, etc.).

Förderung von Bewegung und Mobilisierung, Gehhilfen beschaffen.

Sensorische Überstimulation vermeiden – ruhige, aber helle Umgebung;

sequentielle, nicht kumulative Besuche.

Angehörige mit einbeziehen, Berührung durch vertraute Personen somit

ermöglichen.

Page 21: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 19 -

Überprüfen der Medikation bezüglich Interaktionen, Dosierungen, delirogenem

Potential und entsprechend reagieren.

Suffiziente Schmerztherapie etablieren.

Strenge Überwachung der perioperativen Phasen.

Circadiane Rhythmik berücksichtigen, dabei klare Tagesstrukturierung

vorgeben.

Lieblingsgegenstände zu Verfügung stellen (Biographiebezug!).

Lieblingsmusik und Aromaöle dezent einsetzen.

Verbesserung der Sensorik: Funktionsfähigkeit und Verwendung von Brille,

Hörgerät und Zahnprothese überprüfen, gegebenenfalls anfertigen lassen.

Orientierungshilfen geben (Uhr, Kalender, Fotos, Beschriftungen, Farben,

keine unnötigen Verlegungen des Betroffenen).

Toilettentraining durchführen.

Fixierung nach Möglichkeit vermeiden.

In einer Studie im Rahmen der Versorgungsforschung zur psychiatrischen Liaison –

Pflege am Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge, Berlin konnte

folgendes gezeigt werden:

Durch die Einführung eines „Delir – Pflegers“ und die Implementierung von

clinical pathways konnte das postoperative Delir – Risiko an einer

chirurgischen Station von mehr als 20 % auf ca. 5 % gesenkt werden!

Page 22: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 20 -

Ein Fallbeispiel:

Ich wurde im März 2012 als Konsiliar – Psychiater an die internistische Abteilung

eines Krankenhauses in Südösterreich gerufen. Zugewiesen wurde unter anderem

eine 1937 geborene Patientin mit folgenden Zuweisungsdiagnosen:

hochgradige Depressio, rezidivierendes Sturzgeschehen – therapiebedingt?

Die Dame berichtete, nicht zu wissen, wie lange und warum sie an diesem, ihr nicht

bekannten Ort sei, sie könne auch nicht genau sagen, wo sie sonst lebe. Von einem

Ortswechsel hätte sie in letzter Zeit jedenfalls nichts mitbekommen. Sie fühle sich

sehr schwach, die Haare würden ihr büschelweise ausgehen. Ansonsten ginge es ihr

nicht so schlecht, depressiv fühle sie sich im Moment nicht. Ihre Kinder seien 51 und

53 Jahre alt, sie selbst sei ebenfalls 53 Jahre alt.

Im psychopathologischen Status imponierte die Stimmungslage der Patientin

subdepressiv, ihre Befindlichkeit war eher positiv getönt. Sie war wach und

bewusstseinsklar, wenn auch sehr müde. Zur Person war die Patientin teilorientiert,

örtlich, zeitlich und situativ desorientiert. Es zeigten sich eine deutliche

Antriebsminderung und Affektverflachung bei eingeschränkter Affizierbarkeit in

beiden Skalenbereichen. Im Ductus war die Patientin verlangsamt und teilweise

inkohärent. Es zeigten sich deutliche Defizite in Konzentration und Merkfähigkeit, das

Altgedächtnis war, soweit beurteilbar, wenig beeinträchtigt. Produktive Symptome,

Wahninhalte oder Suizidgedanken waren nicht explorierbar, Schlaf und Appetit

wurden von der Patientin als gut angegeben.

Seitens des Pflegepersonals wurde berichtet, dass die Patientin kürzlich von einer

betreuten Wohnsituation in ein Altenheim gekommen sei, sie habe die Pflegestufe

drei. Die Patientin sei auffallend inaktiv, zwischenzeitlich immer wieder geistig

abwesend und verwirrt.

Im Arztbrief einer psychiatrischen Klinik vom Mai 2011 fand sich als Haupt –

Entlassungsdiagnose eine schwere depressive Episode ohne psychotische

Merkmale bei rezidivierender depressiver Störung.

Page 23: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 21 -

Es wurde meinerseits die dringende Verdachtsdiagnose eines hypoaktiven Delirs

gestellt und um den Ausschluss bzw. die Behandlung delirogener Ursachen ersucht.

Aufgrund des delirogenen Potentials von Ciproxin, welches wegen eines chronischen

Harnwegsinfektes verabreicht wurde, empfahl ich eine Umstellung der antibiotischen

Therapie.

Zwei Tage später wurde die Patientin aufgrund einer weiteren

Zustandsverschlechterung – Inaktivität und Verwirrtheit hatten weiter zugenommen –

mit Ciproxin an die psychiatrische Abteilung eines anderen Krankenhauses

transferiert. Hier erfolgten bezugspflegerische Betreuung, Reizabschirmung und

Umstellung von Ciproxin auf Augmentin, welches noch eine Woche lang gegeben

wurde (die übrige Medikation wurde unverändert beibehalten). Die Patientin war

bereits nach wenigen Tagen voll orientiert und mobil, dies in annähernd euthymer

Stimmungslage. Besonders die Angehörigen der Dame waren von ihrer raschen

Erholung überrascht und lobten die gute medikamentöse Einstellung.

Schlussfolgerungen:

Das Delir beim geriatrischen Patienten ist ein häufig auftretendes und

schwerwiegendes Krankheitsbild mit hoher Mortalität, erhöhter Komplikationsrate

(Stürze, Dekubitus, etc.), verlängerten Krankenhausaufenthalten, erhöhter Inzidenz

für die Entwicklung einer Demenz und vermehrter Inanspruchnahme von Langzeit –

Pflegeeinrichtungen (11).

Abgesehen vom Leid der Betroffenen und Angehörigen, ist das Delir aus

ökonomischer Sicht somit ein gewaltiger Kostenfaktor. Dennoch ist die

diesbezügliche Schulung des medizinischen Personals aller Berufsgruppen

suboptimal, ein Delir wird nur in 35 bis 70 % der Fälle erkannt. Dies ist besonders

unerfreulich, da ein rechtzeitig erkanntes Delir im Normalfall gut behandelbar ist.

Page 24: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 22 -

Für die Delir – Prävention wird in den mir bekannten Krankenhäusern recht wenig

unternommen, obgleich Studien zufolge die Delir – Rate durch präventive

Maßnahmen deutlich gesenkt werden kann bzw. könnte, was ja dann auch wieder

Kosten sparen würde.

Besonders beim geriatrischen Patienten muss nicht zuletzt die Medikation im Sinne

einer Delir – Prävention genau überdacht werden. Dies bedeutet auch, dass bei

Multimedikation alle drei bis vier Monate eine Laborkontrolle mit Bestimmung der

Nierenfunktionsparameter, Elektrolyte und des Blutbildes erfolgen sollte. Auf diese

Weise könnte gegebenenfalls in Form einer Dosisanpassung oder

Medikationsumstellung reagiert werden, um der Gefahr der Entwicklung eines Delirs

entgegenzuwirken (Informationen dazu im Internet unter: www.priscus.net,

www.dosing.de, etc.).

Erlauben Sie mir zum Schluss ein paar persönliche Worte:

Nachdem mein bereits erwähnter 93 – jähriger Vater kürzlich aufgrund einer

medialen Schenkelhalsfraktur in einem Krankenhaus stationär aufgenommen werden

musste – er lebt normalerweise mit einer 24 Stunden Betreuung zu Hause – meinte

der zuständige anästhesiologische Oberarzt, der meinen Vater als Kollegen von

früher her kennt, nur lapidar: „der ist ja mittlerweile völlig daneben, da kann man eh

nicht mehr reden“. Zuvor war mein Vater – bereits in jenem Krankenhaus – 2 Tage

lang in einem Einzelzimmer bei ständig laufendem Radio nüchtern gelassen worden,

leider ergab sich in diesen 2 Tagen dann doch keine Operationsmöglichkeit.

Es ist natürlich richtig, dass mein Vater an einer mittelschweren Demenz leidet. Dass

ein Facharzt eines Unfallkrankenhauses trotz des gut erklärbaren, eindrucksvoll –

deliranten Zustandsbildes meines Vaters mit Verkennungen und lebhaften, optischen

Halluzinationen – die er normalerweise nicht hat – nicht einmal an die Möglichkeit

eines Delirs (bei Demenz) denkt und dass Delir – Prävention praktisch nicht

stattfindet, ist in Zusammenhang mit der oben beschriebenen Problematik

bezeichnend.

Page 25: Abschlussarbeit - arztakademie.at · Ätiologie 8 Verlaufsformen 11 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 11 Therapie 15 Prävention 18 Ein Fallbeispiel 20 ... In der Studie „The

- 23 -

Literaturverzeichnis:

(1) Inouye SK. N Engl J Med 2006; 354: 1157 – 65

(2) National Institute for Health and Clinical Excellence, NICE, Juli 2010:

Delirium:diagnosis, prevention and management

(3) Gustafson et al. J Am Geriatr Soc. 1988; Jun; 36 (6): 525 – 530

(4) Levkoff, Schor et al. Arch Intern Med. 1992; 152: 334 – 340

(5) Francis et al. JAMA. 1990; 263 (8): 1097 – 1101

(6) Liste zusammengestellt von M. Anditsch und C. Jagsch, Juni 2011 (aus mehreren

Publikationen zusammengefasst); modifiziert.

(7) Rothenhäusler (2012): Kompendium Praktische Psychiatrie, 2. Aufl., S. 191 –206

(8) Inouye SK. Ann Intern Med 1990; 113: 941 – 948

(9) Bayer D. (2012): Das Delir (Vortrag); modifiziert.

(10) Ohrenberger G. (2012): Delirante Syndrome in der Geriatrie aus internistischer

Sicht (Vortrag); modifiziert.

(11) Jagsch C. (2011): Der akut verwirrte Patient im Alter, in JATROS 7/ 2011, S. 16f.

Berger M. (2004): Psychische Erkrankungen, 2. Auflage, S. 366 – 377 und 397

Clinicum neuropsy: Sonderausgabe Juni 2011, Die drei D´s: Depression, Demenz,

Delir